Sonntag, 22. Dezember 2024

Corona-Maßnahmen: Überbietungswettbewerb oder „Faktencheck“ ?

Der Kenntnisstand des interessierten Bürgers zur Corona-Krise ist inzwischen so gut, daß er mindestens die Plausibilität der Maßnahmen prüfen kann, die von der Politik angeordnet werden. Ein einfaches „weiter so“ wäre keinesfalls plausibel. Ein Gastbeitrag von Rainer Thesen

Seit dem 23. März dieses Jahres setzen die Regierungen von Bund und Ländern dem aggressiven Virus eine Strategie entgegen, die letztendlich auf Quarantänemaßnahmen hinausläuft. Durchbrochen wird das lediglich durch die Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen wie der Gesundheitsfürsorge, der öffentlichen Verwaltung, des Verkehrs und der Lebensmittelversorgung. Das alles jedoch möglichst unter Einhaltung eines Abstandes von wenigstens eineinhalb Metern von Mensch zu Mensch.

Dafür hat sich der Begriff des „Lockdown“ eingebürgert. Es ist eben nahezu in allen Lebensbereichen die Schließung verfügt. Unstrittig ist auch, daß die Politik dies nach bestem Wissen und Gewissen auf der Grundlage des Rates von Virologen und Epidemiologen tut. Und ebenso unstrittig ist, daß wir Bürger uns ausnahmslos daran halten. Das ist eigentlich selbstverständlich, denn Gesetze sind nun einmal einzuhalten.

Die Lage ändert sich, daran muß sich das Handeln ausrichten

Doch dabei kann es nicht bleiben. Unabhängig davon ist die Lage jederzeit zu prüfen und gegebenenfalls neu zu beurteilen. So wird kein Unternehmen einfach weiter planmäßig produzieren, wenn der Abverkauf drastisch zurückgeht. Es ist dann eben eine neue Lage eingetreten. Nichts anderes kann für die Maßnahmen zur Eindämmung oder gar zur Überwindung der aktuellen Coronakrise gelten.

Es leuchtet grundsätzlich ein, daß die geeignete Maßnahme gegen die Ausbreitung einer Infektionskrankheit die Unterbrechung der Infektionsketten ist. Das ist ja auch der Grundgedanke, der allen Quarantänemaßnahmen zu Grunde liegt. Diese Überlegung liegt ja auch der Empfehlung der führenden Virologen zugrunde, den Lockdown anzuordnen. Und die Ergebnisse sind bis jetzt auch durchaus ermutigend. Die Ansteckungsrate verlangsamt sich, insbesondere die sogenannte Reproduktionsrate. Konnte ursprünglich noch ein infizierter Mensch bis zu sechs andere anstecken, so ist das auf eins zu eins und darunter gesunken.

Fragen zu Ursache und Wirkung

Doch gerade in diesem Zusammenhang läßt die Meldung aufhorchen, daß nach den Feststellungen des Robert-Koch- Instituts eben diese Kurve bereits unter die eins zu eins Linie gesunken ist, bevor am 23.03.2020 die weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens in Kraft getreten ist. Diese Linie wird bereits am 20. März nach unten geschnitten und die Reproduktionsrate verharrt seither darunter, wenn sie auch in den letzten Tagen von 0,7 auf 0,9 gestiegen ist.

Sterben nun mehr Leute als zuvor?

Eine weitere Meldung läßt ebenfalls aufhorchen. So ist der Hessenschau vom 21.04.2020 zu entnehmen, daß die Corona-Pandemie in Hessen bislang nicht zu einer höheren Gesamt-Sterberate geführt hat. Im Gegenteil: die Zahl der Verstorbenen war zuletzt etwas niedriger als im langjährigen Durchschnitt. Corona macht sich nach dem Sprecher des hessischen Landesprüfungs- und Untersuchungsamts im Gesundheitswesen in der Sterbekurve bisher gar nicht bemerkbar, auch nicht in den höheren Altersgruppen.

