Dienstag, 5. November 2024

Corona-Debatte: Der Tod durch Krankheit ist Teil der Lebenswirklichkeit, kein Argument für Grundrechtsentzug!

(Heinrich Mattei*) Möglicherweise haben Sie in den letzten Monaten in einem Gespräch schon mal den Wert der Freiheit des Einzelnen betont und seine Grundrechte gegen die landläufigen Corona-Maßnahmen verteidigt. Und vielleicht wurde ihnen dann entgegengehalten „Ja, willst Du denn die Leute in den Krankenhäusern sterben lassen?“ Nach über einem Jahr Corona und all seinen Lockdown-Einschränkungen bin ich nun so weit zu sagen: „Ja, ich will sie sterben lassen.“

Das ist bewusst provokativ formuliert. Natürlich trete auch ich dafür ein, dass an Covid-19 erkrankten Menschen im Rahmen des Möglichen in den Krankenhäusern geholfen werden muss.

Es braucht eine neue Güterabwägung

Doch rechtfertigt das immer wieder vorgebrachte Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems alle massiven Grundrechtseinschränkungen, die wir zurzeit erleben? Das ist die Kernfrage. An erster Stelle nenne ich die allgemeine Handlungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Berufsfreiheit.

Ist es richtig, zur Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems – eigentlich zur Vermeidung einer Überlastung der Kliniken- so viele kleine Selbstständige Existenzen von Geschäftsinhabern, Pensionswirten, kleinen Hoteliers usw. zu ruinieren? Ist es angemessen, dafür abertausende Bildungslebensläufe von Kindern insbesondere aus sozial schwachen und häufig bildungsfernen Elternhäusern, insbesondere Migranten, zu gefährden? Gerade diese Kinder leben oft zusammen mit mehreren Geschwistern auf beengtem Raum und verfügen zudem nicht über die technische Ausstattung, um gewinnbringend am Fernunterricht teilzunehmen. Ihre Eltern vermögen den Ausfall der Lehrer nicht zu kompensieren. Von Chancengleichheit kann überhaupt keine Rede mehr sein. Ist es das wert?

Die Lebenswirklichkeit „Tod“ wird verdrängt

Wir haben in unseren westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten den Tod und das Sterben zunehmend an den Rand gedrängt. Wir wissen, dass wir alle sterben müssen, möchten damit aber so wenig wie möglich konfrontiert werden. Und so reden wir gemeinhin von „Leben retten“, wo es doch eigentlich heißen müsste „Lebensjahre retten“. Letztlich kann keinem Menschen auf dieser Welt wirklich das Leben gerettet werden. Es können ihm nur Lebensjahre erhalten werden. Je nach Alter des Menschen können dies 90 Jahre oder auch nur ein Jahr sein.

Bislang ist uns in Deutschland die immer wieder beschworene Überlastung der Krankenhäuser erspart geblieben. Ärzte mussten nicht entscheiden, wer die lebensrettende Behandlung bekommt und wer nicht. Das ist ohne jeden Zweifel ein Erfolg. Gestorben sind viele Menschen aber dennoch. Die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems hat das Sterben von Menschen an Covid-19 nicht verhindert, sondern nur verringert. Wäre es zu einer Überlastung der Hospitäler gekommen, so hätten wir mehr Covid19-Verstorbene gehabt, zweifellos.

Überlastungsargument bleibt ein theoretisches Konstrukt

Aber niemand weiß mit Sicherheit, ob und wenn in welchem Umfang wir es welchen konkreten Lockdown-Maßnahmen verdanken, dass es dazu nicht gekommen ist.

  • Wäre es zu einer Überlastung unserer Krankenhäuser gekommen, wenn die Kinder und Jugendlichen – unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln – weiter zur Schule gegangen wären? Man mag das vermuten oder für wahrscheinlich halten. Wissen tut man es nicht.
  • Wäre es zu einer Überlastung unserer Krankenhäuser gekommen, wenn Einzelhändler, Gastronomen und Hoteliers unter Beachtung von Hygiene- und Abstandsregeln ihre Unternehmen hätten offenhalten dürfen? Auch dies mag man vermuten oder für wahrscheinlich halten. Sicheres Wissen dazu gibt es ebenfalls nicht.
  • Das Gleiche gilt für Kultureinrichtungen wie Theater und Kinos. Ist es so sicher, dass man sie nicht einmal für die Hälfte oder ein Viertel der gewöhnlichen Besucherzahl hätte offenhalten können unter Beachtung ausgereifter Hygienekonzepte im Übrigen, ohne dass es zu einer Überlastung der Krankenhäuser gekommen wäre?

