Donnerstag, 21. November 2024

Österreichs Ukrainepolitik in der Bukowina.

Der Bericht vom 14. 7. 2022 über die Wallfahrt der katholischen Bischöfe Franz Lacknvon Salzburg und des Grazer Bischofs Wilhelm Krautwaschl in die Ukraine von David Berger motivierte mich, auf eine gelungene österreichische „Ukraine-Politik“ hinzuweisen, die ich im vierten Band der monumentalen Philosophiegeschichte „Verdrängter Humanismus – Verzögerte Aufklärung“, Philosophie in Österreich von 1400 („Haus Österreich“) bis heute („ Haus Europa“) skizzierte und die aktuell als Vorbild und Anregung dienen sollte. Ein Gastbeitrag von Anton Winter

Die Suche nach dem souveränen Stil österreichischen Philo­sophierens: M. Benedikt hat in seiner Einleitung zum 2. Band die Aufgabe der Reihe „Verdrängter Humanis­mus – Verzögerte Aufklärung“ als Dienstleistung beschrieben – zur „Einführung und Vorbereitung eines souveränen Stils, des Stils authentischen österreichischen Philoso­phierens.“

Hinsichtlich dieser Zielsetzung liegt die Frage nahe, ob sich in dem hier dokumentierten gemeinschaftlichen Bemühen der Autoren etwas von dieser kritischen Souveränität und Authentizität durchzusetzen vermag: als wohlfundierte anthropologische Semantik, welche wegen dieser Spannung auch doktrinalen Charakter tragen kann..

Ein solches Stromata-Konzept wird über bloß antiquarisch-histo­rische Betrachtung hinaus jene anthropologische Konzeption mit Gegenwartsproblemen verbinden, mit Problemen der Technologie, der Naturwissenschaften, der Schere von Norm und Faktizität der Gesellschafts­wissenschaften sowie der Verhängung des Dignitäts­vorranges der Geisteswissenschaften zugunsten bloßer Funktionalität.

Österreichs Aufgabe in der zivilisierten Weltgesellschaft

Für Österreich besteht nach seiner Eingliederung in die Europäische Union die zentrale Aufgabe, über seinen Beitrag zur zukünftigen Gestaltung der zivilisierten Weltgesellschaft hinaus einen Schritt vorzugeben, welcher so etwas wie ein ethisches Gemeinwesen, auch gegen den bloß pragmatischen Mainstream, vorwegnimmt.

Dies in umfassender, vollanthropologischer, also nicht bloß techno­logischer, pragmatischer, abstrakt-ökonomischer Perspektive zu leisten, ist primär eine philosophische Aufgabe. Wird sie seitens der zuständigen Institutionen und Persönlichkeiten tragenden Gleich­gewichts nicht angegangen, fehlen im realpolitischen Tagesgeschäft durchgearbeitete Ideen und kritisch fundierte Konzepte; so werden denn Neuauflagen historischer Modelle wie Calvinismus für Kapi­talismus, so dominantes Christentum für Globalisierung der Ersten Welt, attraktiv, wie etwa das römisch-christliche (petrinische) Europa in Zbigniew Brzezinskis Buch „The Grand Cessboard“, welcher Wahl der deutsche Verteidigungsminister und ein ehemaliger Außenmi­nister begeistert zustimmen

Die Beiträge unter dem Titel „Das verfehlte Bürgerliche. Binnen­entwicklung und Außen­wirkung“ im dritten, sowie verschiedene Darstellungen in diesem Band zeigen, wie das Denken im Zeichen der Sezession, also das philosophische Bemühen, nicht imstande war, in die gesellschaftlichen Entwicklungen der Monarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert gestaltend und ordnend einzugreifen; bleibt zu fragen, ob es heute dazu fähig ist. Sind Kriterien für eine originäre politische Initiative Österreichs im Bemühen um den Aufbau einer zivilen Welt­gesellschaft im Zeichen eines ethischen Gemeinwesens, seiner Vor­wegnahme in aktiver Neutra­lität, erarbeitet, wie werden sie manifest und griffig?

Das Manifeste eines staatlich konstituierten Gemeinwesens bedarf jedenfalls einer Vermittlung von Freiheit und Gesetz durch in Gewal­ten geteilte Macht. Die Griffigkeit hingegen wird des föderalistischen Gleichgewichts einer zentripetalen, parteigebundenen Kammer mit einer zentrifugalen, parteifreien Assoziation partizipativer, berufs­ständischer, räterepublikanischer, syndikalistischer Kräfte in einem zweiten Haus nicht entbehren können. Das föderalistische Gleich­gewicht – fern von Grillparzers Humanität-Nationalität-Bestialität – ist in einer präsidialen Republik von vielen Ethnien in einem Staats­gefüge wohl bewahrt.