Verbreitung der Infektionen mit und ohne Lockdown

Geradezu verblüffend aber ist das Ergebnis einer Untersuchung des israelischen Professors Isaac Ben Israel, die am 16.04.2020 veröffentlicht worden ist. Der Wissenschaftler hat die Verlaufskurven weltweit überprüft, und sowohl für die gesamte Welt als auch für einzelne Länder dargestellt. Er untersuchte die Zahl der neuen Infektionen, die Verdoppelungsrate und die tägliche Zunahme von Infektionen im Verhältnis zur Gesamtzahl. Auf dieser Grundlage fragt er, ob sich das Corona Virus seit seinem Auftreten weiter exponentiell ausgebreitet hat.

Die Antwort lautet: „Nach sorgfältiger Überlegung ist die Antwort einfach negativ. Die Ausbreitung des Virus beginnt natürlich mit einer exponentiellen Steigerungsrate, setzt sich dann moderat fort und läßt dann nach etwa acht Wochen schließlich nach.“ Und weiter: „Es stellt sich heraus, daß ein einfaches Muster – rapide Zunahme der Infektionen, die einen Gipfel in der sechsten Woche erreicht und dann ab der achten Woche abflacht – allen Ländern gemeinsam ist, in denen diese Krankheit entdeckt worden ist, unabhängig von ihren Bekämpfungsstrategien. Einige verfügten einen strengen und sofortigen Lockdown, der nicht nur den sogenannten sozialen Abstand und die Vermeidung von Menschenansammlungen beinhaltete, sondern auch den Stillstand der Wirtschaft (wie Israel); andere „ignorierten“ die Infektion und ließen zumeist das normale Leben weiterlaufen (solche wie Taiwan, Korea oder Schweden), und manche griffen eingangs zu einer milden Verfahrensweise, wandelten diese aber bald in einen vollständigen Lockdown um (so wie Italien oder der Staat New York).

Unabhängig davon geben die erhobenen Daten ähnliche Konstanten für all diese Länder hinsichtlich des zunächst schnellen Wachstums und des Rückgangs der Krankheit.“ Professor Ben-Israel zeigt dazu beeindruckende Kurven hinsichtlich des Verlaufs in den Staaten Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden, Großbritannien, USA und Israel. Über einen Zeitraum von ca. sieben Wochen fallen sie alle parallel von zwischen gut 30 und knapp 40 % der akkumulierten Zahl der Infektionen auf zwischen 2 und 7 % ab. Interessant dabei ist unter anderem, daß auch die Kurve für Schweden nicht wesentlich anders verläuft, als die für die anderen Staaten. Bekanntlich hat sich Schweden gegen einen Lockdown entschieden.

Aus den Verlaufskurven lernen

Natürlich, so Professor Ben Israel weiter, reduziert ein vollständiger Lockdown die Verbreitung des Virus. Dennoch, wie vorhin gezeigt, stellen wir einen ähnlichen Verlauf des Rückgangs der Infektion auch in den Ländern fest, die keinen vollständigen Lockdown durchgesetzt haben. Die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers geht dahin, daß angesichts der Evidenz des Rückganges der Erkrankungen auch ohne den vollständigen Lockdown die seitherige Verfahrensweise aufgegeben und der Lockdown rückgängig gemacht werden sollte. Gleichzeitig wird dazu geraten, mit Maßnahmen fortzufahren, die geringe Kosten verursachen, wie etwa das Tragen von Schutzmasken, die Ausweitung der Tests für bestimmte Bevölkerungsgruppen und das Verbot von Massenansammlungen.

Stirbt man an oder mit Corona?

Zu den wesentlichen Gesichtspunkten, die das Ausmaß einer Seuchenbekämpfung oder der Unterbindung von Infektionen bestimmen, gehört natürlich auch, wie tödlich der Krankheitsverlauf tatsächlich ist. In den vergangenen Wochen haben wir gerade aus Ländern wie Italien, Spanien und den USA erschreckend hohe Todeszahlen gehört. Allerdings waren diese Zahlen bisher nicht auf der Grundlage von Obduktionsergebnissen zu Stande gekommen. Nun hat der Hamburger Pathologe Professor Klaus Püschel 100 Tote obduziert, die als Patienten in die Kliniken eingeliefert worden waren, weil sie mit dem Virus infiziert waren und schwere Krankheitsverläufe aufwiesen.

