Donnerstag, 21. November 2024

Das Christentum als „Aberglaube“: Thilo Sarrazins antireligiöse Weltanschauung

Der Volkswirt Thilo Sarrazin setzt sich in seinem Buch „Feindliche Übernahme“ mit islambezogenen Herausforderungen für Europa auseinander. Dabei betont er, dass sein Ziel nicht die Bewahrung, sondern die weitere Auflösung des christlichen Erbes Europas sei.

Er lehnt alle Religionen als Ausdruck von „Aberglaube“ ab und vertritt eine radikale materialistische Weltanschauung, die volkswirtschaftlichen Erfolg über alles andere stellt. Auf kultureller Ebene treibt er dadurch das voran, was er in anderem Zusammenhang als die „Abschaffung Deutschlands“ kritisiert hatte.

Sarrazins vordergründige Abendland-Bezüge

Sarrazin erklärt, die „eigene Identität schützen und bewahren zu wollen“. Die von ihm kritisierten Strömungen im Islam würden das ablehnen, „was die europäische und abendländische Kultur ausmacht“. Er beruft sich auf die „Werte des Abendlands“2 und spricht von „unseren kulturellen Grundwerten“.

Sarrazin macht jedoch deutlich, dass er das abendländische Welt- und Menschenbild in weiten Teilen ablehnt. Er will nicht die christlich-abendländische Kultur Europas bewahren, sondern die „säkulare offene Gesellschaft“, die er im Gegensatz zur abendländischen Tradition definiert. Er denkt nicht abendländisch, sondern vertritt einen betont antireligiösen Liberalismus, der sich ebenso gegen die kulturellen Wurzeln Europas richtet wie der von ihm kritisierte Islamismus.

Das Christentum als „Aberglaube“

Sarrazin bezeichnete das Christentum im Rahmen einer Vorstellung seines Buches als „Aberglauben“, der keine geeignete Antwort auf einen anderen Aberglauben darstelle. Die Antwort auf islambezogene Herausforderungen könne laut Sarrazin nicht auf christlichen Ansätzen beruhen, sondern erfordere „mehr säkulare Aufklärung“:

Wissenschaftlich gesehen, ist jede Religion nichts als ein Aberglaube, der von vielen geteilt wird, und eine Weltreligion ist ein Aberglaube, der von besonders vielen Menschen über besonders lange Zeit geteilt wird.

Sarrazins materialistisches Weltbild

Sarrazin betrachtet gesellschaftliches Geschehen fast ausschließlich in materiellen Kategorien. Er spricht zwar positiv von einem „abendländischen Projekt“, das es zu bewahren gelte, erklärt aber zugleich, dass dieses für ihn primär aus „Marktwirtschaft und Leistungsorientierung“ bestehe.

Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Religionen stellt Sarrazin nicht, sondern bewertet diese danach, ob sie volkswirtschaftlich nützlich seien oder nicht. Eine Religion, deren Mitglieder in modernen Volkswirtschaften sozioökonomisch weniger erfolgreich sind, hält er dadurch bereits für hinreichend widerlegt. Sarrazin übersieht dabei, dass der individuelle Verzicht von Menschen auf potenzielle Wohlstandsgewinne zugunsten anderer Güter eine notwendige Voraussetzung eines dauerhaften Gemeinwesens, wie z.B. das Beispiel von Eltern zeigt, die zugunsten von Kindern wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen.
Die Annahme einer Verbindung zwischen Religion und Moral sei Sarrazin zufolge „besonders unsinnig und gefährlich“, da sich „die moralischen Gefühle“ im Zuge der Evolution als „Ergebnis des Prozesses der natürlichen Selektion“ entwickelt hätten und „genetisch vorgegeben“ seien.

Sarrazin weist hier die Grundlagen des abendländischen Menschenbildes, das den Menschen als Träger eines freien Willens betrachtet, dessen Handeln nicht primär biologisch determiniert ist, zugunsten eines biologistischen Materialismus zurück.

Fortschritt sei ihm zufolge identisch mit der schrittweisen Emanzipation der Gesellschaft von der Religion. Bildung ist für Sarrazin beschränkt auf volkswirtschaftlich verwertbare „Spracherziehung, Mathematik und Naturwissenschaften“. Die Integration von Migranten bemisst er ausschließlich an materiellen Kriterien wie „Bildungsleistung und Arbeitsmarktbeteiligung“.

