Dienstag, 3. Dezember 2024

Gaulands „Vogelschiss“ – Symbol deutscher Befindlichkeit

(Patrizia von Berlin) Natürlich waren es nur 12 Jahre aus einer weit über 1.000 jährigen Geschichte. Diese 12 Jahre haben jedoch gereicht um ein Blutbad furchtbaren Ausmasses anzurichten. Es war die Ur-Katastrophe deutscher Geschichte, ein Rückfall in eine unfassbare Barbarei und das ist eben nichts, was mit dem Begriff „Vogelschiss“ beschrieben werden kann.

Alexander Gauland lieferte mit seiner Vogelschiss-Rede auf einer Veranstaltung der Jungen Alternative eine prächtige Vorlage für Schlagzeilen einer Presse, die stets auf diese Chance gegen die AfD vom Leder ziehen zu können, zu lauern scheint.

Doch zunächst die Fakten – was hat Gauland gesagt?

Wir haben eine ruhmreiche Geschichte. Daran hat Björn Höcke erinnert. Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten 12 Jahre. Und nur wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten.
Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die 12 Jahre.
Aber liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher Deutscher Geschichte.

Sehen wir uns die einzelnen Punkte an.

  1. „Wir haben eine ruhmreiche Geschichte“
    Nun, da kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Sie unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der anderer großer europäischer Nationen. Ob man sie als ruhmreich bezeichnen mag, ist ein sehr persönliches Urteil. Engländer, Franzosen, Spanier würden sicher sehr pikiert reagieren, wenn man ihnen die „Gloire“ absprechen würde. Es wäre also eher ein Zeichen europäischer Normalität auch die deutsche Geschichte so bewerten. Ich persönlich würde das nicht tun, aber ich empfinde auch die französische Geschichte mit Napoleons Angriffskriegen, die spanischen, britischen und französischen Kolonialverbrechen nicht als übermäßig ruhmreich. So war es damals eben, würde ich leicht resignierend und mich über eine friedlichere Gegenwart freuend, sagen.
  2. Das Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für das 3. Reich und dessen unsäglichen Verbrechen. Eine klares Bekenntnis, das den meisten Mainstreammedien wohl entgangen ist.
  3. „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren“- Der Halbsatz, den die Mainstreammedien aufgreifen.

Vorweg: Gaulands Rede gerecht zu werden ist kaum möglich. Nicht nur, weil sie auf einen Halbsatz reduziert wird, durch eine feindlich gesonnene und voreingenommene Presse.

Gaulands Satz steht symbolisch für das ganze Universum der Diskussionen um das 3. Reich.

Die politische Linke, inkl. des überwiegenden Teils der Presse erkennt sofort eine Relativierung des Holocausts und verbreitet genüsslich Schlagzeilen, die Gauland, den alten Haudegen mit 40 Jahren CDU Parteizugehörigkeit, in NPD Nähe bringen.
Der CDU Ministerpräsident von Sachsen, besonders durch AfD Wahlergebnisse bedrängt, freut sich:

„Die NPD konnten wir politisch entzaubern, und bei der AfD sind wir auf einem guten Weg.“

Die politische Rechte argumentiert mit dem Wunsch, über 70 Jahre nach dem Ende des 3. Reichs, endlich einen „normalen Umgang“ mit der Geschichte zu haben und sie sind es leid, die Nazikeule bei jeder Gelegenheit zu erleben.

Ich habe mir, hochempathisch wie ich nunmal bin, überlegt, wie wohl ein Neo-Nazi Gaulands Sätze empfinden würde. Den Ärger meiner jüdischen Freunde hatte ich ja bereits gelesen und -ehrlich gesagt- auch gut verstanden.

Weder das Bekenntnis zur deutschen Verantwortung, noch die Wertung „verdammt“ für die NS Zeit hätten der brauen Bagage wohl gefallen. Am Allerwenigsten wohl, dass der Gröfaz und seine Bande als „Vogelschiss“ betitelt wurde.

Gauland in den rechtsextremen Bereich zu verschieben ist also eher ein typischer Missbrauch des „Nazi“ Begriffs, wie wir ihn ständig erleben.

Ich kann Sympathie und Verständnis für diejenigen aufbringen, die -oft mit dem Blick auf andere Nationen und deren entspannten Umgang mit ihrer eigenen Geschichte- einen Schlußstrich fordern, eine Einkehr der Normalität.
Wir sind in einer Situation, vor der ich schon länger Unbehagen empfinde.

Jüngere Generationen, ohne jeden inneren Bezug zur Zeit des 3. Reichs, reagieren verständlicherweise anders als diejenigen, deren Eltern oder Großeltern es noch erlitten.