Professor Püschel stellte fest, daß sie samt und sonders an teils erheblichen, häufig multiplen, Vorerkrankungen litten und im Durchschnitt über 80 Jahre alt waren. Natürlich ist auch jeder dieser Toten zu beklagen. Und natürlich muß auch alten und vielfach kranken Menschen jegliche medizinische Hilfe zuteil werden. Allerdings fragt man sich auch, ob solche Patienten nicht auch dann keine Überlebenschance mehr haben, wenn sie statt mit dem Corona Virus mit einem anderen Influenza Virus infiziert werden, oder zu den vorhandenen Vorerkrankungen eine sonstige weitere Krankheit kommt.

Erst mal was tun ist natürlich richtig

Das Problem zu Beginn der Coronakrise war, daß eine neuartige Infektionskrankheit sich rasch ausbreitete, gegen die es weder einen Impfstoff, noch ursächlich wirkende Medikamente gab. Die naheliegendste Strategie zur Eindämmung, wenn nicht gar nachhaltigen Bekämpfung der Krankheit war natürlich die Unterbrechung der Infektionsketten. Schon die Pest um die Wende vom 15. und 16. Jahrhundert konnte letztendlich durch strengste Quarantänemaßnahmen letztendlich zum Verschwinden gebracht werden.

Und deswegen war es richtig, alle erfolgversprechenden Maßnahmen erst einmal zu ergreifen. Dies gilt umso mehr, als es die vornehmste Pflicht, ja die Daseinsberechtigung des Staates überhaupt ist, Leben und Gesundheit seiner Bürger zu schützen.

Hinzulernen ist unumgänglich

Jedoch gilt in allen Lebenslagen dann, wenn es darum geht etwas zu bewirken oder etwas zu verhindern der Grundsatz, daß stets und fortlaufend geprüft werden muß, welche Maßnahmen sinnvoll und zielführend sind, und welche neuen oder anderen Maßnahmen hinzutreten oder gar an die Stelle derjenigen treten müssen, die sich als nicht zweckmäßig oder gar unnütz erwiesen haben.

Dies gilt ganz besonders dann, wenn, um hier ein naheliegendes Bild zu benutzen, die verabreichte Medizin schwere Nebenwirkungen hat. Das ist ja der Fall. Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise werden erheblich sein. Die unglaublichen Summen, die aufgewandt werden müssen, Unternehmen und Bürger über die finanziellen Folgen des Lockdown hinüber zu retten – es geht zunächst einmal bereits um Hunderte von Milliarden Euro – müssen ja letztendlich von allen Bürgern bezahlt werden, voraussichtlich vorwiegend von der Generation unserer Kinder.

Darüber besteht allseits Einvernehmen. Die Mittel zur Bekämpfung der Infektionskrankheit sind drastisch. Es werden eine Reihe von Grundrechten der Bürger eingeschränkt, teilweise nahezu suspendiert. Somit ist ganz offensichtlich eine besondere Sorgfalt geboten.

Der verfassungsjuristische Dreiklang; geeignet, erforderlich und verhältnismäßig

Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat. Alle Maßnahmen, die der Gesetzgeber und die Exekutive ergreifen, um der Infektionskrankheit die Stirn zu bieten, müssen den Anforderungen genügen, die nach unserer Verfassung auch in solchen Fällen gestellt werden müssen. Das gilt natürlich zunächst in formaler Hinsicht. Nur wenn Gefahr im Verzug ist, kann zunächst die Exekutive nahezu alles tun. Dann aber sind die Parlamente zuständig. Das scheint derzeit zumindest nicht eindeutig durchgehalten zu werden.