Ideales Europa im kleinen: die Bukowina

Trotz des Scheiterns der mitteleuropäischen Mission der Monarchie ist ein einzigartiges Ereignis bekannt, in dem sich beispielhaft in einer fernen Ecke des Reiches ein Ideal verwirklicht hatte und nachhaltig fortwirkt. Berichterstatter ist Adolf Armbruster (Europa im Kleinen: Die Bukowina. In: Auf den Spuren der eigenen Identität. Bukarest 1991, S. 219ff.):

Ein Bericht

„Als 1775 Österreich die Bukowina erwarb, befand sich dieses von der Natur äußerst gesegnete Ländchen in einem derart desolaten Zustand, daß selbst die ersten östereichischen Beamten angesichts ihrer neuen Aufgabe eher skeptisch als zuversichtlich waren. Als einem Vertreter des aufgeklärten Absolutismus lag es Josef II. vor allem am Herzen, durch die in die Bukowina gebrachten Beamten, Soldaten Geschäftsleute, Handwerker, Gewerbetreibende, Fachar­beiter und Landwirte beispielgebende europäische Sitten zu verbrei­ten, d.h. die Bukowina so rasch wie möglich auf den Stand einer mitteleuropäischen Kulturlandschaft zu heben. Es war in der Tat nicht einfach, aus einem vernachlässigten, heruntergewirtschafteten, kultu­rell unterent­wickelten Land ein kulturelles und militärisches Vorfeld der Monarchie zu schaffen. Die militärische Besetzung, die Grenzzie­hung, das Gewinnen der einheimischen Bevölkerung für die neuent­stan­dene Lage und schließlich die ersten Versuche einer Koloni­sation standen am Anfang im Vordergrund und waren die Aufgaben dreier für die Bukowina sehr verdienstvoller österreichischer Generäle (von Miegg, von Enzenberg und von Splény). Ihre Leistungen im Zeitalter der Besitznahme und des Ausbaus waren derart kräftig und durchgreifend, durch­schlagend, daß sie fast den Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie zu überdauern in der Lage schienen. Das Entscheidende am Einfluß Österreichs war, daß das Buchenland mit Hilfe der guten österreichischen Verwaltung im Laufe einiger Jahrzehnte auf den mitteleuropäischen Kulturstand gehoben werden konnte, daß es mit Hilfe einer im wesentlichen deutsch sprechenden Beamtenschaft ein vollwertiges Glied des kaiser­lichen Staatsbestandes, zu einem wohlgegeliederten und gutfunktio­nierenden Teil eines Kulturstaates wurde.

Bis 1848 war die Bukowina verwaltungsmäßig Galizien unterge­ordnet. Diese Abhängigkeit darf aber nicht übertrieben und nur als Nachteil empfunden werden, weil während dieser gesamten Zeit die galizische Verwaltung von Wien aus erfolgte; zudem förderte diese vorübergehende Vereinigung mit Galizien die Aufnahme des dort überschüssigen schwäbischen Bauerntums in die Bukowina. Diese Tatsache ist bedeutend, wenn wir uns den wirtschaftlichen und kulturellen Anteil des Schwabentums an der Gestaltung des Buchen­landes vergegen­wärtigen.

Bei der Lektüre jedes Handbuches der österreichischen Geschichte fällt immer wieder auf, daß die Bevölkerung der Bukowina im Jahre 1848 sich ruhig verhalten hat, eben weil sie eigentlich keinen Anlaß zu irgendwelchen Bestrebungen besaß. Dafür aber erzielte ein weit­blickender Mann, wie von Umlauf, durch wiederholte Bittschrif­ten an Wien die Selbständigkeitserklärung der Bukowina, ein Erfolg, der gewiß mit dem eben angebrochenen Franzisko-Josefinischen Zeitalter zusammenhing. Man ahnte, da wie dort hellhörig, die unheilvollen Auswüchse und Gefahren des übertriebenen polnischen und magya­rischen Nationalismus. Es erwies sich aus mehreren Überlegungen heraus als vorteilhaft, an die Posaune der Monarchie einen neutralen, toleranten und humanitären Schalldämpfer anzubrin­gen, eben an und in der Bukowina.

Gerade das Aufkommen gewaltsamer nationalistischer Bewegungen in anderen Gebieten der Monarchie ist ein Anlaß für die Gründung der Universität Czernowitz im Jahre 1875 als kulturellen Schwer­punkt. Wenn man sie gelegentlich als östlichste Universität deutscher Zunge bezeichnet, was sogar heutzutage als Gemeinplatz in der Bukowina-Literatur gilt, vergißt man Dorpat im hohen baltischen Norden, das ungefähr ebenso östlich liegt wie Czernowitz, nur eben etwas weit entfernt im Norden.

