Samstag, 23. November 2024

Kulturbruch ´68 – Die linke Revolte und ihre Folgen

Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg

„Kulturbruch ´68 – Die linke Revolte und ihre Folgen“ – Das ist der Titel eines Buches von Karlheinz Weißmann, das wie manches andere zu diesem Thema in jüngster Zeit – also fünfzig Jahre nach 1968 – erschien. Obgleich der Autor im Unterschied zu mir nach eigener Aussage keine Affinität zur Jugendbewegung der achtundsechziger Zeit hat und es ihm mit diesem Buch um „Abwehr, Verteidigung und das Bemühen“ geht, „dem, was damals geschah, etwas entgegenzusetzen“, folge ich der Bitte um eine Rezension gerne; denn ein Buch wird für mich nicht so interessant, wenn ich dort meine Einstellungen bestätigt sehe, sondern eher dadurch, daß ich mich mit Positionen des Autors, in dem Kontext aber auch mit meinen eigenen kritisch auseinandersetzen kann insofern Erkenntnisse hinzugewinnen kann.

Es gibt Menschen, die bei politischen Auseinandersetzungen im allgemeinen und einer Buchkritik im besonderen nicht nur die Sache, die ein anderer vertritt, beurteilen, sondern auch die Person verurteilen, die für diese Sache steht. Doch ich möchte den Autor des zur Rezension vorliegenden Buches nicht in feindlicher Absicht verfolgen, sondern ihm freundlich gesinnt auf seinen Gedankengängen folgen, auf diesem Wege manche Überlegungen ergänzen, konstruktiv kritisieren und mich mit dem Autor am Ende in feiner englischer Art darauf verständigen: Let us agree to differ!.

Wie Weißmann im Vorwort schreibt, soll „mit diesem Buch zweierlei erreicht werden. Die Rekonstruktion des Weges, der zu `68 führte, und die Einordnung der damaligen Geschehnisse in den größeren Zusammenhang.“

Daß „der Krieg selbst“ zu den Ursachen gehörte, die das ansonsten „geltende Sittengesetz außer Kraft gesetzt“ hätten, wird von ihm nur kurz erwähnt, obwohl zu diesem Krieg nicht bloß Folgen wie „die Niederlage und die Fremdherrschaft, der Verlust der Heimat und der Angehörigen, der Mangel an Lebensnotwendigem und der Verbleib der Männer in Kriegsgefangenschaft“ gehörte, sondern auch die Eroberung von Ländern, die Zerstörung von Städten und die Ausrottung von Menschen.

Zu den Folgen gehörte außerdem die – von Weißmann vielleicht bedachte, jedoch nicht beschriebene – Traumatisierung von Millionen Menschen: Von Verfolgten, Ausgebombten, Vergewaltigten und anderen Opfern, aber auch von Tätern, die auf Befehl ihres „Führers“ als strahlende Sieger in die Geschichte eingehen sollten, am Ende aber als klägliche Verlierer – mit demgemäß entwerteten Biographien – heimkehrten. Doch von Traumata wollte man in der Nachkriegszeit noch nichts wissen – schon gar nicht, wenn es Soldaten betraf; denn das hatte keinen Platz in dem weltweit verbreiteten Konzept von Männlichkeit.

Zu diesem Konzept mit dem Anspruch auf männliche Hegemonie paßten – und damit kehre ich zurück auf Weißmanns Spuren – „die gesetzlichen Bestimmungen, wenn es um die Stellung des Vaters als Familienoberhaupt und die minderen Rechte der Ehefrau ging“.

Ebenso restriktiv waren in der Bundesrepublik Deutschland unter der Ägide von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler, die Rechtsvorschriften in Bezug auf „Scheidung oder die Verwendung von Kontrazeptiva, überhaupt alles, was mit Sexualität zu tun hatte, ganz gleich, ob es um ´Kuppelei` ging, um die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen oder die Verbreitung von Pornographie.“ Solche Restriktionen bewertet Weißmann anscheinend genauso negativ wie ich; denn „im Positiven“ stellt er ihnen „Heimatliebe und Häuslichkeit“ gegenüber, die damals „genauso selbstverständlich“ waren wie die Wertschätzung von „Leistungsbereitschaft und Pflichtbewußtsein oder Disziplin, Pünktlichkeit, Sauberkeit.“ Das waren – wie ich ergänzen möchte – Tugenden, die dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt ebenfalls wichtig waren, während sein damaliger Parteifreund Oskar Lafontaine wie so mancher Achtundsechziger diese als Sekundärtugenden schmähte, die auch KZ-Wächtern zu eigen gewesen wären.

Als Marlene Dietrich gefragt wurde, warum sie so vielen Menschen geholfen hätte, die aus dem Dritten Reich geflohen waren, brauchte sie zur Beantwortung nur zwei Worte und in dem Kontext einen Begriff: „Aus Anstand“. Das ist eine Tugend, die KZ-Wächtern fehlte und an der es auch vielen anderen Menschen mangelt, seitdem die Vulgarisierung sowie Brutalisierung bei uns wieder zunimmt und Anstandsregeln, die in aristokratischen sowie bürgerlichen Kreisen selbstverständlich geachtet wurden, im Schwinden sind.

