An Frieden kann man sich so sehr gewöhnen, dass man ihn nicht mehr zu schätzen weiß. Auch vor allem deshalb kommt angesichts des „100-Jahre-Gedenkens“ an die Schlachtfelder von Verdun die Erinnerung daran zur rechten Zeit. Sie ist eine Mahnung, dass hundert Jahre im Bewusstsein manchmal nur wie ein Tag sind. Ein Gastbeitrag von Peter Helmes
Der verheerende I. Weltkrieg, der vor einhundert Jahren zu Ende ging, forderte in Europa mindestens 20 Millionen Menschenleben und führte zum Zusammenbruch mehrerer Imperien. Eine ganze Weltordnung lag in Trümmern.
Zu diesem Zeitpunkt trat auf der internationalen Bühne ein neuer Akteur auf: die USA. Der damalige Präsident Wilson setzte sich für mehr Multilateralismus ein, um ähnliche bewaffnete Konflikte künftig zu verhindern. Aber erst nach einem noch viel schlimmeren Blutvergießen im Zweiten Weltkrieg entstand eine neue internationale Weltordnung, die auf den Multilateralismus setzte – die NATO.
Dieses westliche Verteidigungsbündnis repräsentiert unsere universellen Werte. Zentraler Teil des gemeinsamen Wertekanons ist die Verantwortung für die Gemeinschaft und das wohlverstandene Eigeninteresse. Deshalb gehört es zur Wahrheit, bittere Eigenkritik auszusprechen: Allzu lange hat Deutschland nur den Schutz der NATO gesucht, dazu beigetragen haben wir aber beschämend wenig.
Paris unterschätzt grundsätzliche Unterschiede – Atommacht-Status als nationale Angelegenheit?
Zum Auftakt der Gedenkfeierlichkeiten in Paris hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron eine „echte europäische Armee“ gefordert, die „fähig sein müsse, Russland, China und ‚sogar den USA‘ entgegenzutreten“. Eine solche europäische Armee, womöglich befehligt von der EU-Kommission, ist jedoch illusorisch – und gefährlich. Macron hat bis heute auch nicht erklärt, was seine Idee bedeuten sollte.
Macron hatte betont, der Rückzug der USA aus dem INF-Abrüstungsvertrag mit Russland sei eine Gefahr für Europa. Ob sich daraus ableiten läßt, Europa müsse nun auch atomar aufrüsten, ist eine große, offene Frage, die wie ein Damoklesschwert über Europa hängt. Frankreich ist zwar Atommacht, hat sich aber bislang geweigert, diese Atommacht in multilaterale Zusammenhänge zu stellen.
Angst vor Russland, Angst vor Terrorismus oder was?
Die Debatte darüber, ob das französische Atomarsenal in europäische Pläne eingebunden werden solle, ist aber so unscharf und unklar, daß von einer Verwirklichung nicht einmal geträumt werden sollte.
Hinzu kommt etwas, das vielen westeuropäischen Politikern – auch unter Deutschlands Konservativen – aus dem Sinn geraten zu sein scheint: die verteidigungspolitische Landkarte.
Da gibt es nämlich ein „munteres Durcheinander“. Da gibt es die Länder mit Furcht vor Russland, andere wiederum haben mehr Angst vor Terrorismus und Gefahren. Etliche andere wissen sich nicht der Migrantenflut zu erwehren und konzentrieren ihre Politik auf die entsprechenden Regionen (Afrika, Vorderer Orient…), und so weiter, und so fort. Wo Macrons Frankreich in dieser Gemengelage steht, ist kaum festzumachen. Seine selbstgewählte Rolle als „everybody´s Darling“ trägt nicht weit – und nicht lange.
Durch den (möglichen) Brexit kommt ein weiteres Problem hinzu: Innerhalb Europas sind die Briten in verteidigungspolitischen Fragen die wichtigsten Partner: mit schlagkräftigen Streitkräften, einem klaren Bekenntnis zu westlichen Bündnis und dem Willen, dies auch zu verteidigen. Diese Kultur der Einsatzbereitschaft hatte früher einmal Frankreich und Großbritannien verbunden, heute ist davon nicht mehr viel übrig. Anders ausgedrückt: Die Briten sind ein unverzichtbarer Stützpfeiler der NATO.
„Macron wird uns nicht verteidigen“
Mit beißenden Worten erteilt die polnische Zeitung RZECZPOSPOLITA dem Traum Macrons eine deutliche Abfuhr. Unter der Überschrift „Pardon, aber Macron wird uns nicht verteidigen“ führt das Blatt aus:
„Seine Idee einer ‚echten‘ europäischen Armee ist anti-amerikanisch, und sie untergräbt die Nato.
Das eine wie das andere ist für Polen und andere Länder, die zu einem Leben in der Nähe Russlands verdammt sind, nicht akzeptabel. Zudem stützt der Vorschlag sich auf eine zweifelhafte Prämisse – und zwar auf die, dass die USA eine potenzielle Bedrohung für die EU darstellten. Selbst wenn man aus den Worten des derzeitigen US-Präsidenten eine derartige Schlussfolgerung ziehen könnte – Trump wird aus dem Weißen Haus ausgezogen sein, bevor es eine wie auch immer geartete europäische Armee gibt.
Macron, der in letzter Zeit eindeutig zu viel redet, findet nicht einmal mehr in Deutschland Verständnis. Auch die Bundeswehr lehnt seine Verteidigungspläne ab, weil sie nur Frankreichs Interessen dienen.