Es ist eine bezeichnende und vielsagende Tatsache, daß von Anfang an unter den Ukrainern und Rumänen, als den größten Volksgruppen des Landes, Einigkeit darüber herrschte, daß die Universität Czernowitz deutschsprachig sein sollte; die Verdienste des Ukraino-Rumänen, Konstantin Tomaszczuk, sind diesbezüglich nicht zu leugnen! Die deutsche Sprache wurde als Vorzug empfunden, weil sie die Möglichkeit der Freizügigkeit in ganz Österreich und darüber hinaus in sich trug. Diese von sachlichen Erwägungen getragene Entscheidung der nicht-deutschen Gruppen wird oft irgendwie verniedlicht, verharmlost, indem man sie als eine Selbstverständ­lichkeit darstellt, die sich wie von selbst anbot, weil die Staatssprache der Monarchie eben Deutsch war. Erinnern wir uns aber der Zeit, in der diese Entscheidung getroffen wurde, erscheint sie uns umso be­merkenswerter und typsich buchenländisch. Zur selben Zeit nämlich wurden die Universitäten Krakau und Lemberg nationalisiert, spielten sich harte Kämpfe an der Prager Universität um eine Nationalisie­rung ab. Die Umwandlung der ehemaligen deutschsprachigen Univer­sität Lemberg in eine polnische spielte eine wichtige Rolle in der Gründungsvorgeschichte der Alma Mater Francisco-Josefina zu Czernowitz.

Unter den Studenten lagen die Deutschen der zahlenmäßigen Vertre­tung nach erst an vierter Stelle, nach den Juden, Rumänen und Ukrainern. Auch diese Statistik ist bezeichnend und liegt durchaus im Sinne der Universitätsgründung, die keineswegs eine Germanisierung anstrebte. Die Professoren waren zunächst von anderen österrei­chischen Hochschulen berufen worden, es waren überwiegend Deutsche, nur einige rumänische und ukrainische Gelehrte befanden sich darunter (insbesondere Theologen). In kurzer Zeit nahm aber die einheimische Vertretung im Lehrkörper zu. Viele ehemalige Czerno­witzer Studenten machten später Karriere als Profes­soren von Rang auf Lehrstühlen anderer europäischer Universitäten. Nach allen Seiten strahlte der Geist der Universität Czernowitz in die umliegenden nichtdeutschen Gebiete, wiederum im Sinne der Verbreitung mitteleuropäischer und abendländischer Gesinnung und Gesittung. Weite Teile Bessarabiens, der Moldau, Siebenbürgens, der Ukraine und Galiziens fanden hier einen kulturellen Mittelpunkt, der nicht einer Nation verschrieben war, sondern allen diente. Die „Univer­sitas“, das Umfassende, das einst jede Universität im Geistigen erstrebte, wurde hier in einem anderen, aber im Zeitalter des Nationalismus um so edleren Sinne Wirklichkeit, die „Universitas“ als ein Mittelpunkt für alle Nationen, für alle Völker, die von den Strahlen dieser Hochschule erreicht wurden, als eine „Universitas Nationum“. Die Francisco-Josefina wird umgehend Symbol, Anzie­hungs- und Ausstrahlungspunkt eines gewissen und unver­wechsel­baren buchenländischen Flairs, einer typischen Lebensauf­fassung und -philosophie, die u.a. auch zum Vergleich der Bukowina mit der Schweiz führte. Dieser Vergleich geht wahrschein­lich auf einen siebenbürgisch-sächsischen Urheber zurück, der selbst aus einem von Toleranz, gegenseitigem Verständnis und demokratischen Einrich­tungen geprägten Milieu, nämlich dem eigenen aus Siebenbürgen, in die Bukowina gekommen war und hier die selben, aus der Heimat vertrauten Grundwerte zwischenmenschlicher Bezie­hun­gen wieder­fand. Diese Grundwerte des siebenbürgisch-sächsi­schen Königs­bodens hatten bereits Ende des 15. Juahrhunderts zwei Italiener (Pietro Ransano und Antonio Bonfini) dazu verleitet, den Königs­boden der Sieben­bürger Sachsen mit oder wegen all seinen Einrich­tungen als „Piccola Helvetia“ bzw. als „Helvetia Minor“ zu empfinden.