„Das Wertgefüge der Adenauerzeit“ bekam zu Weißmanns Bedauern schon damals „rasch Risse. Der Kargheit folgte die ´Freßwelle` und dann der ´Kaufrausch`“, demzufolge die „Lebensgewohnheiten der Menschen“ ebenso verändert wurden wie durch Fernreisen sowie andere „Verlockungen“. Es wuchs – wie gesagt wurde – eine „verwöhnte Generation“ heran, deren Wohlergehen sich auch „in einer Bildungsexpansion bemerkbar“ machte. „Die problematische Seite dieser Entwicklung – die Rede war von ´Massenandrang`, ´geistiger Stumpfheit`, Neigung zu Krawallmachen und Entstehung eines ´akademischen Proletariats` – wurde allerdings während der sechziger Jahre immer deutlicher erkennbar.“

„Beklagt wurde die Entwicklung vor allem von der westdeutschen Intelligenz“, wie der Autor weiter schreibt – besonders von Literaten mit der in ihren Reihen weit verbreiteten „Skepsis gegenüber der Regierungspolitik und Verachtung für die neue Sattheit.“

Ich will hier nicht im einzelnen eingehen auf all die Schriftsteller, Journalisten sowie Hochschullehrer, die Weißmann mit ihrem „Sendungsbewußtsein“ vorstellt, das gespeist wurde „aus der Überzeugung, im Besitz der überlegenen moralischen Position zu sein: und das war die der politischen Linken.“ Das mag jeder Interessierte in seinem Buch nachlesen; denn es ist hochinteressant, was er über Habermas, Bloch, Adorno, Horkheimer sowie Marcuse sagt, die mehr oder weniger zu geistigen Vätern der „Neuen Linken“ wurden. Eine kritische Auseinanderzusetzung mit dem, was die genannten Wissenschaftler an Theorien vertraten und was der Autor davon für seine Publikation ausgewählt hat, erfordert allerdings gute Kenntnisse der angesprochenen Theorien.

Bevor der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) die Außerparlamentarische Opposition (APO) anführte und die „Neue Linke“ in Westdeutschland Konzepte der amerikanischen „New Left“ übernahm, gehörte bereits eine „Mischung aus halbstarkem Aufbegehren, Schnoddrigkeit, Widerwillen gegen die Bürgerlichkeit, die ´Alten`, und selbstverständlicher Sympathie für die amerikanische Jugendkultur… zum Alltagsleben,“ schreibt Weißmann und fährt fort:

„Angefangen hatte alles in den fünfziger Jahren mit den ´Beatniks`.“ Sie „sahen ihren Feind im Amerika der Mittelklasse, dessen Sattheit und Anpassungsbereitschaft man entfliehen, das man aber auch zerstören wollte.“

Ich vermag nicht zu beurteilen, wie weit die Jugend damals in Amerika und darüber hinaus von den Beatniks beeinflußt wurde. Ich weiß auch nicht, ob „der Schriftsteller Allen Ginsberg von einem Teil der Jugend als Sprecher anerkannt“ wurde. Dieser gehörte anscheinend zu denen, die sich für Libertinage im allgemeinen und Drogenkonsum im besonderen stark machten. Ich erinnere mich aber gut an die von Weißmann genannte Musik, die in den sechziger Jahren große Teile der Jugend nicht bloß rhythmisch bewegte, sondern darüber hinaus viele Jugendlichen in ihrer Ablehnung von bürgerlichen Lebensverhältnissen bestärkte. Hervorheben möchte ich in dem Zusammenhang Janice Joplin mit dem Refrain aus einem ihrer Lieder: „Freedom is just another word for nothing left to lose!“

Wenn es um Kinoeinflüsse geht, würde ich mich nicht mit einem Film von Jean-Luc Godard begnügen, den Weißmann bezeichnenderweise unter der Kapitelüberschrift „die Kinder von Marx und Coca-Cola“ bespricht, sondern mich auch mit älteren Einflüssen aus Hollywood beschäftigen. Ich denke dabei etwa an Filme mit Marlon Brando sowie James Dean, der vor allem als „Rebel without a cause“ vielen Jungendlichen ans Herz wuchs und für sie weit über seinen frühen Tod hinaus zum Idol wurde.

Daß man als junger Mensch durchaus manchen Grund („cause“) sah, rebellisch zu werden, war 1968 nicht neu, wurde seinerzeit jedoch mit der Politisierung und Radikalisierung Jugendlicher besonders laut und deutlich vorgeführt.

Nach meinen Erinnerungen handelte es sich diesseits und jenseits des Atlantik – von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung abgesehen – bis dahin vorwiegend um links orientierte Studenten, die mit ihrem Engagement für studentische Interessen – einschließlich einer “Kritischen Universität“ mit neuen Lehrinhalten – politisch aktiv geworden waren und dann zur Avantgarde einer antiautoritären Jugendbewegung wurden, die sich gegen den Krieg in Vietnam, die staatliche Obrigkeit sowie andere Autoritäten – besonders in der Familie – empörte und bei vielen Älteren auf Ablehnung stieß, in Intellektuellenkreisen aber auch viel Zustimmung fand.

