Donnerstag, 18. April 2024

Seehofer und Seenot – Mehr Getue als Getanes

„Ehre verdienen Sie in meinen Augen derzeit wahrhaftig nicht,“ schreibt die ausgediente Ministerin Renate Schmidt an Bundesinnenminister Horst Seehofer – mit dem strengen Getue einer viktorianischen Gouvernante und begründet das damit, dass der Minister „ein nicht vorhandenes Problem zur Existenzfrage der Groko und Europas hochstilisiert, mit Rücktritt gedroht und dennoch nichts erreicht und trotzdem keinen Anlass zum Rücktritt gesehen“ habe. Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden… werde“ (Amtseid für Mitglieder der Bundesregierung)

Renate Schmidt war einst Bundesministerin für Familie, Frauen und Jugend – also für lauter „Gedöns“, wie ihr damaliger Chef, Bundeskanzler Gerhard Schröder, abfällig meinte. Als „Gedöns“ bezeichnet der Duden „für den alltäglichen Gebrauch nicht unbedingt notwendige und deshalb als überflüssig erachtete Gegenstände“. Ich will hier nicht überlegen, inwieweit Schröder seine vier  geschiedenen Ehefrauen, aber auch andere Frauen in dem Sinne für überflüssig hält, sondern darauf hinweisen, daß „Gedöns“ – laut Duden – außerdem die Bedeutung von „Aufheben, Getue“ hat.

Damit komme ich zu dem „Aufheben“, das Renate Schmidt in ihrem offenen Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer macht: „Ehre verdienen Sie in meinen Augen derzeit wahrhaftig nicht,“ schreibt die ausgediente Ministerin mit dem strengen Getue einer viktorianischen Gouvernante und begründet das damit, daß der Minister „ein nicht vorhandenes Problem… zur Existenzfrage der Groko und Europas hochstilisiert…, mit Rücktritt gedroht und dennoch nichts erreicht… und trotzdem keinen Anlass zum Rücktritt gesehen“ habe.

Der Berg kreiste und gebar eine Maus, heißt es im Volksmund. Und der Horst kreischte, doch es kam nichts heraus, was annähernd den Forderungen entsprach, die der Minister mit kreischendem Getue von sich gegeben hatte.

Ja, wenn Seehofer konsequent gewesen wäre, hätte er das kümmerliche Ergebnis seines Kampfes mit der Kanzlerin sowie dem Koalitionspartner um Macht und Prestige zum Anlaß genommen, um zurückzutreten. Daß er es nicht tat, kann man (wie ich) belächeln oder (wie ich auch) bedauern. Für Frau Schmidt mag es eine Frage der Ehre sein; mich interessiert jedoch nicht Herrn Seehofers Ehre, sondern die Sache, für die er tätig sein wollte. Und um die ist es schlecht bestellt, wenn es beim Streit um Worte bleibt, am Ende nur „Transitzentren“ durch ein „Transitverfahren“ ersetzt werden, dem Getue kaum Taten folgen und sich an den Realitäten kaum etwas ändert.

Das Wirken von Politikern ist nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten zu messen. Das Irre ist, daß viele von ihnen ihre Worte für Taten ausgeben, sogar selbst daran glauben und insofern Opfer ihrer eigenen Propaganda sind.

Daß Worte Taten sind, glaubt anscheinend auch Frau Schmidt, die in ihrem Brief den wortgewaltigen, aber  recht untätigen Minister beschuldigt: „Ab sofort sind die bisher 1400 Toten im Mittelmeer auch Ihre Toten!“ Es mag sein, daß es im Laufe der Jahre so viele Tote gegeben hat. Seehofer ist allerdings erst wenige Monate im Amt. Hatte er vielleicht schon vorher – als bayrischer Ministerpräsident – auch nur einen einzigen von denen dazu angestiftet, ein kaum seetaugliches Schlauchboot zu besteigen, und dann die Rettung der Schiffbrüchigen verhindert?

War er vielleicht auch verantwortlich für den Tod des kleinen Jungen, dessen Leiche an einer Küste der Türkei gefunden wurde? Oder war es nicht dessen Vater, der mit seiner Familie aus dem Irak geflüchtet war, in der Türkei nicht bloß Schutz, sondern auch Arbeit gefunden hatte und dennoch seine schwimmunfähigen Kinder auf ein Schlauchboot zur Fahrt auf eine griechische Insel gesetzt hatte?

Ich habe das Bild dieses kleinen Jungen schmerzhaft in Erinnerung – ebenso schmerzhaft wie das Bild jenes kleinen Jungen, der tot auf einer Straße in Barcelona lag, nachdem er dort von einem wild gewordenen Moslemterroristen überfahren worden war.