Auch das Buchenland konnte durchaus als ein glückliches Land der Toleranz bezeichnet werden. Dem deutschen Element fiel in diesem Ländchen eine ausgleichende und aufbauende Rolle zu. Da die beiden großen Volksgruppen, die Ukrainer und Rumänen, vor dem Ersten Weltkrieg etwa je 300 000 ausmachten, d.h. rund 70-75 Prozent der Gesamtbevölkerung, so ergab sich zwangsläufig der Zustand, daß keine der beiden genannten Völker die Allein­vorherrschaft anstreben konnte. Dieses zufällige, aber glückliche Gleichgewicht verlieh den Deutschen, die als Träger der obersten Verwaltung ein größeres Gewicht besaßen, als es ihrer Zahl entsprochen hätte, eine besondere Stellung, die aber von den deutschen Beamten keineswegs mißbraucht wurde, sondern sie gebrauchten sie mit weiser Mäßigung zum Wohle des Landes und aller darin lebenden Völkerschaften. Das buchen­ländische Beamtentum kann auch heute noch als unübertreffliches Modell an Korrektheit, Höflichkeit, Fleiß, Zuver­lässigkeit, Unbe­stech­lichkeit und Vertrauenswürdigkeit ausgehängt werden.

Die echte Schweiz beheimatet bekanntlich vier Volksgruppen, wäh­rend sich in der Bukowiner Schweiz neun Völker tummelten. Hüben wie drüben mußte keine dieser Nationalitäten ihre Eigenart aufgeben, die Übernahme wirtschaftlich zweckmäßiger Formen und die Auf­nahme andersartiger kultureller Anregungen führte nicht zu einer Vermischung, Verwässerung und Beschneidung der eigenen Art.

Gerade mit Blick auf das Haus Europa drängt sich die Frage auf, wie dies möglich war. Die Antwort verbirgt sich in der Art und Weise des guten Zusammenlebens von Angehörigen fünf größerer (nämlich Ukrainer, Rumänen, Deutsche, Polen, Juden) und vier kleinerer Völker­schaften (Ungarn, Lippowaner, Armenier, Zigeuner); dazu kommen noch kleine Gruppen von Griechen, Türken, Slowaken. Dieses Zusammenleben führte zur Formung eines einmaligen Homo Bucovinensis, wie ihn Hans Prelitsch genannt und beschrieben hat. Er und Bruno Skrehuntez-Hillebrand waren es, die in den frühen 50er Jahren diesem Menschenschlag und dem Gesamteuropa vorweg­nehmenden – oder vorankündigenden? – Probefall Buchenland nach­gegangen sind und das geistige Erbe der Bukowina bereits vor Jahrzehn­ten den damaligen Architekten Europas empfohlen haben.

Die Form des Zusammenlebens in der Bukowina muß die bisher bestmögliche Ordnung in der Vielfalt gewesen sein. Der Ausdruck bukowinisch darf deswegen nicht bloß ein geographischer Begriff sein, sondern sein Inhalt muß ergänzt und erweitert werden als sinn­gemäße Bezeichnung für Ordnung innerhalb eines Maximums kultu­rellen, konfessionellen, völkischen und sprachlichen Durcheinanders. Dies Durcheinander wurde zusätzlich erhöht durch die einzelnen Völker selbst. Nehmen wir nur ein Beispiel: Die Buchenland­deutschen; sie waren teils katholisch, teils evangelisch; herkunfts­mäßig waren sie ebenfalls eine äußerst bunte Gruppe. Ihre Herkunftsgebiete lagen weit auseinander. Evanglische bäuerliche und handwerk­liche Siedler kamen aus den Gebieten beiderseits vom Mittelrhein, beson­ders aus der Pfalz, deren Mundart sich durchsetzte, auch wenn das Gros dieser Siedler eben die fleißigen Schwaben des Buchenlandes werden. Das zweite Herkunftsgebiet liegt im Böhmerwald; von hier kamen katholische Wald- und Glashütten­arbeiter; aus der slowa­kischen Zips kamen die evangelischen Berg­leute. Die vierte Gruppe besteht aus den Deutschen aus den selbster­richteten Städten; sie stammen aus den übrigen österreichischen Kronländern, insbesondere aber aus dem mährisch-böhmischen Raum.