„Ohne diese Sympathisanten wäre die amerikanische Studentenbewegung rasch zusammengebrochen“, behauptet Weißmann. „Aber das schlechte Gewissen, das Ungeschick und die Schwäche der Erwachsenen führte dazu, nicht nur den mehr oder weniger nachvollziehbaren politischen Forderungen, sondern auch den utopischen Vorstellungen einen Resonanzraum zu verschaffen.“

Dazu gehörte nach meinen Erinnerungen in Amerika wie in Europa ein radikaler Aufbruch zur Befreiung der Individualität von gesellschaftlichen Normen, zur Emanzipation von bürgerlichen Familienstrukturen sowie zur sexuellen Selbstbestimmung.

Für Weißmann sind es „die“ Achtundsechziger, die den „Kulturbruch ´68“ erzeugten. Und es gibt unter denen viele, die das auch so sehen und stolz darauf sind. Doch abgesehen davon, daß der von mir statt dessen so genannte „Aufbruch“ unvollendet blieb und manches achtundsechziger Experiment übel ausging, stellt sich die Frage, ob man alle, die damals in Bewegung gerieten und einiges bewirkten, unspezifisch als Achtundsechziger bezeichnen kann.

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Ich würde jedenfalls den bestimmten Artikel weglassen, wenn von Achtundsechzigern die Rede ist; denn es war keine homogene Gruppe, die in jener Zeit aktiv wurde, sondern eine heterogene Ansammlung von Menschen mit unterschiedlichen Prioritäten: Anarchisten sowie Kommunisten mit revolutionären Zielen, Liberale, die sich für Reformen einsetzten. Es gab auch andere wie etwa die Hippies, die keine politische Agenda hatten, sondern mit langen Haaren, freiem Sex und berauschenden Drogen alternative Lebensformen inklusive Wohngemeinschaften für sich selbst finden wollten und – wie Weißmann ihnen vorwirft – „in die Gesellschaft Werthaltungen einer Subkultur“ einschleppten. Hinzu kamen Menschen, die lediglich gegen den Krieg waren.

Mit Gewißheit läßt sich sagen, daß die Unruhen diesseits und jenseits des Atlantik im Frühjahr 1968 zunahmen und besonders in den USA der Widerstand gegen den Vietnamkrieg – aus unterschiedlichen Motiven – wuchs.

An den Protesten beteiligt waren nicht bloß Jugendliche, denen es nebenbei um wilde Empörung gegen die „Alten“ ging, sondern auch „Alte“, die sich um ihre in Vietnam Kriegsdienst leistenden Söhne sorgten und immer vehementer forderten: „Bring our boys home!“ Anderen ging es um Mitleid für die zahlreichen Opfer unter den vietnamesischen Zivilisten, wenn sie vor dem Weißen Haus gegen den damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson mit dem Ruf protestierten: „L.B.J., how many Kids have you killed today?“ Es gab aber auch linke Aktivisten in Amerika wie in Europa, die sich für die Weltrevolution und in diesem Zusammenhang für einen Sieg des Vietkong im „antiimperialistischen Befreiungskrieg“ warm liefen. Dazu wurde in Deutschland die Parole ausgegeben: „Schafft ein, zwei, viele Vietnam!“. Es war allerdings nicht der Vietkong, der die US-Regierung zum Abzug ihrer Truppen aus Vietnam zwang, sondern das erfolgte unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Amerika.

Doch ich will hier nicht weiter meinen eigenen Gedanken nachgehen, sondern wieder auf Weißmanns Spuren kommen. Er erinnert ebenfalls an die Unruhen im Frühjahr 1968 und geht in diesem Zusammenhang sowohl auf die Proteste gegen den Krieg als auch auf die Auseinandersetzungen in den USA um die Bürgerrechte ein, die – wie zu ergänzen ist – durch die Ermordung Martin Luthers Kings im April vor 50 Jahren verschärft wurden.

Unruhig ging es damals auch in anderen westlichen Ländern zu. Und Weißmann zitiert in diesem Zusammenhang Daniel Cohn-Bendit mit den Worten: „1968 fing der Planet Feuer.“

Cohn-Bendit gehörte zu den linksradikalen Studenten in Frankreich, die sich seinerzeit nicht mit der Besetzung von Hochschulen begnügten, sondern denen es im Mai 1968 außerdem gelang, „Teile der Arbeiterschaft auf ihre Seite zu ziehen und“ – wie Karlheinz Weißmann hinzufügt – „eine Situation herbeizuführen, die eine proletarische Revolution denkbar erscheinen ließ.“ Die Funktionäre der Kommunistischen Partei hatten zwar „deutlichen Abstand zu den Rebellen“ gehalten, „deren Individualismus, deren Spontaneität und deren Disziplinlosigkeit sie ablehnten“, gerieten jedoch in Zugzwang und riefen zum Generalstreik auf, dem Millionen Arbeiter folgten.

