Donnerstag, 21. November 2024

Ukraine-Konflikt: Ungarn erwartet bis zu 600.000 Flüchtlinge

Bereits am ersten Tag der russischen Invasion in die Ukraine hat ein erster Flüchtlingsstrom in die Nachbarländer, u.a. auch nach Ungarn eingesetzt: An den ungarischen Grenzübergängen bilden sich bereits stundenlange Staus. Ungarische Behörden rechnen mit bis zu 600.000 Flüchtlingen aus der Ukraine. Ein Gastbeitrag von Elmar Forster

Der ungarische  Verteidigungsminister Tibor Benkő erkärte sich am Mittwoch zur Aufnahme Zehntausender von Flüchtlingen bereit. Ähnlich äußerten sich auch die Tschechische Republik, Polen und die Slowakei.

150.000 ethnische Ungarn in der Ukraine auf der Flucht vor dem Stellungsbefehl

Für Ungarn ist die derzeitige Kriegssituation doppelt prekär: Leben doch seit dem Diktat-Friedens-Vertrag von Trianon (1920) 150.000 ethnische Ungarn in der West-Ukraine. Vor allem junge, wehrfähige ungarische Männer verlassen jetzt fluchtartig das Land. Die ungarischsprachige Zeitung „Kárpáthír“ sprach von einer Panik:

„Viele Menschen sind auf der Flucht, die Straßen über die Grenze sind voll, am Grenzübergang Csap-Záhony können die Menschen nicht mehr in die Züge einsteigen. Familien mit kleinen Kindern warten darauf, durchzukommen.“ (karpathir)

Läden, Banken und Tankstellen seien bereits gestürmt worden, in denen sich die Menschen für die Flucht nach Ungarn mit dem Nötigsten eindeckten… – Außerdem sind die ukrainischen Mobilfunknetze und Internetverbindungen teils zusammen gebrochen.

Ungarisches Militär sichert die Grenzen

Die Gastvorstellung des ungarischen Nationaltheater aus Beregszász  / Berehovo (Ukraine) „Die Familie Tóth“ (ein absurder Kriegsroman von István Örkénys) wurde heute Abend im Nationaltheater in Budapest abgesagt. Der Grund: Alle Männer der Theatergruppe haben ihren Einberufungsbefehl für die ukrainische Armee erhalten. – Wir der Direktor des Ungarischen Nationaltheaters, Attila Vidnyánszy mitteilte. Er stammt selbst aus Beregszász, der Stadt, die als kulturelles Zentrum der ungarischen Minderheit in der Ukraine gilt. „Was jetzt geschieht, ist eine Katastrophe“, sagte der Theaterregisseur.

Verteidigungsminister Benkő sagte am Dienstag: „Die ungarischen Streitkräfte haben zwei Aufgaben: Zum einen sollen sie humanitäre Hilfe leisten und zum anderen die ungarischen Grenzen schließen und sicherstellen, dass keine bewaffnete Gruppe nach Ungarn eindringen kann.“ (UngarnHeute)

Hintergrund: Das Schweigen der EU zur Unterdrückung der ungarischen Minderheiten

In keinem anderen Trianon-Nachfolgestaat wird die ungarische Minderheit aber derart unterdrückt wie in der Ukraine. Seit 2017 dürfen nationale Minderheitensprachen nur noch in der Grundschule unterrichtet werden. Die einzige Unterrichts- und Offizialsprache (seit 2019) ist Ukrainisch. Bei Zuwiderhandlung drohen Geldstrafen.

2018 bedrohte sogar eine „Todesliste“ (der Nationalistengruppe Mirotvorec – „Friedensmacher“) 300 ungarisch-ukrainische Funktionäre, weil sie angeblich im Besitze der ungarischen Doppel-Staatsbürgerschaft waren. (DieWelt). Eine Internet-Petition (des ukrainischen Parlaments) rief zu deren Deportation auf. Auch der staatliche Aufkauf leerstehender ungarischer Wohnungen wurde diskutiert: Um „dort ukrainische Vertriebene aus dem russisch besetzten Osten des Landes anzusiedeln“ (Die Welt, ebda). Während der Krim-Krise wurden v.a. ungarisch-stämmige Soldaten an die Front versetzt.