Die drei ersten Gruppen wahrten ihren Sondercharakter auch in der neuen Heimat, nicht nur weil sie von Natur so verschieden waren, sondern auch weil sie im Buchenland gesondert ansässig wurden. In diesen geschlossenen Siedlungen auf dem Land erhielt sich die Mundart der Schwaben, der Deutschböhmen und der Zipser. Im städtischen Konglomerat der anderen Deutschen ohne feste Stam­mesbindungen entstand eine eigenartige, von der andersnationalen Umwelt in Aussprache und Wortschatz stark östlich gefärbte deutsche Umgangssprache, die alsbald als ausgesprochen “Bukowinisch“ empfunden wurde. Jargonausdrücke aus dem Rumä­nischen, Türki­schen, Slowenischen, Jiddischen fanden im bukowinischen Deutsch umgehend Aufnahme und Verwendung, sowohl seitens des gebildeten Akademikers als auch seitens des einfachen Mannes. Die mund­artliche Bereicherung riß nie ab und trotzdem verstanden alle Deutschen diese Sprache!

Im Laufe der Zeit entstand irgendwie automatisch ein gemeinsames Bewußtsein, das ein Kollek­tivempfinden war und über allen Stammes- und sonstigen Eigenarten stand. Es war das bukowinische Heimatbewußtsein, das äußerst stark war und heute noch anhält, und dem die Angehörigen aller Naitonalitäten unterlagen. Dieses Gemein­same war eine sehr lebendige, vom Herzen und vom Gemüt her bestimmte Einheit von Bukowiner Heimatbewußtsein und dem Gefühl einer gewissen Zusammengehörigkeit, die ihren schönsten und beredesten Ausdruck im guten Zusammenleben und in der Eintracht zwischen allen Nationalitäten als Gemeinschaft und zwischen allen Bukowinern als Individuen fand. Auseinandersetzungen und Mißstim­mungen konnten lediglich von den Politikern vorübergehend hervorgerufen werden, das vorbildlich gute Einvernehmen und das schöne gemütliche Zusammenleben konnten sie aber auch nicht trüben, zumindest im Bereich der persönlichen Beziehungen des privaten Lebens und des privaten Alltags.

Die Skeptiker des Hauses Europa wenden ein, die Sprach­schwie­rigkeiten könnten ein Problem entstehen lassen, das das ganze Haus sogar vereiteln könnte. Auch diesen Skeptikern kann das Bukowiner Modell den Wind aus den Segeln blasen. In den Buchenländer Regimentern, Schulen und in der Verwaltung gab es praktisch keine Sprachschwierigkeiten. Es gab nur wenige waschechte Bukowiner, die nicht zumindest zwei Sprachen beherrschten, wobei weit weniger die Schule, der Wehrdienst oder das Berufsleben, als vielmehr der Alltag und die Umwelt zu dieser außergewöhnlichen Sprachge­wandtheit führten. Schon am Tarocktisch konnte man bis zu vier Sprachen hören, saß doch der rumänische Pope neben dem ukrainischen Förster, dem polnischen Apotheker und dem deutschen Lehrer; dahinter stand oft ein jüdischer Kleinkrämer.

Gesinnung, Eigenart und Zusammenleben der Nationalitäten berech­tigen den Ausdruck ‘ideales vereintes Europa im kleinen Buchen­land’. In der Bukowina gab es keinen Hader und Streit zwischen Angehörigen der verschiedenen Völkerschaften, wie es beispielsweise im benach­barten Galizien oder Siebenbürgen zum Alltag gehörte. In keinem anderen Kronland gab es so viele Mischehen wie eben in der Bukowina. Als guter Nachbar half einer dem anderen, wo es immer nottat, und nahm an seinem Leben und Schicksal, an seinen Sorgen und Freuden, Festen und Trauern Anteil, ohne nach Sprache und Glauben zu fragen. Man lud sich gegenseitig zu Hochzeiten, Taufen und sonstigen Festlichkeiten ein, Bälle vereinten Tanzlustige aller Natio­nalitäten; es gab viele Vereine und sogar akademische Studen­tenverbindungen, deren Mitglie­der sich auf mehrere Völkerschaften verteilten, und hinter dem Sarg eines Verstorbenen schrit­ten gemeinsam Rumänen, Polen, Deutsche, Ukrainer und Juden, nicht selten auch Gottesdiener anderer Bekennt­nisse als dem, welchem der Tote angehörte. Rom und Byzanz, Wittenberg und Moskau, Jersualem und Kiew gaben sich hier ein Stelldichein, um Gottesdienst in ihrer ökumenischen Berufung zu zelebrieren und in einer Vielfalt zu demonstrieren, die der universalen Vielfalt des Schöpfers entsprach und dem ökumenischen Gespräch mit Gott diente.