Der totale Anspruch des Staates gegenüber der Religion

Sarrazin geht von einem totalen gesellschaftlichen Herrschafts- und Gestaltungsanspruch des Staates aus. Der „säkular-neutrale Staat“ habe „spätestens seit dem 18. Jahrhundert […] den Religionen überall dort Einhalt“ geboten, „wo ihr Treiben seinen Zielen und Werten widerspricht“, was er positiv bewertet. Eine mögliche Notwendigkeit, totale Ansprüche von Staaten zu begrenzen, erwähnt Sarrazin hingegen nicht. Die Werte, auf die sich Sarrazin dabei bezieht, sind die Erfordernisse ökonomischer Vernunft, die bei ihm an die Stelle religiöser Letztbegründungen treten und eine ersatzreligiöse Funktion einnehmen.

Sarrazin kritisiert außerdem, dass für Muslime „der islamische Glaube weitaus höher“ stehe „als jede politische Demokratie“ und islamisches Recht für sie im Zweifelsfall über weltlichem Recht stehe. Er geht auch hier von einem staatlichen Totalitätsanspruch aus, den das in der abendländischen Tradition der Naturrechtslehre stehende deutsche Grundgesetz bewusst nicht erhebt.

Sarrazin lehnt zudem wesentliche Aspekte der Religionsfreiheit ab. So betont er etwa, dass Religionsfreiheit auf das Umfeld religiöser Einrichtung und die private Wohnung zu beschränken sei. Da es im Wesen echter Religion liegt, dass sie alle Aspekte des Daseins des Menschen bestimmt, verbirgt sich hinter Sarrazins Definition von Religionsfreiheit letztlich die Forderung nach der Aufhebung dieser Freiheit.

Der säkulare Staat solle zudem eine „inhaltliche Bewertung von Religionen“ vornehmen und deren Aktivitäten entsprechend regulieren. Als zentrales Kriterium dafür betrachtet Sarrazin den volkswirtschaftlichen Nutzen, der von einer Religion ausgeht bzw. die Frage, ob eine Religion sozioökonomisch definierten Lebenserfolg fördere oder nicht.

Sarrazins schwarze Legenden

Der Historiker Julián Juderías schuf den Begriff der “schwarze Legenden” zur Bezeichnung der antikatholischen englischen Propaganda des 15. Jahrhunderts. Dabei ging es meist darum, die katholische Kirche, als rückständig, irrational, abergläubisch und verbrecherisch darzustellen. Diese Propaganda wurde später von radikalen Strömungen der Aufklärung aufgegriffen und auf das gesamte Christentum ausgeweitet. Später griffen totalitäre Bewegungen darauf zurück. Sarrazin knüpft in seinem Buch an solche historisch unhaltbaren Delegitimationsversuche an.

Religion neige grundsätzlich zur Gewalt, während atheistische Weltanschauungen friedfertig seien. Er zitiert Henryk M. Broder mit den Worten, dass man noch nicht von einem Atheisten gehört habe, der „mit einem Messer in der Hand und dem Ruf ‚es gibt keinen Gott‘ auf Menschen losgegangen ist“. Die Ansicht, „dass die Pflichterfüllung für Gott gegenüber allem anderen Priorität hat“, bringe Selbstmordattentäter hervor. „Die allergrößten Grausamkeiten“ seien im Namen von Religonen begangen worden. Die von totalitären, auf atheistisch-materialistische Ideologien gestützten Regimen im 20. Jahrhundert an Christen und anderen Menschen verübten Massenmorde blendet Sarrazin dabei ebenso aus wie den Widerstand jener Menschen, die Gott unter diesen Bedingungen mehr gehorchten als dem totalitären Staat.

Religion sei grundsätzlich irrational, da ihre Inhalte „mit den Mitteln des Geistes weder bewiesen noch widerlegt werden und so aus der Sicht des wahrhaft Gläubigen auch nicht kritisch hinterfragt werden“ könnten. Religion verlange „dass man [….] etwas für wahr halten soll, obwohl man seine Wahrheit nicht überprüfen kann und es keinen Beleg dafür gibt“. Das „Sichbeugen vor den Gesetzen der Logik und des wissenschaftlichen Denkens“ habe die positive Folge „dass Religion immer abstrakter, immer entfernter und folglich auch immer gleichgültiger wird“. Sarrazin zeichnet hier ein Zerrbild von Religion, das u.a. die zweitausendjährige christliche Tradition des systematischen Nachdenkens über religiöse Fragen, aus der u.a. die europäischen Universitäten sowie die an ihnen zunächst als Hilfswissenschaften der Theologie entwickelten sonstigen Wissenschaften hervorgingen, ausblendet.