Jedenfalls gibt es einschlägige Warnungen von Verfassungsjuristen. Für die Einschränkung oder gar Suspendierung von Grundrechten gilt nach allgemeiner Meinung der Verfassungsjuristen, daß diese drei Kriterien genügen müssen. Die Maßnahmen müssen zunächst geeignet sein, das erstrebte Ziel zu erreichen. Das ist natürlich eine Frage, die nur auf der Basis des fachlichen Rats der Wissenschaftler, im vorliegenden Falle der Virologen und Epidemiologen, von Politikern und Juristen entschieden werden kann. Als junger Rechtsanwalt habe ich gelernt, daß die Arbeit des Juristen am Sachverhalt beginnt.

Nur wenn der Sachverhalt eindeutig feststeht, kann er einer rechtlichen Bewertung zu Grunde gelegt werden.

  1. Hier eben die Frage, ob eine bestimmte grundrechtsbeschränkende Maßnahme dazu geeignet ist, die Verbreitung der Infektionen zu unterbinden, zumindest aber nachhaltig einzudämmen.
  2. Die zweite Frage des Juristen  an den Sachverständigen geht dann dahin, ob die Maßnahme auch erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen, oder ob nicht eine weniger einschneidende Maßnahme das gleiche Ergebnis zeitigen kann. Auch das kann der Jurist bzw. Politiker nicht aus eigenem Wissen beantworten, sondern dazu benötigt er die fachliche Bewertung.
  3. Die dritte Frage bei der Prüfung, ob eine grundrechtsbeschränkende Maßnahme rechtlich zulässig ist, ist die nach der Verhältnismäßigkeit. Das ist eine genuin juristische Frage. Es sind die Vor- und Nachteile abzuwägen, insbesondere sind die betroffenen Rechtsgüter in den Blick zu nehmen. Entspricht es dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, eines überschaubaren Vorteils wegen die Grundrechte vieler Bürger zu suspendieren oder eine schwere Wirtschaftskrise mit der Folge sozialer Unruhen, gar der Gefährdung des bisherigen Standes der medizinischen Versorgung der Bevölkerung in Kauf zu nehmen? Sicherlich wird man als Politiker oder Jurist auch hier wissenschaftliche Beratung in Anspruch nehmen, etwa der Wirtschaftswissenschaften.

Ohne tägliches Update geht es nicht

Vor allem aber ist es unumgänglich, alle neuen Erkenntnisse, sei es über den Krankheitsverlauf, sei es über die Todesursachen, sei es über die epidemiologischen Auswirkungen von Maßnahmen, sei es über ihre wirtschaftlichen Auswirkungen, täglich zur Kenntnis zu nehmen, zu prüfen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Erkenntnisse, zu denen die oben erwähnten Wissenschaftler gekommen sind, müssen selbstverständlich auch von den Wissenschaftlern in ihre Überlegungen einbezogen werden, die derzeit die verantwortlichen Ratgeber der Politik sind.

Gegebenenfalls ist dieser Ratgeberkreis um weitere Wissenschaftler zu erweitern. Nur der handelt verantwortlich, der die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen täglich überprüft, und zwar ergebnisoffen. Die Politik sollte sich im übrigen auch darüber im klaren sein, daß die Dinge nun einmal öffentlich ablaufen. Jeder kann sich über den Verlauf der Krise auf den Internetseiten der einschlägigen wissenschaftlichen Institutionen wie des Robert-Koch-Instituts informieren. Die beteiligten Wissenschaftler legen ihre Erkenntnisse öffentlich dar. Inzwischen kennt nahezu jeder Bürger die Gesichter der führenden Virologen. Es kann auch jeder die Bedenken nachlesen, die von Verfassungsjuristen öffentlich geäußert werden.

Kurz und gut, es findet die demokratische Kontrolle statt, weil eben nicht geheim informiert, verhandelt und entschieden wird. Der Kenntnisstand des interessierten Bürgers ist jedenfalls so gut, daß er mindestens die Plausibilität der Maßnahmen prüfen kann, die von der Politik angeordnet werden. Ein einfaches „weiter so“ wäre aber keinesfalls plausibel.

Der Beitrag erschien zuerst auf SAPERE AUDE

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