Zu Beginn des Jahres 2020 erinnert vieles an die Spätzeit der Regierung Kohl. Doch während 1998 noch Alternativen erkennbar waren, kämpfen die etablierten politischen Kräfte heute vor allem gegen den Aufstieg einer einzelnen Konkurrenzpartei. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Werner J. Patzelt.
Vielerlei Stimmungen lassen sich derzeit in Deutschland erspüren. Da sind die spiegelbildlichen Triumphgefühle von Grünen und AfD, die sich vom Stolz aufs Erreichte nähren: Die einen sind nun fast flächendeckend an der Macht, die anderen oft die größte Oppositionspartei. Da ist die mit wiederkehrenden Erlösungshoffnungen versetzte Verzweiflung der SPD: Sie versucht durch Führungswechsel jene Attraktivitätsprobleme zu lösen, denen allein mit einem neuen „Godesberg“ beizukommen wäre, also mit dem Abräumen wählerverschreckender Positionen. Da gibt es die bemühte Munterkeit der FDP, derweil sich die Linke in einem gutwilligen Meinungsklima an eigener Rechthaberei erfreut. Und da findet sich bei der Union eine Mischung aus Depressivität („Wie nur weiter ohne Merkel?“) und Autoaggression („Der Feind steht in den eigenen Reihen!“). Das erinnert an die Spätzeit Helmut Kohls.
Nur stand damals ein befreiender Aufbruch in Aussicht, nämlich Rot-Grün als machbarer Neubeginn. Doch die AfD gleitet immer wieder in jenes phrasenartige Empörungsgehabe ab, das ihre Ausgrenzung selbst jenen plausibilisiert, die sich lieber auf pluralistischen Streit mit ihr einließen. Deshalb politisch alternativlos, empfindet man in den traditionell sozial- und christdemokratischen Milieus unseres Landes die Gegenwart wie ein Dahinsiechen von Überlebtem. Hingegen gedeiht bei den Grünen und der AfD als den neuen Polen unserer politischen Kultur eine erfolgsgewisse Aufbruchslust. Die Ersteren wurden nämlich von einem Großteil der Union als Mitstreiter beim Aufbruch zu neuen, verlockenden Ufern geradezu ins Herz geschlossen. Gemeinsam, so die Hoffnung, würden Union und Grüne fortan einen ökologischen Umbau unserer Gesellschaft herbeiführen, auch den Sieg des politisch Guten und Schönen, darunter die – der „alten CDU“ misslungene – Überwindung von Nationalismus und Rassismus. Das alles leuchtet ein und macht das schwarz-grüne Projekt gefühlsmäßig nicht minder anziehend, als es einst das rot-grüne Projekt gewesen ist.
Jenes aber zog die entscheidende Trennlinie noch zwischen den Konservativen und den Fortschrittlichen, also zwischen zwei ganz legitimen Positionen. Die neue Trennlinie verläuft hingegen zwischen den „Anständigen“ sowie jenem „rechtspopulistischen Unrat“, den – teils vorgeblich, teils wirklich – die AfD übers Land schwappen lässt. Doch deren Anhänger, sofern nicht tätig im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen der öffentlichen Hand, stört eine solche – inflationär gewordene – Etikettierung kaum mehr. Rechts wollen sie ja wirklich sein, nämlich als Alternative zu jenen Mitte-Links-Regierungen, die allenthalben als Schutzwall gegenüber der neuen Protestpartei errichtet werden. Und populär sind viele Positionen sowie manche Politiker der AfD durchaus, und in durchaus großen Bevölkerungskreisen. Das gilt zumal für Ostdeutschland, wo CDU und SPD es inzwischen als großen Wahlsieg zu feiern pflegen, wenn sie knapp vor einer Partei liegen, die es vor sieben Jahren noch gar nicht gab.
Die Grünen hingegen überholen die AfD meist nur in den Umfragen, nur selten aber auch am Wahltag. Umso wortgewaltiger gehen sie in den symbolischen und kommunikativen „Kampf gegen rechts“. Der darf nämlich, so ein weit verbreitetes Gefühl, nur von einer einzigen Seite gewonnen werden, nämlich von den Linken und Mittigen. Deren geistiger Angelpunkt ist aber inzwischen das Weltgefühl der Grünen. Das alles macht „Mitte-Rechts“ als Aufbruch aus den entstandenen Umständen für die kommenden Jahre praktisch unmöglich. Einerseits liegt das an der AfD, wie die internen Spannungen zwischen dem „Flügel“ und den „Systemlingen“ zeigen. Andererseits kommt das vom toxischen Hysteriegehalt politischer Gefühlswallungen, die schon bei bloßen Denkspielen über schwarz-blaue Konstellationsmöglichkeiten einsetzen.