Wie ich ergänzen möchte, gehörte zu den Befürwortern eines Umsturzes auch der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, dem daraufhin die Verhaftung drohte. Es war Präsident de Gaulle höchstpersönlich, der das mit den Worten verhinderte: „Einen Voltaire verhaftet man nicht!“ De Gaulles Präsidialregime schien zwar vor dem Kollaps zu stehen, so daß sich manche Linke schon zur Bildung einer provisorischen Regierung berufen fühlten; doch der Präsident setzte Neuwahlen zur Nationalversammlung an, aus denen seine Partei mit großer Mehrheit hervorging.

So sehr man es in der westdeutschen Studentenbewegung auch erhoffte: „Nirgends gelang es, ´französische Zustände“ herzustellen und sie bis zum revolutionären Umschlag voranzutreiben“, schreibt Weißmann.

„Die Theorielastigkeit war eine Hürde, die man ohne höhere Bildung kaum überwinden konnte“, meint er. Die „Osterunruhen“, die im April 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke ausbrachen, erfaßten zwar auch viele Schüler und Lehrlinge, aber nur wenige Arbeiter. Und andere zur Massenmobilisierung angestrengte Kampagnen reichten ebenso wenig zur Veränderung der politischen Verhältnisse in Westdeutschland aus. „Das galt sogar im Hinblick auf das zentrale Thema: die Notstandsgesetze“, die der Bundestag allen Protesten der APO zum Trotz mit der Koalitionsmehrheit aus CDU/CSU und SPD im Mai 1968 beschloß.

Vor allem linke Studenten in den Reihen der Protestierenden hatten nicht nur, aber auch im Hinblick auf die Notstandsgesetze „die fixe Idee, daß Auschwitz kein einmaliger Vorgang gewesen war, weil die Macht des ´autoritären Charakters` ungebrochen geblieben“ wäre, und schienen besorgt zu sein, „daß die Herrschenden im Fall einer Krise der bestehenden Gesellschaftsordnung versuchen würden, ein totalitäres Regime zu errichten“, schreibt Weißmann und hält dem entgegen:

„Letztlich war das Hauptmotiv für den jugendlichen Antifaschismus weder ein moralisches noch ideologisches, sondern ein psychologisches: Antifaschismus erlaubte Dauerempörung.“

Ich würde im Hinblick auf „jugendlichen Antifaschismus“ ebenfalls den bestimmten Artikel weglassen; denn wenn es um „Dauerempörung“ von Antifaschisten geht, ist daran zu erinnern, daß die Geister sich schon bald schieden. Provokationen waren zwar ein beliebtes Stilmittel zur Entlarvung des vermeintlich faschistischen Charakters der Staatsmacht geworden. Im Zusammenhang damit hatte sich nach meinen Erinnerungen aber die Frage gestellt, ob beziehungsweise inwieweit auf Gewalt mit Gegengewalt (Reaktion) reagiert werden dürfte oder Gewalt auch als eigene Aktionsform – gewissermaßen als „Propaganda der Tat“ – gerechtfertigt wäre. Und für Taten hatte man auch nichtakademische Jugendliche nicht zuletzt mit dem vielfältig verwendbaren Aufruf gewonnen: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“

Hatte man sich bis dahin darauf verständigt, daß „Gewalt gegen Sachen“ gerechtfertigt wäre, wurde in der auch von Weißmann erwähnten „Schlacht am Tegeler Weg“ in Berlin mit der Anwendung massiver Gewalt gegen Menschen – durch Steinwürfe auf Polizisten – ein Stadium erreicht, in dem sehr viele APO-Aktivisten nicht mehr mitmachen wollten.

Doch viele Linke wähnten sich in einer revolutionären Situation und radikalisierten sich weiter. In diesem Prozeß kam es auch nach Weißmanns Einschätzung zur „Trennung der ´roten` – kommunistischen – Linie von der ´schwarzen` – antiautoritären, anarchistischen – innerhalb der Neuen Linken.“ 

Während viele Marxisten-Leninisten sich in maoistisch ausgerichteten K-Gruppen oder in der von den Maoisten als „revisionistisch“ geschmähten DKP organisierten und sich von ihren Kadern autoritär disziplinieren ließen, wie ich aus Erfahrung weiß, formierten die Spontis sich in Basisgruppen, blieben ihren antiautoritären Ursprüngen treu und vertrauten auf die „Spontaneität der Massen“. Zudem gab es Militante, die sich Untergrundbewegungen wie der von Baader, Meinhof und Konsorten gegründeten RAF (Rote Armee Fraktion) anschlossen und sich als „Stadtguerilla“ verstanden.

