Wenn Argumente fehlen, hilft immer noch der NS-Vergleich. Ein Gastbeitrag von Frank W. Haubold.
Es gehört mittlerweile zur üblichen Vorgehensweise hiesiger Qualitätsmedien, dem Publikum unerwünschte Meinungsäußerungen nicht etwa im vollständigen Original zu präsentieren, sondern nur noch in Form abwertender Kommentare mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten.
Ein derartiger medialer Bannstrahl traf erst dieser Tage den renommierten Soziologen Wolfgang Streek (sofern man einen alten weißen Mann heutzutage überhaupt noch als „renommiert“ bezeichnen darf). Der hatte es gewagt, in einer hierzulande kaum bekannten politikwissenschaftlichen Zeitschrift namens „New Left Review“ seine Sicht auf den Ukraine-Konflikt und die mehr oder weniger im Hintergrund agierenden Akteure darzulegen.
Unterstellungen der „F.A.Z.“
Da nicht wenige Sentenzen des Aufsatzes den hierzulande gebetsmühlenartig verbreiteten Narrativen über den Konflikt widersprachen, war sich selbst die einst seriöse „F.A.Z.“ nicht zu schade, dem Abweichler die Leviten zu lesen und ihm sogar zu unterstellen, er vergleiche die die „Abwehr des russischen Angriffs mit dem Krieg Hitlers“.
Autor des Kommentars ist ein gewisser Patrick Bahners, der vor einigen Jahren mit dem Sachbuch „Die Panikmacher“ von sich reden machte, das die Schriftstellerin Monika Maron als ein Pamphlet bezeichnete, „das die westlichen Werte gering schätzt, die Freiheit der Frauen verachtet und zugleich zeigt, wie wenig der Stubenpublizist über die Wirklichkeit weiß.“
Was hatte Wolfgang Streek nun geschrieben, das Herrn Bahners so überaus empörte? Hatte er etwa den russischen Einmarsch in die Ukraine gerechtfertigt oder den USA vorgeworfen, den Konflikt angeheizt oder gar initiiert zu haben? Nichts dergleichen findet sich in dem Artikel, sondern nur einige geopolitische Betrachtungen und sarkastische Anmerkungen zu Tatbeständen, die längst die Spatzen von den Dächern pfeifen.
Nordstream-Räuberpistole
So unterstellt er wohl nicht zu Unrecht, dass die von der New York Times und ihren bundesdeutschen Hilfsmedien in die Welt gesetzte Räuberpistole von sechs Männern auf einer gemieteten Yacht, die angeblich die Nordstream-Anschläge verübt hätten, vorrangig der Ablenkung von Seymour Hershs weitaus wahrscheinlicheren Enthüllungen über eine US-Urheberschaft dienen sollte. Und natürlich fragt er sich, welche Zielrichtung eine so offenkundig lächerliche Geschichte noch gehabt haben könnte.
Im Weiteren stellt er einen Zusammenhang zwischen den jüngst vorwiegend jenseits des Atlantiks veröffentlichten Meldungen über Korruptionsfälle in der Ukraine und einer gewissen Zahlungsmüdigkeit in beiden politischen Lagern der USA her, auch wegen begründeter Zweifel an den ukrainischen Erfolgsaussichten.
Zitat: „…dass das Vertrauen des US-Militärs in die Fähigkeit der Ukraine, eine erfolgreiche Gegenoffensive im Frühjahr zu starten, geschweige denn den Krieg zu gewinnen, wie es die Regierung ihren Bürgern und internationalen Geldgebern versprochen hatte, auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt war.“
Derartiges offen auszusprechen gilt hierzulande als verpönt, wähnt man sich doch endlich einmal auf der Siegerseite im Kampf gegen das Böse aus dem Osten, wenn es schon die letzten beiden Male nicht so recht geklappt hat.
Ukraine: Für die USA nur ein Nebenkriegsschauplatz
Dass die Ukraine für die USA ein zwar willkommener, aber dennoch nicht entscheidender Nebenkriegsschauplatz im Vergleich mit der sich abzeichnenden Konfrontation mit China ist, dürfte ebenfalls keine neue Erkenntnis sein ebenso wie die Vermutung, dass weder die USA noch Frankreich ein Interesse daran haben, Russland soweit zu demütigen, dass China sich zum Eingreifen (zum Beispiel durch Waffenlieferungen) genötigt sieht.
Auch die These, dass sich China lieber in einer neutralen Position sieht (zusammen mit Staaten wie Brasilien oder Südafrika) als als direkter Kontrahent der Vereinigten Staaten mit dem Risiko eines nicht gewinnbaren Krieges, dürfte nicht nur Experten einleuchten. Die chinesischen Friedensbemühungen und das jüngste Telefonat von Xi mit Selenskyj weisen eindeutig in diese Richtung.
Deutschlands Rolle in diesem geopolitischen Spiel ist ebenfalls plausibel dargestellt.