Sarrazins Darstellungen der historischen Rolle des Christentums in Europa sind auch darüber hinaus weitestgehend unhaltbar. So behauptet er, dass erst die Aufklärung in Europa eine Trennung zwischen religiöser und politischer Hierarchie hervorgebracht habe. Tatsächlich hatte bereits der hl. Augustinus diese Trennung in der Spätantike theologisch ausführlich begründet.

Infragegestellt wurde diese Trennung dabei nicht von politischen Herrschaftsansprüchen der Kirche, sondern von den Machtansprüchen weltlicher Herrscher, welche die Kirche kontrollieren wollten. Im Hochmittelalter wurde die weitgehende Trennung zwischen politischer und kirchlicher Hierarchie jedoch auf den Druck der Kirche hin durchgesetzt. Sarrazin stellt diese Trennung durch seine Forderung nach staatlicher Kontrolle der Religion wieder in Frage, ohne sich dessen allerdings bewusst zu sein.

Er behauptet außerdem, dass es ein Beleg für den durch die Zurückdrängung des christlichen Glaubens durch die Aufklärung erzielten Fortschritts sei, dass europäische Staaten im 19. Jahrhundert die Sklaverei und den Sklavenhandel verboten hätten. Tatsächlich begann der Kampf gegen die Sklaverei im europäischen Kulturraum bereits im Mittelalter, wobei er sich ausdrücklich auf das christliche Menschenbild berief. Die treibende Kraft hinter der endgültigen Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert waren christliche Bewegungen.

Ansätze zur differenzierten Betrachtung des Christentums bei Sarrazin

Trotz seines antireligiösen Weltbildes und negativer Aussagen über das Christentum ist Sarrazin nicht direkt christenfeindlich eingestellt. Er hält das Christentum für eine vergleichsweise harmlose Religion, die aufgrund der Durchsetzung materialistischer Ideologien irrelevant geworden sei.

Sarrazin erklärt außerdem, dass die christliche Kultur, in der er aufgewachsen sei, ihm „kulturelle, aber nicht religiöse Heimat“ sei.

Sarrazin setzt nicht alle Religionen gleich, sondern nimmt Unterschiede zwischen ihnen zur Kenntnis. Islam und Christentum bewertet er wegen ihrer von ihm trotz allem anerkannten verschiedenen Beiträge zu modernen westlichen Gesellschaften entsprechend unterschiedlich.

Die Verwirklichung der Menschenrechte in einem Staat korreliere laut Sarrazin positiv mit dem Anteil der Christen an dessen Bevölkerung.

Er teilt zwar nicht das christliche Menschenbild im Allgemeinen, bejaht jedoch dessen Skepsis gegenüber dem Menschen, etwa wenn er betont, dass „menschliche Irrtümer, Bosheit und Unvernunft […] niemals an ihr Ende“ kämen. Vor diesem Hintergrund erklärt er, „Utopien jeder Art“ abzulehnen.

Sarrazin spricht zudem das Problem der islambezogenen Christenverfolgung ausführlich an.
Darüber hinaus thematisiert er in seinem Buch reale islambezogene Herausforderungen für Deutschland und Europa, die auch aus christlicher Sicht relevant sind. Seine Argumentation ist dabei dort, wo er sich auf die sozioökonomischen Fragestellungen konzentriert, die sein eigentliches Fachgebiet darstellen, überwiegend fundiert, wie auch der Politikwissenschaftler Johannes Kandel in einer ausführlichen Rezension des Buches betonte.

Sarrazins kulturelle und politische Antworten auf die von ihm angesprochenen Herausforderungen sind aus der Perspektive der Bewahrung des christlichen Europas betrachtet jedoch kaum weniger destruktiv als die Probleme, die er lösen will. (sw)

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Der Beitrag erschien zuerst auf der äußerst empfehlenswerten Internetpräsenz des Bundes Sankt Michael

PP-Redaktion
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