Wie ich mich erinnere, zogen andere Achtundsechziger sich von der Straße in „Selbsterfahrungsgruppen“ zurück oder beschränkten sich fortan auf Mitwirkung an Studienreformen. „Charity begins at home,“ hatte Hannah Arendt im Hinblick auf die studentische Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt gemahnt. Als ob sie diese Mahnung im Sinn hätten, empörten sich nach den achtundsechziger Unruhen viele nicht mehr so stark über den Vietnam-Krieg sowie andere Geschehnisse in der Ferne, sondern engagierten sich eher in Initiativen wie der Frauen- sowie der Schwulenbewegung, später auch der Umwelt- sowie der Friedensbewegung oder in anderen Initiativen, zu denen im besonderen die Gründung von Kinderläden gehörte.

Ziel solcher Initiativen war nicht die Schaffung eines neuen Menschen, sondern die Bildung von Menschen zu autonomen kritikfähigen Persönlichkeiten durch alternative Erziehungsformen und gesetzliche Reformen. 

Urheber der Ideen für solche sowie andere Initiativen waren keine Achtundsechziger. Aus deren Reihen gingen freilich viele hervor, die in der Umsetzung solcher Ideen eine Lösung gesellschaftlicher Probleme sahen und es damit eilig hatten. Für andere Aktivisten – besonders in den K-Gruppen – handelte es sich jedoch bei diesen Problemen um „Nebenwidersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse“, die erst beim Aufbau des Sozialismus aufgehoben werden könnten. Darauf mochten die Eiligen – wie etwa Feministinnen – nicht warten und suchten ihr „Heil“ in zivilgesellschaftlichen Institutionen, zu denen ich Bürgerinitiativen zähle, aber auch in staatlichen Institutionen.

Dabei hatten sie in zunehmendem Maße Teile der öffentlichen Meinung auf ihrer Seite und fanden Unterstützung bei politischen Entscheidungsträgern, in deren Reihen es damals zwar noch keine Achtundsechziger gab, aber eine Menge Politiker, die für gesellschaftliche Reformen offen waren und dementsprechend gesetzliche Initiativen ergriffen: Homosexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Männern sollten strafrechtlich nicht länger verfolgt werden. „Kuppelei“ und insofern die Duldung von „Unzucht“ zwischen Erwachsenen gleich welchen Geschlechts sollte auch nicht länger strafbar sein, solange nicht Minderjährige an sexuellen Handlungen beteiligt waren. Abtreibungen wurden unter bestimmten Voraussetzungen ebenso erlaubt wie Werbung für Verhütungsmittel. Ehefrauen wurde das Recht eingeräumt, auch gegen den Willen ihres Mannes berufstätig zu sein sowie ohne dessen Einwilligung ein Bankkonto zu eröffnen. Verboten wurde ferner die Prügelpädagogik: Zunächst im Kindergarten sowie in der Schule, erst viel später auch im Elternhaus. Hatte 1967 noch über 80 Prozent der repräsentativ Befragten rigide Erziehungsmethoden befürwortet, war es schon 1972 nur noch die Hälfte.

Wegbereiter solcher Reformen waren Bundesjustizminister Gustav Heinemann und Bundeskanzler Willy Brandt, der mit der sozialliberalen Koalition 1969 die Reformpolitik in größerem Maßstab fortsetzte.

Willy Brandt wollte „mehr Demokratie wagen“, wie er beim Regierungsantritt verkündete, und empfahl den gemäßigt linken Aktivisten der APO den Eintritt in die etablierten Parteien zur Mitwirkung an Reformen. Viele Aktivisten traten nicht bloß in die Parteien ein, sondern auch den „Marsch durch die Institutionen“ an, zu dem Rudi Dutschke aufgerufen hatte, um diese im Kampf für die Revolution zu unterwandern.

An diesem Punkt komme ich wieder auf die Spuren Karlheinz Weißmanns, der keinen „Zweifel… an der Integrität“ Dutschkes hat, aber von dessen revolutionären Zielen ebenso wenig hält wie von dessen Aufruf zum bewaffneten Kampf.

Dieser Auffassung Dutschkes „widersprach Habermas mit Nachdruck“, schreibt Weißmann, und hielt dessen „Schwadronieren über die ´Frage der Gewalt` und seinem ´Voluntarismus` entgegen, daß das eine wie das andere auf eine Art von ´linken Faschismus` hinauslaufe.“

Weißmann beschäftigt sich nicht bloß mit der Biographie von Dutschke, sondern auch mit der von anderen Wortführen aus den Achtundsechzigerreihen und berichtet ausführlich, wie es mit denen weiterging. Lediglich Horst Mahler erwähnt er nur kurz und geht mit keinem Wort auf dessen Weg von der RAF zur NPD ein.

Doch was wurde allgemein aus Achtundsechzigern und besonders aus Aktivisten der APO, die den „Marsch durch die Institutionen“ angetreten hatten?

„Sie rückten im Lauf der nächsten Zeit in Positionen ein, die ihnen erlaubten, Meinungen zu produzieren, zu kontrollieren, zu manipulieren und zu tabuisieren“, wie Weißmann befürchtet.

