Montag, 14. Oktober 2024

Kulturelle Aneignung ist Grundlage kultureller Teilhabe

Eine kulturelle Aneignung ist keine kulturelle Demütigung, sondern im reinen Wortsinn sogar die Grundlage für das Gegenteil. Erst, wer sich zum Beispiel eine andere Sprache aneignet, kann einen Zugang zu einer Kultur gewinnen, den er sonst nur aus dritter Hand erfährt. Ein Gastbeitrag von Aljoscha Harmsen.

Es ist bezeichnend, wie unkritisch manche Menschen Begriffe als Tabu hinnehmen, die dazu gar nicht taugen. „Kulturelle Aneignung“ ist dafür ein Beispiel. Aneignen ist nicht enteignen. Sich etwas anzueignen ist erst einmal positiv konnotiert. Dabei geht es um den Erwerb, um das Hinzulernen, nicht um das Wegnehmen. Der ganze Bildungsprozess beruht auf kultureller Aneignung. Etwas völlig anderes ist eine Missbrauchshandlung, aber diese steckt in dem Begriff semantisch gar nicht drin. Eine kulturelle Aneignung ist keine kulturelle Demütigung, sondern im reinen Wortsinn sogar die Grundlage für das Gegenteil. Erst, wer sich zum Beispiel eine andere Sprache aneignet, kann einen Zugang zu einer Kultur gewinnen, den er sonst nur aus dritter Hand erfährt.

Auch Fremdsprachen „kulturelle Aneignung“

Es dauert nicht mehr lange, dann sind auch Fremdsprachen „kulturelle Aneignung“. Vor einer so kulturfeindlichen Position wie der Ablehnung von Fremdsprachen schreckt man aktuell noch zurück. Aber: Aus dem, was woke Aktivisten für folgerichtig halten, wäre das sogar noch näherliegend, als fiktionale filmische und literarische Erzeugnisse als beleidigend für die Lebenswirklichkeit von Menschen anzusehen, für die man stellvertretend empört ist – ohne sie gefragt zu haben, ob sie von solchen wohlmeinenden unmandatierten Advokaten vertreten werden möchten. Aneignend im Sinne von übergriffig sind hier diejenigen, die meinen, sie könnten für Kulturen sprechen, denen sie gar nicht angehören.

Wer extravagante Frisuren und fiktionale Literatur für einen Angriff auf die kulturelle Selbstbestimmung hält, geht von der Fehlannahme aus, dass Kulturen eine homogene Angelegenheit wären und von der Fehlannahme, bei deren Selbsterfindung und Selbsterhaltung ein Mitspracherecht, ein Mandat zu haben. Dabei sind sie ein Zusammenwachsen und ein Sich-Fortentwickeln. Immer schon gewesen. Gerade das Interesse von „Kulturfremden“ an dem, was sie nicht kennen, ist die Grundlage der Weiterentwicklung und Bereicherung von Kulturen durch das, was sie vorher nicht hatten.

Boden für gegenseitiges kulturelles Unverständnis

Jedes Kind gerät durch diese Art Neugier in „seine eigene“ Kultur hinein. Und gelangt durch diesen Prozess des Lernens und Aneignens bestenfalls dahin, dass es auch in andere Kulturen eintaucht und von ihnen viel mitnimmt. Das ist gerade die Grundlage dafür, toxische Vorurteile abzubauen, von denen diejenigen reden, die „kulturelle Aneignung“ verhindern wollen. Die Vertreter einer Sanktionierung von „kultureller Aneignung“ legen ja durch ihre autoritäre Attitüde den Boden für gegenseitiges kulturelles Unverständnis. Zu Ende gedacht reden sie ihren Gegnern, den Anhängern des Ethnozentrismus, das Wort. Eine Ironie, die verhärmten Aktivisten kaum zu vermitteln ist.

Wir reden über eine im Kern autoritäre und diskursfeindliche Ideologie, die auf qualifizierten Widerspruch unflexibel reagiert. Damit ist sie das Gegenteil von Wissenschaft. Man sollte meinen, nach einer vernichtenden Geschichte von Bevormundungen, Verboten und Verfolgungen wären gerade die Deutschen zu einer Art Freiheitsliebe hingeneigt, die es sich verbittet, anderen ihre Lebensführung vorzuschreiben. Offenbar war diese Geschichte nur demütigend und nicht kathartisch. Offenbar fühlt sich eine lautstarke Minderheit berufen, die Mehrheit zu dem zu erziehen, was sie nicht sein soll, damit sie es wird. Demokratieunverständiger geht’s kaum. Dadurch droht die Mehrheit zu dem Gegenteil von dem zu werden, was sie erhält. Wer sich von woken Aktivisten vorschreiben lässt, wie man sein soll, verliert: Maß, Bildung, und die Distanz zu solchen Narzissten, die ihre Meinung für das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung halten.

Hoheit über die Begriffe darf keinem ideologischen Lager gehören

Kulturelle Aneignung ist im Wortsinn wie jede Aneignung: Sich etwas zu eigen machen, ohne dem etwas zu nehmen, an dem sich Aneignung ereignet. Das ist auch Anteilnahme. Das ist Teilwerden. Die moralisch-kulturellen Puristen, die eine Gewalttat darin sehen, handeln destruktiv und missbrauchen den positiv konnotierten Begriff. Sie nehmen ihn aus seinem natürlichen Sprachgefüge. Die Gegenseite behält sich vor, den Begriff „aneignen“ nicht in seiner Bedeutung umdeuten zu lassen, sondern ihn so in den Diskurs einzubringen, wie er gedacht ist. Die Hoheit über die Begriffe darf keinem ideologischen Lager gehören.

Aljoscha Harmsen studierte Geschichte, Sprach- und Literaturwissenschaften und arbeitet als Redakteur und als freier Autor u.a. für die Neue Züricher Zeitung. Sein Beitrag erschien zuerst bei AchGut. 

Zum Foto: Mario Parizek durfte nicht in der Züricher Bar „Gleis“ auftreten, weil er als Weißer Dreadlocks trägt. (c) Screenshot YT

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