Weit über die Sphäre persönlicher Beziehungen und des Zusammen­lebens im privaten Bereich hatte diese Bukowiner Eigenart eine sol­che solide Untermauerung, daß sie aus der Bukowina einfach nicht mehr weg zu denken ist. Jeder fand sein Recht und seine Gerech­tigkeit, es gab keine Unterschiede: Jedes Kind erhielt in seiner Muttersprache Unterricht, jedermann konnte vor Gericht und bei allen Behörden seine Sprache gebrauchen, ohne zu fürchten, nicht verstanden zu werden oder durch den Gebrauch seiner Muttersprache sein Gegenüber in Rage zu versetzen, oder sich sogar straffällig zu machen. Die Post- und Steuerformulare hatten Vordrucke in deutscher, rumänischer, polnischer und ukrainischer Sprache. In den Schulen wurden alle Landessprachen als Wahlfächer unterrichtet, und wer als Beamter oder Richter die Kenntnis einer oder gar mehrerer Landessprachen außer der im internen Amtsbetrieb und im Verkehr mit Wien notwendigen deutschen Sprache nachweisen konnte, wurde außerordentlich befördert oder bei Neubesetzungen bevorzugt. Jedermanns Interessen, jedermanns Lebensart wuden berücksichtigt, amtlich und außeramtlich geachtet; keiner wurde wegen seiner Nationalität oder Konfession benachteiligt; die politische Partei galt wenig, dafür aber umso mehr Charakter, Fähigkeiten und Recht.

Jeder war zufrieden – O tempora!

An den hohen kirchlichen oder weltlichen Feiertagen der einzelnen Nationalitäten nahmen der Landespräsident, der Bürgermeister, die Bezirkshauptleute, der Universitätsrektor, der hohe Richter und andere Vertreter der Behörden teil.

Dies alles wirkte auch in der rumänischen Zeit nach, wodurch sich zeigt, daß Voraussetzungen und guter Wille für ein schönes Zusam­menleben bei allen Völkerschaften gegeben sind, wenn sie nur geweckt, in richtige Bahnen gelenkt und gefördert werden. Auf diese Weise bildet die Bukowina, weit im Osten, dicht am Rande der östlichen Steppe, ein Modell in abendländischem Geiste für ein vereintes Europa.

… In diese, vom Rückblich irgendwie verklärte Idylle platzte das sowjetrussische Ultimatum vom 26. Juni 1940, demzufolge Bessarabien und die Nordbukowina in den nächsten fünf Tagen von den rumänischen Behörden geräumt und von den Sowjets besetzt werden mußten. Erst jetzt erfuhr man von dem geheimen Zusatzprotokoll zum sogenannten Hitler-Stalin auch Ribbentrop-Molotow-Pakt vom 23. August 1939. Keiner der beiden unseligen Partner empfand so etwas wie Unrecht oder Willkür angesichts der eigenmächtigen Ausdehnung dieses Kuhhandels auch auf den nördlichen Teil der Bukowina mit seiner Hauptstadt Czernowitz. Ohnmächtig und von seinem traditionellen Verbündeten im Stich gelassen, mußte Rumünien das Ultimatum annehmen und befolgen.“

Die Philosophie und das ‘Experiment Weltgesellschaft’

Mit der gelebten Realität der Bukowina ist seit etwa 200 Jahren die Welt- und Lebensform einr zukünftigen Friedensordnung vorgezeichnet, die geschichtsphilosophische Spekulationen abweist, nach denen etwa der ‘Kampf der Kulturen’ (s. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilisation) als schräge Verzerrung der „fringes“ (Einbindungen) von Zivilisationen ohne Aussicht auf den Übergang in ethisches Gemeinwesen sie in Mißgebilde der Bestialität verkümmern läßt.

Für die Philosophie ergibt sich der Ansporn, die Konstituenten dieser 150-jährigen Friedens­gesellschaft zu rekonstruieren, deren beispiel­hafte Verfasung herauszustellen und für die Situation, in der wir mitten im Experiment „Weltgesellschaft“ in all ihren säkularen Überla­gerungen und Gefährdungen durch Migrationen, Formen des Faschismus, Neoliberalismus und intolerante Bureaukratie stehen, erträglich zu gestalten..

Dies allerdings nicht im archivarisch-musealen Interesse, sondern als Suche nach der Grund­lage für den Eintritt in die weltgeschichtliche Verantwortung in einer Vollanthropologie, die eine individuierende Praxis der ihre Mündigkeit erobernden und verteidigenden Bürger eröff­net.

Daß dies auch eine Dechiffrierung technokratischer, bureaukratischer, monopolkapitalistischer Deifizierung unseres verwechslungs-, verstel­lungs-, täuschungsgefährdeten Gemeinwesens impliziert, wurde dargelegt und ist Angelegenheit kritischer Semantik jener keineswegs einäugigen philosophischen Anthropologie, deren politischer Erweite­rung ihres empirischen Charakters.