„Das galt vor allem für Bereiche des öffentlichen Dienstes. Zwar hatte man 1972 den sogenannten ´Extremistenbeschluß` durchgesetzt,“ demzufolge keine Linksextremisten im Staatsdienst beschäftigt werden sollten. Doch „blieb die Wirksamkeit begrenzt“, schreibt er weiter. „Wenn Ende der achtziger Jahre geschätzt wurde, daß sogar zehn Prozent der Richter durch die Studentenbewegung geprägt wurden, war das angesichts der konservativen Struktur des Juristenstandes eine erhebliche Zahl. Die Auswertung der Lebensläufe von 120 Aktivisten der APO ergab darüber hinaus, daß etwa 20 Prozent Karrieren an den Hochschulen machten, 35 Prozent zog es in den expandierenden Medienbereich, 15 Prozent in die Berufspolitik.“

Interessant finde ich aber nicht nur die Frage, inwieweit Aktivisten auf dem „Marsch durch die Institutionen“ das System veränderten, sondern auch, inwieweit sie dabei selbst verändert wurden.

Die Revolutionäre von einst sind mittlerweile alt geworden und die ersehnte Revolution ist ausgeblieben. Der Kapitalismus hat sich als anpassungsfähig erwiesen und seine Kritiker von einst haben sich zumeist den kapitalistischen Verhältnissen angepaßt, wie ich sarkastisch anmerken möchte. Soweit sie es insbesondere als gut verdienende, unkündbare sowie pensionsberechtigte Staatsdiener zu Wohlstand und dann auch noch zum Ruhestand – daheim oder in der Toskana – gebracht haben, können sie den Konsum genießen, den ihnen das herrschende System bietet.

Karlheinz Weißmann zitiert in dem Zusammenhang Peter Sloterdijk mit der flapsigen Bemerkung: „Alle Wege von 68 führen letzten Endes in den Supermarkt.“

Soweit es ehemalige APO-Aktivisten beim „Marsch durch die Institutionen“ an die Spitze des Staates geschafft hatten, trugen sie in der rot-grünen Koalition ab 1998 sogar zur Entfesselung des Kapitals mit einer Konsequenz bei, die Bundeskanzler Kohl und sein von Linken als „neoliberal“ geschmähter FDP-Koalitionspartner sich kaum getraut hätten. Die Grünen waren wie keine andere deutsche Partei eine politische Kraft, die von früheren Mitgliedern der K-Gruppen sowie anderen APO- Aktivisten gesteuert wurde. Nachdem diese einst mit roten Fahnen für die Befreiung der Arbeiterklasse in den Kampf gezogen waren, unterstützen sie nun Bundeskanzler Schröders „Agenda 2010“ und waren damit auch mitverantwortlich für die politische Umsetzung der Hartz-Reformkonzepte, die eine tendenzielle Verelendung von Arbeitslosen und deren Familien zur Folge hatte. Und wenn man sich Debatten der jüngeren Zeit vergegenwärtigt, kann man den Eindruck gewinnen, daß ihnen die Erhöhung des Frauenanteils in Unternehmensvorständen und Aufsichtsräten wichtiger ist als eine Verbesserung der Lebensbedingungen für alleinerziehende Mütter.

Viele APO-Aktivisten hatten sich einst für Befreiungskriege in der Dritten Welt und insbesondere für den Vietkong begeistert, viele waren allerdings später in der Friedensbewegung, die zur Genesis der Grünen gehörte.

Doch kaum war die Partei an der Macht, hieß es für friedensbewegte Grüne nicht mehr „nie wieder Krieg“, sondern „nie wieder Auschwitz“.

Die neue Parole gab der vom Sponti zum Bundesaußenminister avancierte Joschka Fischer zur Gewinnung seiner grünen Parteifreunde für eine militärische Intervention im Kosovo aus, als ob die serbische Regierung dort einen Völkermord im Schilde führte.

Planungschef im Auswärtigen Amt war seinerzeit Joscha Schmierer, der als Sekretär des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) 1975 ein Glückwunschtelegramm an Pol Pot, den Führer der „Roten Khmer“ in Kambodscha, geschickt hatte, als unter dessen Führung schon Massenexekutionen in den Reihen des eigenen Volkes durchgeführt wurden. Daran erinnert Weißmann und das weiß ich noch aus eigener Erfahrung; denn ich trieb mich damals – weniger aus Überzeugung, sondern mehr aus Liebe zu einer Frau – im Umfeld des KBW herum, bis ich die Rechtfertigung von angeblich nicht zu vermeidenden „Humanopfern“ beim Kampf für die Revolution sowie beim Aufbau des Sozialismus – unter der Diktatur von Josef Stalin, Mao Tse-Tung und Pol Pot – nicht mehr ertragen mochte und mich vom KBW sowie von besagter Genossin abwandte.

Nach dem Eingreifen der Bundeswehr auf dem Balkan ging es weiter zu einer Intervention in Afghanistan, um dort „unsere Freiheit“ zu verteidigen. 