Existenzen in Trümmer? So what?

Der Präsident des Handelsverbandes Sachsen äußerte in einem Interview mit der in Chemnitz erscheinenden Freien Presse (Ausgabe vom 17.04.2021), nur 20 % des Einzelhandels seien von den Maßnahmen betroffen. Von im Normalfall täglich bundesweit stattfindenden 50 Millionen Kundenkontakten im Einzelhandel würden nun zehn Millionen unterbunden. Vierzig Millionen fänden weiter statt, nämlich im Lebensmittelhandel, in Drogerien und in Baumärkten. Während große Lebensmittel-Discounter ihre Nonfood-Sortimente massiv aufrüsteten, bleibe der Schuhladen, der Schreibwarenladen oder das Bekleidungsgeschäft geschlossen.

Die Inhaber von Geschäften des Einzelhandels mit Artikeln, die nicht zum täglichen Bedarf gehören, werden also in den Ruin getrieben, um eine Reduzierung täglicher Kundenkontakte von fünfzig Millionen auf vierzig Millionen Kundenkontakte zu erreichen. Ob dies wirklich gelingt, ist zweifelhaft, denn in den geöffneten Bereichen des Einzelhandels werden sich nun vermutlich deutlich mehr Kundenkontakte ereignen als zuvor.

Womit haben diese Einzelhändler es eigentlich verdient, vor den Trümmern ihrer Existenzen zu stehen, obwohl fraglich ist, dass die Schließung ihrer Geschäfte irgendeine Auswirkung auf die Covid-19-Fallzahlen in den Normalstationen und Intensivstationen unserer Hospitäler hat?

Die Triage ist auch keine Lösung

Natürlich möchten Ärzte nicht über Leben und Tod entscheiden müssen. Und selbstverständlich möchten Politiker nicht mit Bildern in TV und Internet in Verbindung gebracht werden, die Menschen auf Krankenhausfluren zeigen, die nicht mehr angemessen versorgt werden können und dort sterben.

Aber ebenso möchten die Inhaber von Geschäften, Pensionen, Hotels Restaurants u. s. w. ihren Lebensunterhalt verdienen und nicht zu massiven finanziellen Opfern gezwungen werden, deren Nutzen zweifelhaft ist. Kinder möchten zur Schule gehen, ihre Freunde treffen und lernen. Zählt das alles nichts im Vergleich zur viel beschworenen Überlastung des Gesundheitssystems?

Das Grundgesetz interessiert nur am Rande

Unser Grundgesetz kennt das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es kennt aber auch Freiheitsgrundrechte. Artikel 2 lautet:

  • Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
  • Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Fällt Ihnen etwas auf? Die Väter des Grundgesetzes haben die freie Entfaltung an die erste Stelle gesetzt. Sie kommt textlich vor dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das bedeutet keine inhaltliche Vorrangigkeit des Rechts auf freie Entfaltung gegenüber dem Recht auf Leben. Aber jedenfalls ist das Recht auf freie Entfaltung gegenüber dem Recht auf Leben nicht per se untergeordnet.

Es gibt kein Super-Grundrecht, das alle anderen erledigt

Dies ist keine juristische Abhandlung. Möglicherweise sind die getroffenen Corona-Maßnahmen noch verfassungsgemäß. Eines sind sie aber ganz sicher nicht, nämlich verfassungsrechtlich  geboten. Unser Grundgesetz verlangt zum Schutz von Gesundheit und Leben vieler Menschen keine Eingriffe in Freiheitsgrundrechte, deren Nutzen zweifelhaft ist. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, keine Superansprüche an den Staat.

Der Staat muss menschliches Leben vor Angriffen schützen. Dies tut er mit den Mitteln des Strafrechts und des Polizeirechts. Das Grundrecht auf Leben ist aber kein individueller Anspruch an den Staat, alles erdenkbar Mögliche zum Erhalt des eigenen individuellen Lebens zu tun.

Völlig unbekannt ist unserem Grundgesetz ein etwaiges Supergrundrecht auf Nichtüberlastung des Gesundheitssystems, dem sich alles andere bedingungslos unterzuordnen hätte.