Mit der Bukowina ist der österreichischen Monarchie eine Stern­stunde aufgegangen: Es wurde gelebte Praxis, was Humanismus und Aufklärung in Gedanken zu bestimmen suchen.

Der souveräne und authentische Stil österreichischen Philosophierens fand hier seine konkrete, lebensweltliche, allerdings bislang noch unbedachte und unbegriffene, Vorwegnahme.

Institutionalisierung des Präsentismus

Endre Kiss weist in in seinen bemerkenswerten Ausführungen zur mitteleuropäisch-österreichi­schen Rationalität auf die gegenwärtige, weltgeschichtlich entscheidende Auseinandersetzung der präsentisti­schen Rationalität mit den Residuen, Fehl- und Schwundformen des rationalen Vermögens hin, das sich von seinen Objekten her definiert. Es geht in diesem Kampf darum, die typisch österreichisch-mittel­euro­päische Rationalität, die er die „präsentische“ nennt, zu institutiona­lisieren. Da sie die Vernunft des Handelns über den Strategien der Klugheit zu entwickeln strebt, sei sie fähig, dem Menschen die ihm „abhanden gekommene Wirklichkeit“ (R. Rorty) zurückzugewinnen, seine Gegenwart, die aus den beiden – von Nietzsche beschrie­enen – Gefahren des falschen Bewußtseins und des Verlustes der Identität zu befreien ist.

Die Zukunft Österreichs ist in dieser Hinsicht, während die Republik in den transnationalen Strukturen verschwindet, als Bürgergesell­schaft in weltbürgerlicher Absicht zu gestalten. Deren Mission ist es, in einem „Gespräch unter Menschen“ (s. J. Carter: Frieden schaffen im Gespräch. Ein Impuls für die nächste Generation. Flensburger Hefte) den Akteuren und Kontrahenten das „Grand Chessboard“ zu entziehen, auf dem sie ihre geostrategischen Machtpläne zu verwirk­lichen streben (s. Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard. American Primacy and its Geostrategic Imperatives. New York 1997).

Eine sich in präsentischer, kommunikativer Praxis formende freie, zivile Weltgesellschaft erfüllt die Funktion eines neutralen Elements, dessen Macht darin besteht, die Notwendigkeit der repressiven Welt­herrschaft im Wirtschafts- und Informationskrieg Schritt für Schritt aufzulösen und zu ersetzen: eben durch die aus dem kohärenten Denken zu kreierenden Lebensformen der präsentischen Rationalität.

Die weitere philosophische Arbeit in den folgenden Bänden ist dadurch vorgezeichnet; es wird darum gehen,

– eine Anthropologie vorzulegen, die nicht als Erzählung (Mythos) aus den ‘Ergebnissen’ der Wissenschaften komponiert ist, sondern als deren Voraussetzungsbasis gefaßt ist und eine spezifische, von den kon­kurrierenden Disziplinen sich differierende Forschung ermöglicht;

– die Basis einer Gesellschaftsordnung zu eröffnen, die gegenüber den sich global ausweitenden Wirtschaftsinteressen die Rechte und die Würde der Individuen und der künstlich bzw. natürlich gewachsenen Gruppen, hauptsächlich der Vergessenen, zu wahren imstande ist;

– eine Methode der sozialen Gestaltung einzubringen, daß die Erfüllung des Ideals nicht bloß gefordert, sondern deren Freiraum eingeführt und bewahrt bleibt.

Die Gestaltung von Institutionen zugunsten derartiger präsentischer, besser noch nachhaltiger Rationalität ist somit eine zentrale konkret-philosophische Aufgabe. Ihr Begriff, Ausdruck und Charakter sind als souveräner, authentischer Stil österrei­chischen Philosophie­rens ins Spiel zu bringen.

La ‘Nouvelle Alliance’

Wenn Z. Brzezinski nach der Epoche ‘Jenseits der letzten Super­macht’ fragt (s. Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Berlin 1997 S. 298), deren Beginn er um 2033 ansetzt und als deren Aufgabe die gemeinsame „Verantwortung für eine friedliche Welt­herrschaft“ (S. 306) sieht, so mag es einleuchten zu fragen, ob diese in dreieinhalb Jahrzehnten bevorstehende Epoche der gemeinsamen Verantwortung nicht bereits jetzt (1998) beginnen müßte und sich die Übergangsepoche der Supermacht-Weltherrschaft „erübrigt“.