Doch auch in der Slowakei ließ etwas die Regierung Mečiar (1993–98) zweisprachig-ungarische Ortstafeln abschaffen, ungarische Vornamen wurden im Geburtsregister slowakisiert. 1996 war Slowakisch selbst bei einem dienstlichen Gespräch zwischen zwei Ungarn Pflicht. – Als ich einmal in Bratislava mit einem Supermarkt-Kassier Ungarisch sprach, wurden wir deswegen von Slowaken rassistisch beschumpfen. Der Kassier setzte dann das Gespräch nur mehr auf Slowakisch fort… (In Ungarn waren deutsche- oder slowakische Ortstafeln hingegen immer eine Selbstverständlichkeit.)

1996 sank durch ein neue Verwaltungsgliederung (in Nord-Süd-Richtung) der Anteil der ungarischen Minderheit überall unter 30 %. 2009 wurde (unter dem sozialistischen Regierungschef Fico) der Gebrauch der ungarischen Sprache in offiziellen Einrichtungen außerhalb der „Ungarn-Gebiete“ (Mindestanteil 20%) unter Strafe gestellt (100 – 5000 Euro).

Schließlich wurde sogar dem damaligen ungarischen Staatspräsidenten Sólyom die Einreise verweigert: Er wollte (am 21. August 2009, dem slowakischen Feiertag zur „Niederschlagung des Prager Frühlings“) als Privatmann an der Einweihung einer Statue des ungarischen Königs Stephan (in der – durch Trianon – geteilten Stadt Komarom / Komarno) teilnehmen. – Der damalige EU-Parlamentspräsident Buzek „wollte sich nicht in den Konflikt einmischen“ (Deutsche Welle)

Selbst Ceausescu konnte Freiheitswillen nicht brechen

Schlimm ist die Situation auch in Rumänien: In der geografischen Mitte Rumäniens leben 700.00 Ungarn-Szekler. Selbst Ceausescu konnte deren Freiheitswillen nicht brechen… – 2013 wollte die rumänische Regierung die historischen Ungarn-Szekler-Bezirke auflösen. Aus Protest dagegen forderten 100.000 Szekler mit einer 53 Kilometer langen Menschenkette territoriale Autonomie.

1990 gab es (kurz nach der 89er-Wende) pogrom-artige Ausschreitungen in der Stadt Targu Mures / Marosvásárhely, „offenbar provoziert durch Stasi-Akteure.“ (Die Welt) Danach verließen 15.000 Ungarn die Region (ein Rückgang von 10%) und wurden die verbliebenen zu einer Minderheit (1992: 51,6 % — bis 2002: 49,0 %) – Trotz Verbesserungen seither (ungarisch-sprachige Bildungseinrichtungen) sind aber 90 % der Exekutivorgane weiterhin mit Rumänen besetzt (bei mehr als 70 % ungarischer Bevölkerung). (Die Welt – ebda)

Und trotzdem: Wer für diese Minderheitenrechte eintritt, wird als heilloser Nationalist diskreditiert: „Orbán spielt mit diesem historischen Schlüsselereignis. Auf seine Initiative hin erklärte das Parlament bereits 2010 den 4. Juni zum ’Tag des nationalen Zusammenhalts.“ (Spiegel, ebda)

Der Beitrag erschien zuerst bei „Unser Mitteleuropa“.

Elmar Forster
Elmar Forster
Dr. Elmar Forster studierte in Innsbruck und West-Berlin Germanistik und Geschichte. Er erlebte in Berlin den Fall der Mauer mit. Seit 1992 arbeitet(e) er als Auslandslektor in Ungarn, Prag, Bratislava (Poszony) und bereiste die Länder des ehemaligen „Ostblocks“. Seit 1992 lebt er als Auslandsösterreicher in Ungarn.

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