Mit Macrons Europa-Armee müsste Osteuropa um seine Sicherheit bangen und wäre noch abhängiger von den USA.“
Zugegeben, US-Präsident Trump hat die Idee Macrons so vehement abgelehnt, weil er ein Zusammenrücken der Europäer mit Russland fürchtet. Der russische Präsident Putin unterstützt den Vorschlag Macrons – ein nicht ganz uneigennütziger Gedanke; denn er gehört zu dem Machtspiel des Kremlherrn. Putin wird nichts, aber auch gar nichts dagegen unternehmen, daß sich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiter abkühlt. Wobei Trump zu dieser Entfremdung kräftig beiträgt. Mit seiner Kritik an einer europäischen Armee steht er allerdings nicht allein da. Diesen Standpunkt haben die USA schon vor ihm eingenommen
Ich sag´s auch gerne in Klartext. Wer Angst vor einem erstarkenden Russland hat, setzt auf die NATO und interessiert sich weniger für die französischen Prioritäten, die vor allem auf die Bekämpfung des Terrorismus in der Sahelzone und im Nahen Osten abzielt. Die kaum mögliche Orientierung in Europas Regierungsköpfen macht wiederum viele mittel- und osteuropäische Staaten – vorsichtig ausgedrückt – nervös.
Noch mehr Souveränitätsrechte abgeben? Nein, mehr Integration statt Europa-Armee nötig!
Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Zorn, sieht die Vorschläge für eine eigenständige europäische Armee daher skeptisch. Dies sei eine Vision, deren Umsetzung Jahrzehnte dauern könnte, sagte er im „Interview der Woche“ (gemeint ist die 45. Kw) des Deutschlandfunks. Voraussetzung für eine Europa-Armee wäre nämlich, daß die Staaten in erheblichem Umfang ihre Souveränitätsrechte abgäben. Zorn plädierte stattdessen dafür, die militärische Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten auf Basis der bestehenden Verträge fortzuführen. Das Miteinander funktioniere gut und sei heute schon Realität.
Stoltenberg ermutigt Europäer
Dem steht die Forderung des NATO-Generalsekretär Stoltenberg nicht entgegen, im Gegenteil: Er hat die Europäer zwar aufgefordert, Pläne für eine eigenständigere Verteidigungspolitik zu entwerfen. Dies müsse allerdings innerhalb des Nordatlantik-Paktes geschehen, sagte Stoltenberg im ARD-Fernsehen. Die Europäische Sicherheit hänge nach wie vor von den amerikanischen Sicherheitsgarantien ab. Wenn man etwas aus der Vergangenheit gelernt habe, dann, wie wichtig die transatlantische Einigkeit und Freundschaft sei.
Und da lugt auch der hellwache US-amerikanische Präsident Donald Trump um die geopolitische Ecke. Diesmal nahm er ganz offen Frankreichs Präsident Macron ins Visier. Dessen Vorschlag („sogar den USA“ – siehe oben) sei beleidigend für die USA, twitterte Trump. Die Europäer sollten doch bitte erst einmal ‚ihren fairen Anteil an der NATO zahlen‘. Trump hat recht!
„Wenn es eine funktionierende europäische Armee gibt, dann ist es die NATO. Dass sich die Europäer damit schwertun, einen angemessenen Beitrag an deren Finanzierung zu leisten, ist weitgehend unbestritten. Ihr Einfluss wird aber umso größer sein, je stärker sie sich für das Bündnis engagieren. Das ist zielführender, als den immer wieder gescheiterten Traum einer europäischen Armee zu träumen“,
…schreibt die NZZ dazu.
Daß die Amerikaner keine große Lust mehr verspüren, ständig die selbstsüchtigen Europäer militärisch zu füttern, liegt auf der Hand. Den Schutz der USA haben wir stets gerne genommen, eine angemessene Gegenleistung dazu haben wir aber nie erbracht. Angesichts der fast altersschwachen, müde gewordenen transatlantischen Beziehungen wäre es höchste Zeit, die eigene (deutsche) Rolle zu überdenken und zu fragen, warum wir immer noch so wenig tun, unsere unangemessen niedrigen Verteidigungsausgaben endlich hochzufahren.
Und natürlich geht es dabei nicht nur darum, die Amerikaner zu besänftigen und sie in Europa zu halten. Denn genau betrachtet ist es wenig wahrscheinlich, daß es bald eine wirklich übernationale und gleichzeitig effektive europäische Armee geben wird. Und wenn, dann schon gar nicht zum Nulltarif.
Die Visionen der Nebelwerferin Merkel
Die deutsche Bundeskanzlerin, in Sicherheitsfragen vermutlich eine ausgewiesene Expertin – da müßte ich aber was verschlafen haben – entwickelt ebenfalls ein träumerisches Szenario: Auch sie hat sich für die Idee einer europäischen Armee ausgesprochen. Die Zeiten, in denen sich Europa auf andere habe verlassen können, seien vorbei.
Die Mitgliedsstaaten sollten an dieser Vision arbeiten, sagte Merkel in dieser Woche im Europaparlament in Straßburg. Dabei gehe es nicht um eine Armee gegen die NATO, betonte die Bundeskanzlerin.
Merkels Visionen erinnern mich dann doch an einen ihrer Vorgänger, Helmut Schmidt, der weiland süffisant bemerkte: „Wer Visionen braucht, sollte zum Arzt!“
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