Dafür wäre allerdings notwendig, daß anstelle der Weltkultur des ‘tittytainment’, die in ihrer Mischung aus Fürsorgeabhängigkeit und Pornographie – Nietzsches zwei Gefahren zugleich heraufbe­schwörend – von dem tobenden Informations- und Wirtschaftswelt­krieg ablenkt, lebensfähige Modelle eines neuen Verhältnisses zur Natur und von Mensch zu Mensch entwickelt werden, wozu Ilya Prigogines „Nouvelle Alliance“ (s. Le monde dimanche. 9.5.1982) ermutigt.

Ob mit 1998 die Epoche der Weltgesellschaft beginnt oder die Unstimmigkeiten der Super­macht-Weltherrschaft erlitten werden müssen, entscheidet sich in der Bereitschaft der einzel­nen, zusammen mit den anderen, ohne diese oder jene auszuschließen, in den Status der Über­nahme weltgeschichtlicher Verantwortung einzutreten. Wie dieses „Eintreten“ in seinem Optimum beschaffen, zu veranstalten, zu organisieren, zu erweitern, durch- und aufrecht­zuhalten ist, bleibt zu erörtern. Dieses Eintreten wird nicht möglich sein ohne eine uns zustehende Vereinbarung von größter Anstrengung bei kleinstem Erfolg. Eine wahrhaft österreichische, philosophische Aufgabe!

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Zum Autor: Anton Michael Winter, geb. am 5. 5. 1951 in Moedling/Niederösterreich, Eltern: Gertrude und Leopold Winter, beide Sägewerksunternehmer

Nach der Volksschule und Gymnasium mit Matura Erwerb der Lehrbefähigung für Volksschulen, 1974 – 1984: Unterrichtstätigkeit an verschiedenen Schulen und begleitendes Studium an der Universität Wien in diversen Fachgebieten, Mitarbeit an Forschungsprojekten zur Philosophie und Naturwissenschaft (insbesondere in der Biophysik, Biophotonenforschung, Assistent bei Prof. Dr. Karl S. Trincher), Mitarbeit in der Hochschülerschaft als Beauftragter für studentische Forschungsprojekte, Mitbegründer des Vereins „Studentische Forschungsgemeinschaft“, Herausgabe der „Zeitschrift für studentische Forschung“, 1982: Organisation eines Symposiums mit Karl Popper und des Kongresses „Neue Wege in der Naturwissenschaft“ in der technischen Universität Wien mit Ilya Prigogine (Nobelpreis für physikalische Chemie 1977) und Mitarbeitern der Université Libre De Bruxelles, 1985 – 1994: Tätigkeit als Oberstufenlehrer für Physik, Mathematik, Astronomie, Geschichte und Religion, 1993: Theodor-Heuss-Medaille für das Europaprojekt „vatra omeneasca“ der betreuten Klasse, zusammen mit dem Preisträger: Vaclav Havel, überreicht von R. v. Weizsäcker und Hildegard Hamm-Brücher, 1995 -2006:  Mitarbeit an Forschungsprojekten der Universität Wien – Aufarbeitung der österreichischen Geistesgeschichte („Verdrängter Humanismus – Verzögerte Aufklärung“), Leitung des Verlages „Leben – Kunst – Wissenschaft“, zuständig für Lektorat, Layout, Drucklegung, Werbung und Vertrieb, Publikation der Autobiografie Karl S. Trinchers „Mut zur Wissenschaft“ und „Die Physik des Lebens. 2000:  Organisation des Kongresses „Europa im Wandel“ mit Ilya Prigogine, Peter Schuster, Hans Thirring u. a. in Wien, 2006 – 2022: Organisation von Tagungen zu Fragen der Wissenschaft und Gesellschaft im Format von „Werkstatt-Dialog-Konferenzen“ und Veranstaltungen im Format „Europäisches Kulturgespräch“ (I – IX), 2017: Installation „The European Secret“ in der Disibod-Realschule, Bad Sobernheim, 2019/20: Teilnahme an dem Schulwettbewerbsprojekt des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit „Meine, deine, unsere Zukunft – Globales Mitbestimmen, lokales Handeln“ mit den Projekten „G-1, G-alle – Gipfelkonferenz der Jugend der Welt“ und „Arche Nova“, ab 2021: Vorstandsmitglied im „Seminar für freiheitliche Ordnung“, Bad Boll.

Die Illustrierung des Beitrags erfolgte mit Bildern von Franz Xavier Knapp aus seiner „Romanian Academy Library“.

 

PP-Redaktion
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Eigentlich ist PP nach wie vor ein Blog. Dennoch hat sich aufgrund der Größe des Blogs inzwischen eine Gruppe an Mitarbeitern rund um den Blogmacher Dr. David Berger gebildet, die man als eine Art Redaktion von PP bezeichnen kann.

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