Zitat: „In Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten und Polen ist es den Vereinigten Staaten in den letzten Monaten gelungen, Deutschland in so etwas wie eine europäische Führungsposition zu drängen, unter der Bedingung, dass es die Verantwortung für die Organisation und vor allem die Finanzierung des europäischen Kriegsbeitrags übernimmt.“
Das ist längst keine These mehr, sondern eine offenkundige Tatsache. Auch Streeks Schlussfolgerung ist naheliegend:
„Während die Vereinigten Staaten den Krieg europäisieren, wird es an Deutschland liegen, nicht nur die westliche Unterstützung für die Ukraine zu organisieren, sondern auch der ukrainischen Regierung klarzumachen, dass diese Unterstützung am Ende nicht ausreichen wird, um den Sieg zu erringen, den die ukrainischen Nationalisten für die ukrainische Nation fordern.“
Was Bahners als Vertreter des politmedialen Establishments jedoch besonders in die Nase fährt, ist Streeks unverblümte Einschätzung des hierzulande sattsam bekannten Lautsprechers Andriy Melnyk als einen „Vertreter des klassisch-faschistischen Bandera-Elements“ wie auch der Regierung in Kiew:
„Es zeigt auch die Verzweiflung der regierenden ukrainischen Clique über die Aussichten des Krieges und ihre Bereitschaft, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, getrieben von der radikal-nationalistischen Überzeugung, dass echte Nationen auf dem Schlachtfeld wachsen, getränkt mit dem Blut ihrer Besten.“
Aus dieser skeptischen, aber keineswegs aus der Luft gegriffenen Beurteilung der Akteure einen Vergleich der „Abwehr des russischen Angriffs mit dem Krieg Hitlers“ zu konstruieren, hat nichts mehr mit Journalismus zu tun, sondern ist reinste Demagogie.
Bandera-Verehrung
Erstens ist der ukrainische Nationalismus ebenso eine unbestreitbare Tatsache wie der Umstand, dass die Mehrzahl der ultranationalistischen Milizen wie Asow, Dnipro oder Ajdar mittlerweile Teil der ukrainischen Armee oder Nationalgarde ist. Zudem sehen selbst hiesige Medien die Verehrung von Stepan Bandera durch führende ukrainische Politiker wie eben Herrn Melnyk als problematisch an. Diese nationalistischen Tendenzen im Auge zu behalten, ist jedoch noch lange kein Vergleich mit NS-Deutschland, auch wenn Steeck sarkastisch anmerkt, dass nach US-Einschätzung ein ukrainischer Endsieg nicht unmittelbar zu erwarten sei. Es dürfte eher ein Seitenhieb auf hiesige Medien sein, deren „Frontberichterstattung“ gelegentlich fatale Erinnerungen weckt.
Ganz sicher stört sich Herr Bahners auch an Streeks skeptischer Einschätzung der grün dominierten deutschen Außenpolitik zum Beispiel im Hinblick auf die zunehmende Entfremdung zum Partner Frankreich. Zitat: „Sein (Macrons) Problem ist, dass Deutschland nun endgültig vom Rad abgestiegen ist. Unter grüner Führung träumt es zusammen mit Polen und vor allem den baltischen Staaten davon, Putin an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag auszuliefern, wofür ukrainisch-deutsche Panzer in Moskau einfahren müssen, so wie einst sowjetische Panzer in Berlin.“ Die aus meiner Sicht durchaus treffende Beschreibung von Außenministerin Barbock als „Amerikas Wanderbotschafterin“ dürfte ebenfalls kaum Gefallen gefunden haben.
Pro Ukraine-Kommentare: stereotypes Nachplappern offizieller Narrative
Ein sachlich fundiertes Argument gegen die Streeks Thesen habe ich in Bahners‘ Kommentar nicht gefunden. Dafür müsste man sich zweifellos auch intensiver mit der Materie auseinandersetzen als in den hiesigen Qualitätsmedien mittlerweile üblich.
Leider ist der Beitrag inzwischen hinter der Bezahlschranke verschwunden, so dass sich die meisten Leser kein (durchaus ernüchterndes) Bild von den Lesereaktionen machen können. In den Kommentaren findet sich nach meinem Eindruck kaum ein eigener Gedanke, nur stereotypes Nachplappern offizieller Narrative: Selenskyj gut, Putin böse, Streek ein alter Mann und Wichtigtuer, obendrein sogar noch links und damit ohnehin verdächtig. Niemand scheint den Originalartikel gelesen zu haben (inzwischen gibt es auch eine deutsche Übersetzung, die die F.A.Z. zu erwähnen „vergaß“) oder versucht, auch nur ansatzweise auf den Inhalt einzugehen.
Der intellektuelle Verfall der Medien geht offensichtlich mit dem der verbliebenen Leserschaft einher. Falls die Kommentare die Mehrheitsmeinung hierzulande wiedergeben, wundere ich mich nicht mehr über die deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts…
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