Diese Begründung des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck war die gleiche wie die seines SPD-Parteifreundes Siegmar Gabriel, der damit später die deutsche Unterstützung von Kampfeinsätzen in Syrien rechtfertigen wollte. Gabriel tat das als Außenminister einer Regierung, die in weiter Ferne Krieg gegen den militanten Islamismus führt, aber nicht einmal den Schneid hat, Naheliegendes zu tun und unsere Landesgrenzen zu schützen, um in erster Linie das Einsickern islamischer „Gotteskrieger“ zu verhindern. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, wandten sich Vertreter der staatstragenden Parteien auch noch mit scharfen Worten gegen eine AfD-Politikerin, die – wie übrigens auch der grüne Oberbürgermeister von Tübingen – daran erinnert hatte, daß der Einsatz von Schußwaffen zur Verhinderung von illegalen Grenzübertritten gesetzlich zulässig wäre. Ich möchte gewiß keine Schußwaffen eingesetzt wissen, halte es aber für einen verhängnisvollen Formfehler, wenn führende Politiker sich vor der Weltöffentlichkeit mit dem Verzicht darauf brüsten.

´68 wäre „die Ursache jener Formschwäche, unter der die westliche Welt heute leidet“, schreibt Weißmann: „Die meisten Probleme gehen auf das zurück, was die Achtundsechziger taten oder was sie ihre Erben tun ließen.“

Ich bezweifle ebenso wenig wie Weißmann, daß der Zeitgeist im Laufe der Jahre von Achtundsechzigern und deren Nachkommen geprägt worden ist, will hier aber nicht über die „Formschwäche“ des Westens und deren Ursachen räsonieren; denn die sind meines Erachtens nicht auf die Ausgangslage ´68 beschränkt, sondern vielschichtiger. Und die Ursachenforschung würde genug Stoff für ein gesondertes Buch liefern.

Ich will hier lieber auf den Ursprung von Problemen kommen, die uns heute zu schaffen machen, und überlegen, ob beziehungsweise inwieweit Achtundsechziger dafür verantwortlich sind.

Zu den größten Problemen zähle ich die anhaltende Zerstörung der Umwelt, die gewiß nicht auf das Wirken von Achtundsechzigern zurückzuführen ist.

Sie waren zwar auch nicht die Ideenstifter für den Umweltschutz, mit dem wir zu tun haben; viele von ihnen taten sich aber in der Umweltbewegung hervor und trugen insofern zur Stärkung des allgemeinen Umweltbewußtseins erheblich bei. Es ging ihnen also – salopp formuliert – nicht mehr um die rote Weltrevolution, sondern um die grüne Umweltverbesserung. Und das ist gut so!

Zu den größten Problemen zähle ich ferner die demographische Entwicklung und insoweit besonders den Geburtenrückgang in der deutschen Bevölkerung.

Diese Defizite haben damit zu tun, daß mit der Emanzipation der Frauen nach 1968 der weibliche Anteil an der Erwerbstätigkeit zugenommen hat. Und ohne die Erfindung der Antibabypille hätte eine wichtige Voraussetzung dafür gefehlt. Die war aber keine Erfindung von Achtundsechzigern, sondern das Ergebnis von Forschung und Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen.

Zum Problem der demographischen Entwicklung gehört nicht nur das Geburtendefizit von Einheimischen, sondern auch der Zuwachs von Einwanderern.

Es waren keine linken Aktivisten, sondern Kapitalisten, die während der sechziger Jahre sogenannte Gastarbeiter als industrielle Reservearmee ins Land holen ließen und im eigenen Interesse die Regierung mit Erfolg drängten, das Rotationsverfahren aufzugeben und insbesondere den Arbeitern aus der Türkei eine Bleibeperspektive zu ermöglichen. Die politisch Verantwortlichen nahmen zwar hin, daß daraufhin Millionen Türken ihre Familien nach Deutschland holten, und ließen schon lange vor dem Massenandrang im Jahre 2015 Flüchtlinge aus dem Orient ins Land, hielten jedoch bis zum Ende der neunziger Jahre stur an der Fiktion fest, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland wäre.

Die rot-grüne Regierung, mit der 1998 eine Menge Achtundsechziger an die Macht kamen, ersetzte diese Fiktion durch die Vision von einer multiethnischen beziehungsweise multikulturellen Gesellschaft, kümmerte sich jedoch um die Verhältnisse in den Subgesellschaften von Immigranten aus dem Orient fast ebenso wenig wie ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen. Einerlei, ob es die Verantwortlichen im Bund oder in den Ländern sind, haben sie ihre Kontakte hauptsächlich auf Gespräche mit Vertretern von Islamverbänden sowie Moschevereinen beschränkt und denen die Subgesellschaften als Einflußzonen überlassen.

Was sich ab 1968 in Westeuropa gesellschaftlich verändert hatte, war an Gastarbeitern aus der Türkei sowie an späteren Einwanderern aus dem muslimischen Orient im Großen und Ganzen vorbeigegangen.