Sie treffen aber auf eine politische Linke, die den „Nazi“ Begriff mit Wonne inflationär als billigste Währung in der politischen Auseinandersetzung nutzt. Es ist also zutiefst menschlich zu sagen: ich bin 1980, 1990 geboren, was habe ich damit zu tun? Ich habe genauso wenig Schuld Deutsch zu sein, wie Juden im 3. Reich Schuld hatten, nur weil sie Juden waren.

Mit Orit Arfa führte ich kürzlich ein Interview, das sich um das ganze Thema Deutsche/Juden/Nationalsozialismus/Schuld/Verantwortung dreht. Es wird im Juni bei PP erscheinen. Ein Satz von Ihr passt sehr gut auf die Gauland Diskussion. Sie sagte, wir Deutsche seien immer noch krank in unserem nationalen Selbstempfinden und dem Umgang mit dem 3. Reich. Und sie glaubt, dies würde sich erst mit der 5. Generation bessern.

Ich glaube, sie hat Recht und wir erleben es heute auf allen Seiten wieder einmal.

Umso wichtiger ist es also, die Diskussion aus der emotionalen Ebene weg zu bekommen und zu versachlichen. Also nehmen wir das Argument „Normalität“ doch einmal auf.

Normalität. Ist es denn in unserer abendländischen, christlich-jüdisch geprägten Wertewelt normal, ein Regime, das den europäischen Teil des 2. Weltkriegs auslöste und Millionen von Menschen auf die bestialischste Weise ermordete, als „Vogelschiss“ zu bezeichnen? Nein, das ist es eben nicht.

Es ist eine Verniedlichung, eine Relativierung dieser Verbrecher. Und da hilft auch kein Fingerzeig auf andere Nationen. Man kann kein Verbrechen mit dem Hinweis auf andere Verbrechen relativieren. „Oktoberfest“ ist zutiefst feige und unethisch. Wir sollten im Umkehrschluss stolz darauf sein, genau das nicht zu tun.

Und das ist es auch, wofür uns viele Menschen aus anderen Nationen besonders achten. Gerade eben, weil sie sehen, wie nonchalant ihre Nationen über ihre Katastrophen in der Geschichte hinweg sieht.

Und dabei geht es auch nicht, wie viele fürchten, darum sich zu erniedrigen, über eine andauernde „Sippenhaft“ niedergedrückt zu werden. Es gibt keine Kollektivschuld, es gibt keine Sippenhaft für Unschuldige. Wer die NS Zeit nutzt, um sie gegen heute lebende Deutsche zu instrumentalisieren, begeht ein Unrecht. Und das muss sich niemand gefallen lassen.

Aber es gibt eine Verantwortung. Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht. Verantwortung dafür, dass jüdisches Leben in der Gegenwart in Deutschland sicher möglich ist, dass auf deutschen Straßen kein „Juden ins Gas“ zu hören ist, dass jüdische Kinder sicher zur Schule gehen können, dass die Existenz Israels unangetastet bleibt.

Aber um genau das geht es denjenigen, die heute mit dem Finger zeigen und „Relativierung“ rufen nicht. Sie führen einen verlogenen Kampf um die Gefühlshoheit.

Hier nicht mit gleiche Münze zurückzuzahlen ist nicht leicht. Aber wer hat denn gesagt, dass unser Kampf ein leichter sein würde? Manchmal muss man das Unangenehme tun, einfach weil es richtig ist und nicht den leichten Weg nehmen, weil ihn der politische Gegnern vormacht.

Und Gauland’s „Vogelschiss“?

Für mich ist eine deutsche Identität ohne Einbeziehung von Konsequenzen aus der Shoah nicht denkbar. Natürlich waren es nur 12 Jahre aus einer weit über 1.000 jährigen Geschichte. Diese 12 Jahre haben jedoch gereicht um ein Blutbad furchtbaren Ausmasses anzurichten. Es war die Urkatastrophe deutscher Geschichte, ein Rückfall in eine unfassbare Barbarei und das ist eben nichts, was mit dem Begriff „Vogelschiss“ beschrieben werden kann.

Schon gar nicht von einem Spitzenpolitiker der größten Oppositionspartei, der damit rechnen muss, dass jede Silbe daraufhin untersucht werden wird, ob sie sich als Material gegen seine Partei gebrauchen lässt.

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Für die Freiheit nicht lügen zu müssen. Eine Lebensweisheit, die ich vor vielen Jahrzehnten von Reiner Kunze (Die wunderbaren Jahre) erhielt. Ich lernte, was das Wichtigste für ihn war, als er in den freien Westen ausgesiedelt wurde. Nicht Reisen, nicht die Genüsse der Welt. "Dass ich nicht mehr lügen muss", war seine Antwort.

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