Obendrein fühlt es sich mittlerweile wie illegitim an, in der Frontstellung zwischen den etablierten Parteien und der AfD der Letzteren auch nur dann beizuspringen, wenn diese Partei – bemessen an den Spielregeln pluralistischer Demokratie – unfair behandelt wird. Auch in dieser Hinsicht hat sich an unserer politischen Kultur viel verändert, und wohl nicht zum Besseren. Gerhard Schröder und Joschka Fischer bezweifelten nämlich nie die Legitimität eines Machtwechsels zugunsten der Union, auch wenn sie ihn verhindern wollten. Doch an eine Abwahl bisheriger Mehrheiten zugunsten einer Regierungsübernahme der AfD allein schon zu denken, fühlt sich heute an wie ein Pflücken der „Blumen des Bösen“. Tatsächlich hat sich die AfD jenes politische Vertrauen noch keineswegs verdient, das es für ein – das rein Punktuelle überschreitende – Zusammenwirken nun einmal bräuchte.
Mangels jeder realistischen Politikalternative rechts der politischen Mitte richtet sich deshalb alle politische Aufbruchshoffnung auf einen Erfolg von Schwarz-Grün. Ihn anzustreben, setzt aber genau jene Politik fort, deren Anbahnung einst rechts jenen Freiraum für die AfD schuf, in dem diese sich nun festgesetzt hat. Vergrößert sich künftig das der AfD überlassene Terrain noch mehr, nämlich durch eine weitere Sozialdemokratisierung oder Vergrünung der CDU, so werden eines Tages Minderheitsregierungen von der Linken bis hin zur CDU zur einzigen Alternative einer Regierungsbeteiligung der AfD. Letzteres zu verhindern, wurde aber zum – gerade auch emotional – verbindenden Ziel aller etablierten Kräfte. Deren Abscheu, bisweilen gar Hassgefühle gegenüber der AfD verstellen freilich den Blick darauf, dass eben die Frontstellung „Wir alle gegen die AfD“ den weiteren Aufstieg dieser dann wirklich einzigen Alternative zur bisherigen, weiterhin kulturell hegemonialen Politik fördern wird. Speziell für die CDU gilt: Es werden viele Wähler bei der Entscheidung zwischen „grünem Original“ und dessen Kenia-bewirkter „CDU-Kopie“ genau dann für das Original stimmen, wenn „Kenia-Politik“ in der erhofften Weise erfolgreich war – und dann für die AfD, wenn auf dem „Kenia-Kurs“ viel weniger erreicht wurde, als in Aussicht gestellt war. Versprochen aber wird von schwarz-grünen Koalitionen kaum weniger als eine fortan lichte Zukunft unseres Landes.
Alle Schatten, welche die misslungene Einwanderungs- und Integrationspolitik Deutschlands zum Nachteil der Grünen auf „Kenia“ werfen könnte, wurden durch alarmistisches Beleuchten der durchaus realen Folgeprobleme des nicht zu bezweifelnden Klimawandels um ihre zuvor weit verbreitete Wahrnehmung gebracht. Viel weniger ins allgemeine Blickfeld geraten sind im Vergleich damit die unmittelbar bedrohlichen Anschlussprobleme des Verlusts deutscher technologischer und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit. Dieser ist eine Folge nicht nur des Aufstiegs Chinas im Besonderen und Asiens im Allgemeinen, sondern auch der bürokratischen Gängelung unserer Unternehmen und Forschungseinrichtungen, des Niedergangs unseres Bildungssystems und des Versiegens von Ressourcen wie Leistungswille, Pflichtgefühl und Selbstdisziplin. Hinzu kommen die unausweichlichen Folgeprobleme der lockeren Geldpolitik in der Eurozone, des – wohl noch längere Zeit anhaltenden – außenpolitischen US-Autismus sowie jener sicherheits- und geopolitischen Herausforderungen, die mit dem Abstieg des Westens und zumal Europas einhergehen.
Viele Leute nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Staaten empfinden deshalb, dass bislang erfolgreiche Politiken in ihren Grenznutzenbereich gelangt sind, ja inzwischen wohl mehr schaden als nutzen. Doch der erhoffte schwarz-grüne Aufbruch – um von linken und sozialdemokratischen Politikvisionen erst gar nicht zu handeln – geht gerade nicht von einer solchen Lagebeurteilung aus, wird also bei alldem wenig zum Besseren wenden. Das wiederum wird in Europa noch mehr Leuten als derzeit den rechtspopulistischen Systemprotest als plausibel erscheinen lassen. Aussichten darauf aber dürften die allermeisten erst recht nicht in gute Stimmung versetzen.
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Prof. Dr. Werner J. Patzelt lehrte bis 2019 Vergleichende Politikwissenschaft an der TU Dresden und ist Mitglied des Sächsischen Kultursenats. Sein Beitrag erschien zuerst bei PREUSSISCHE ALLGEMEINE. Wir veröffentlichen diesen hier erneut mit ausdrücklicher Genehmigung der PA.
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