Insbesondere das, was sie von den Emanzipationsbewegungen mitbekommen hatten, war für viele von ihnen wie ein Kulturschock. Und das hatte dazu beigetragen, daß sie sich in kolonieartigen Milieus einnisteten, in denen sie ihre Frauen und Kinder mit autoritären Allüren vor den libertären Tendenzen der westlichen Zivilisation bewahren wollten. Unterstützt wurde und wird diese soziokulturelle Abgrenzung durch Moscheen, die den Kindern sowie Kindeskindern muslimischer Einwanderer Halt und Orientierung bieten. Das wissen anscheinend vor allem die zu schätzen, denen die Wettbewerbsbedingungen und Freizügigkeitsverlockungen in Europa Probleme bereiten.

„Ich hasse den Islam nicht,“ sagte der niederländische Soziologe und Politiker Pim Fortuyn, der 2002 zum Mordopfer von Hetzern wurde, die jede Kritik am Islam als islamophob sowie rassistisch diffamieren. Er hätte aber „keine Lust, die Emanzipation von Frauen und Homosexuellen zu wiederholen,“ erklärte er. Während man in den Niederlanden, aber auch in Deutschland – beispielsweise mit Frauenquoten sowie der „Ehe für alle“ – die Gleichstellung von Menschen unterschiedlichen Geschlechts sowie multipler sexueller Orientierung vorantreibt und manches übertreibt, konserviert man nicht nur, aber auch und vor allem in den muslimisch sozialisierten Milieus von Rotterdam, Hamburg und Berlin wie in Malmö, Nizza und Paris patriarchalisch strukturierte sowie religiös regulierte Formen eines Zusammenlebens, das ich in ähnlichen Formen noch aus der deutschen Gesellschaft vor 1968 kenne und nicht in jeder Hinsicht für bewahrenswert halte.

Wir brauchen keine Wiederholung von Emanzipationsbewegungen, sondern einen Aufbruch neuen Typs, um emanzipatorisch der multikulturellen Spaltung unserer Gesellschaft entgegen zu wirken.

Unter „Aufbrechen“ versteht man im allgemeinen, daß etwas Geschlossenes unter Einwirkung massiver Kräfte geöffnet wird oder daß jemand einen Ort verläßt. Um der genannten Spaltung entgegen zu wirken, brauchen wir beides: Daß die Türen, die den Weg aus der Subgesellschaft muslimischer Einwanderer versperren, nachhaltig geöffnet werden und daß sich mehr Menschen als bisher von dort auf den Weg in die pluralistisch ausgerichtete Mehrheitsgesellschaft machen, um endlich dort anzukommen, wo zum allergrößten Teil anders gelebt, geliebt, gedacht und geglaubt wird, als sie es in ihrer herkömmlichen Sozialisation zu schätzen lernten.

Dazu müßte man vor allem Jugendliche aus den muslimisch sozialisierten Milieus günstigere Perspektiven bieten und dazu beitragen, daß sie sich gegen die beharrenden Kräfte in ihrem traditionellen Kulturkreis auflehnen: Daß sie also im besonderen gegen den Autoritarismus in der realen Gestalt des Abu oder Aba, des Vaters, sowie der fiktiven Gestalt Allahs, des Übervaters, aufbegehren, statt sich weiter zu unterwerfen und – wie in vielen Fällen – angestaute Wut mit Gewalt gegen Außenstehende zu richten. Solche Aggressionen treffen vor allem Juden und Homosexuelle, aber auch Christen sowie Frauen und machen nicht einmal vor Lehrerinnen in der Schule Halt, als ob manche der testosterongebeutelten Burschen sich dort – zur Bewahrung der männlichen Hegemonie – intuitiv gegen den Feminismus auf dessen Marsch durch die Institutionen zur Wehr setzen wollten.

Man kann junge Muslime nicht zum Aufbruch zwingen, aber dazu ermutigen und auch dafür sorgen, daß andere nicht ihren antiautoritären Aufbruch zur Befreiung von religiös vorgeschriebenen Normen, zur Emanzipation von patriarchalischen Familienstrukturen sowie zur Selbstbestimmung behindern.

Dafür zu sorgen und zu ermutigen, ist eine politische sowie eine pädagogische Frage, auf die jedoch von den bisher Verantwortlichen für Integrationspolitik sowie Schulpädagogik kaum eine praktikable Beantwortung zu erwarten ist, solange man in den Kreisen dazu neigt, die eigene Ignoranz für Toleranz zu halten. Ich erinnere in dem Zusammenhang an das, was Herbert Marcuse 1965 in seinem Essay über „repressive Toleranz“ schrieb und was im Laufe der Jahre sowie Veränderungen – in meiner weitergedachten Interpretation – nichts von seiner essentiellen Bedeutung verloren hat:

„Mehr denn je gilt der Satz, daß Fortschritt in der Freiheit Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit erfordert. Wo der Geist zum Subjekt-Objekt der Politik und ihren Praktiken gemacht worden ist, ist die geistige Autonomie… eine Sache politischer Erziehung (oder vielmehr: Gegenerziehung)…“

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Karlheinz Weißmann:

Kulturbruch ’68 – Die linke Revolte und ihre Folgen – 19,90 –

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PP-Redaktion
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