Offizielle Zahlen sind eindeutig – Abe nicht für die Regierung

Der Altersmedian der an Covid-19 Verstorbenen in Deutschland beträgt 82 Jahre. In vier von fünf Fällen (81 Prozent) verläuft Covid-19 mild bis mäßig, vor allem bei Kindern und Jüngeren, gesunden Erwachsenen. Diese Menschen verspüren keine oder nur geringe Symptome. Circa 14 Prozent der Covid-19-Erkrankungen verlaufen schwer. Etwa 5 % der Betroffenen erkranken so schwer, dass sie auf die Intensivstation kommen und künstlich beatmet werden müssen.

Die Fallsterblichkeit in Deutschland beträgt 2,81 %. Gerechnet ab Januar 2020 gab es zum 19. April 2021 in Deutschland insgesamt 3.167.137 Infektionen und 80.356 Todesfälle. Dies sind nur die bekannten Infektionen. Laut Aussage des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, liegt die Dunkelziffer, die sich aus Analysen zur sogenannten Untererfassung ergibt, bei einem Faktor von vier bis sechs. Demnach hätten wir es in Deutschland in Wahrheit mit 80.356 Todesfällen bei mindestens 12.668.548 Infektionen zu tun. Die wirkliche Todesfallrate betrüge demnach nicht 2,81, sondern nur 0,63 %!

Vieles bleibt Spekulation

Wir wissen nicht, wie viele oder wie wenige zusätzliche Infektionen und schwere Krankheitsverläufe es ohne die Schließung eines kleinen Teils des Einzelhandels, der Gastronomie und Hotellerie unter Beachtung aller gebotenen Hygieneregeln gegeben hätte. Und in der Tat ist es nicht einmal auszuschließen, dass es zu einer Überlastung der Krankenhäuser gekommen wäre, zu Todesfällen auf Krankenhausfluren infolge unzureichender medizinischer Versorgung. Das ist möglich.

Aber eines können wir doch ausschließen: Ein Massensterben hätte es allein aufgrund unterbliebener Schließung von Schuh- und Modegeschäften, Schreibwaren- und Geschenkartikelläden, Restaurants, Hotels und Cafés bei Beachtung aller angezeigter Hygieneregeln sicher nicht gegeben.

Ohne TV- und Internetberieselung kein harter Lockdown?

Zum Ende möchte zu einem Gedankenspiel einladen. Stellen Sie sich vor, es gäbe kein Fernsehen und kein Internet. Kein Politiker müsste befürchten, mit Bildern unterversorgter sterbender Covid-19-Patienten aus überlasteten Krankenhäusern konfrontiert zu werden. Glauben Sie, die Warnungen von Intensivmedizinern vor einer Überlastung würden in gleicher Weise politisches Gehör finden? Ich wage zu behaupten NEIN.

Politiker würden den Medizinern in diesem Falle antworten, nicht allein zur Vermeidung von eventuellen geringfügigen Krankenhausüberlastungen das öffentliche Leben lahmlegen und Tausende Existenzen ruinieren zu können.

Was wir erleben, ist eine Politik aus Furcht vor der Macht der Bilder. Überfüllte Krankenhäuser mit unterversorgten Patienten auf den Fluren würden allabendlich in Millionen von deutschen Wohnzimmern landen. Der Tod von mittelständischen Einzelhandelsgeschäften findet dagegen leise statt. Es ist an der Zeit, diese Politik endlich zu beenden.

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*Ich heiße nicht Heinrich Mattei. Aus beruflichen und sozialen Gründen wäre es jedoch unklug,  diesen Artikel unter meinem Klarnamen zu veröffentlichen. Dies gilt jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. In nicht ferner Zukunft kann das anders aussehen. Dann werden wir nach Überwindung der Covid-19-Krise viele grundsätzliche Diskussionen führen müssen.

Diese werden sich darum drehen, ob die Einschränkung von Grundrechten angemessen und richtig war. Diese Diskussionen werden umso mehr zu führen sein, als die wirtschaftlichen, psychischen und sozialen Schäden der Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 erst mit einer gewissen Verzögerung voll sichtbar sein werden. Dann wird die Frage lauten: War es das alles wert? Und die Antwort wird lauten: NEIN.

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