Ein Gastkommentar von Dennis Riehle
Seit einigen Jahren nun fühle ich mich zur säkularen „Szene“ zugehörig. Freidenkerisch ausgerichtet, durchaus aber ein zweifelnder Mensch, der den Gottesglauben nie völlig aufgegeben hat – und schon gar nicht die Werte, die ich eigentlich für „humanistisch“ erachtet habe.
Doch seit einiger Zeit bin ich mir nicht mehr sicher, in welche Richtung diese neue atheistische Bewegung gehen wird. Und vor allem, ob sie noch das Verständnis von Mitmenschlichkeit zeigt, das ihr von Cicero über Herder bis zu Plessner in die eigene Wiege gelegt worden war.
Der Begriff von Freiheit und Selbstbestimmung ist weiterhin unzertrennlich mit dem Humanismus und seinen Lehren verbunden. In Anlehnung an die antiken Vorbilder, die bis zur Kasteiung an sich arbeiteten – ob über Bildung, Sport oder die schiere Selbstaufgabe –, idealisiert die heutige säkulare Bewegung ihr Menschenbild nicht nur. Sie individualisiert es auch bis in das Extreme. Die Verantwortlichkeit für den eigenen Körper und Geist verbindet sich mit dem libertären Gedanken einer Grenzenlosigkeit. Ob in Wissenschaft oder Forschung, ob in persönlicher Ekstase oder erfolgsorientiertem Leistungsgedanken.
War das frühere Bewusstsein auf ein Miteinander noch zwingender Grund, sich einer moralischen Übereinkunft verpflichtet zu sehen, fehlt es heute oftmals an einer Richtlinie, die sich auf tugendhafte Standards verständigt, welche weit über den eigenen Fortschritt hinausgehen. Das solidarische Denken ist verloren gegangen, blicke ich nur auf die massiven Forderungen aus der humanistischen Bewegung, den § 218 StGB endlich abzuschaffen. Die Argumentation, über den eigenen Körper bestimmen zu wollen, rechtfertigt keinesfalls eine „Legalisierung“ der Abtreibung.
Hier wird ein Ideal ganz offensichtlich missbraucht, um davon abzulenken, dass Menschsein nicht nur Freiheit, sondern auch Verantwortung bedeutet. Die Vorstellung, ich alleine könnte über alles entscheiden, was in meiner Macht steht, ist unter dem Gesichtspunkt einer humanistischen Ethik ein vollkommener Trugschluss.
Denn unsere Existenz eignet sich nicht für egoistische Befindlichkeiten. Wer mit angehendem Leben spielt, hat das Maß über das eigene verloren. Nur in den allerseltensten Fällen entstehen Schwangerschaften gegen den Willen einer Frau. Damit ist sie mehrheitlich in der Lage, die Entscheidung für ein Kind mündig zu treffen.
Genau diese Fähigkeit muss ich ihr zusprechen, wenn ich das Bild des Humanismus bis zum Ende dekliniere. Als werdende Mutter übernimmt sie eine Schlüsselrolle in der Solidargemeinschaft. Das Experimentieren mit dem eigenen Körper taugt nicht für ein Gesellschaftsbild, in dem wir tatsächlich selbst-bestimmt leben.
Nachwuchs bedeutet auch, für das Allgemeinwohl und seine Zukunft Sorge zu tragen. Diese Aufgabe verbindet sich mit dem urmenschlichen Können, Leben zur Welt zu bringen.
Wer nur sein eigenes Wohl wertschätzt, dabei nicht nur die Folgen von Abtreibungen vergisst, sondern aus seinem Ich-Sein heraus auch nicht mehr die Perspektive auf das „Wir“ einnehmen kann, tritt den Humanismus mit Füßen.
Nicht alles, was möglich ist, ist auch sinnvoll. Ob es nun die medizinischen Fertigkeiten zum Schwangerschaftsabbruch sind – oder auch der Traum des Transhumanismus zu einer „Vervollkommnung“ des Menschen mit Wissenschaft, Technik und Forschung: Uns steht eine gewisse Demut immer gut zu Gesicht. Nur, weil Atheisten oder Freidenker nicht an einen Gott glauben, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie sich gleichzeitig auf seinen Stuhl erheben können.
Der heutige Humanismus überschätzt sich in vielerlei Hinsicht. Während ihm einerseits ein inhaltliches Konzept seiner Überzeugungen fehlt, wenn sich die Welt nur um den persönlichen Profit dreht, bleibt er im Begreifen von Umwelt, aber auch des Universums, relativ einsam.
Natürlich könnten wir schon morgen alle Drogen freigeben, wie dieser Tage von manchen säkularen Organisationen gefordert. Doch wo ist die Vernunft, die Fromm so propagierte, und die eigentlich hochgehalten wird, wenn sich die Humanisten zu Wort melden? Selbstverständlich dürfte sich dann plötzlich jeder von uns bekiffen – bei Alkohol und Zigaretten sieht man bestens, wie die staatliche Regulierung funktioniert, die auch bei anderen Rauschmitteln effektiv sein soll, glaubt man den Befürwortern vollständiger Legalisierungen.
Ein Humanismus, der sich durch seine Überheblichkeit eigens zerstört?
Wir müssen uns als Menschen auch vor uns selbst schützen. Denn wie sonst sollen wir verhindern, dass Sterbehilfe nicht künftig zur gängigen Praxis für jeden wird, der zwischendurch auf einmal keine Lust mehr zum Leben hat – oder dass wir uns alsbald im Wochentakt verheiraten und wieder scheiden lassen, nur, weil wir auf Treue keinen Bock mehr haben? Anarchien verliefen bisher meist im Sande, ihnen fehlt es auch an Reife. Und so erscheint mir auch die säkulare Bewegung: Kindisch – und von der Phantasie besessen, dass ohne Verbote doch alles viel besser läuft.
Ja, wir haben die alleinige Gewalt über unseren Körper und über unseren Geist. Nicht alles davon ist zu jeder Zeit intakt. Genau für diese Augenblicke gibt es aber Regeln. Denn schließlich sollten Humanisten doch ihrem Namen nach bereits Anhänger des Lebens sein. Der Gedanke, wir können damit verfahren, wie es uns gefällt, mag richtig sein.
Ab und zu ist dieser hochentwickelte Mensch offenbar aber doch außerstande, sein Handeln zu überblicken. Die Konsequenzen könnten vernichtend sein. Und spätestens dann hilft nur noch der suchende Blick: „Lieber Gott, hilf mir, aus meiner Begrenztheit klug zu werden!“.
Gastautor Dennis Riehle: Sprecher der „Humanistische Alternative Bodensee“ (HABO) -Säkular-humanistischer Zusammenschluss