Es ist ein alter Brauch, das „Böse“ nicht gerne im eigenen Spiegelbild, sondern lieber in Gestalt eines anderen zu sichten, mit großem Getue auf denjenigen zu zeigen und zu verkünden: „Du bist schuld!“

Horst Seehofer ist mit seiner CSU seit langem an Koalitionen auf Bundesebene beteiligt – zeitweise unmittelbar als Gesundheitsminister. Aber die SPD ist es auch – und mit ihr war es Renate Schmidt als Abgeordnete sowie als Ministerin für „Gedöns“. Was es an Gesetzes- sowie anderen Rechtsvorschriften in der Bundesrepublik gibt, haben die einen wie die anderen politisch zu verantworten. Das gilt ebenso für Regeln auf EU-Ebene, an denen Minister beider Parteien mitgewirkt haben.

Wenn es also Versäumnisse in der Flüchtlingspolitik einschließlich Bekämpfung von Fluchtursachen gegeben hat und weiter gibt, haben wir es nicht mit der individuellen Schuld eines bestimmten Ministers zu tun, sondern mit kollektiver Verantwortung der politischen Elite auf nationaler und europäischer Ebene, liebe Renate Schmidt.

Wenn Sie also mit dem Finger auf Horst, den „bösen Buben“, zeigen, sollten Sie bei all Ihrem Getue nicht übersehen, daß zugleich drei Finger auf Sie selbst zurückweisen, Frau Ministerin a.D.

Für die Einhaltung all der Vorschriften und sonstigen Regeln hat nicht nur, aber auch und vor allem der deutsche Innenminister zu sorgen und ist direkt für die Sicherheit auf den Straßen sowie an den Grenzen unseres Landes verantwortlich, aber nicht direkt für die Sicherheit im Mittelmeer und an den Küsten der Türkei, Griechenlands, Maltas oder Italiens.

Soweit es in der Hinsicht eine Verantwortung gibt, die über die eines Innenministers der genannten Anrainerstaaten hinausgeht, ist das eine Verantwortung, an der Politiker Ihrer Partei auf EU-Ebene beteiligt sind, Frau Schmidt. Falls Sie die Zusammenhänge nicht erkennen, fragen Sie Ihren Parteifreund und ehemaligen Kabinettskollegen Otto Schily. Der wird Ihnen das vermutlich besser erklären können als sein dilettierender Amtsnachfolger Horst Seehofer.

Alter schützt vor Torheit nicht, liebe Frau Schmidt. Jugend ist allerdings auch keine Garantie für Weisheit, wie Ihr junger Parteifreund Kevin Kühnert soeben vorgeführt hat. 

Dieser Jungsozialist findet, daß Seehofer „charakterlich“ nicht geeignet für das Amt des Innenministers sei. Das finde ich auch – aber aus anderen Gründen als Kühnert. Daß an seinem 69. Geburtstag exakt 69 Asylbewerber abgeschoben wurden, wäre kein Geschenk für ihn, scherzte Seehofer – nicht ahnend, daß einer von denen kurz darauf in Afghanistan Suizid begangen haben soll. Das ahnten auch nicht die politisch Verantwortlichen in den neun Bundesländern, die an der Abschiebung mitgewirkt hatten: Darunter fünf Länder mit sozialdemokratisch geführten Regierungen.

Liegt es an deren Mitwirkung, daß Sozialdemokraten wie Schmidt, Kühnert & Co. nicht  etwa das Getane kritisieren, sondern Seehofers Getue, das Renate Schmidt für einen „faden Scherz“ hält und Kevin Kühnert an der charakterlichen Eignung des Ministers zweifeln läßt?

Hinterher ist man klüger, wie auch der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt erfahren mußte. Der hatte sich im Berliner Wahlkampf 1975 über die Sorgen der CDU vor linksextremistischem Terrorismus lustig gemacht: „Herr Lorenz sitzt in seinem Haus und ängstigt sich.“

Schmidt konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, daß Peter Lorenz, damals Berliner CDU-Vorsitzender, wenige Tage später von Linksextremisten entführt wurde. War der Kanzler  – Kühnerts Logik entsprechend – charakterlich nicht geeignet für sein Amt und hätte zurücktreten sollen? Nein, es war vielleicht ein „fader Scherz“, den Schmidt sich geleistet hatte; aber er war nicht für die Entführung verantwortlich, sondern für die Schlußfolgerungen. Und dieser Verantwortung wurde er gerecht; denn „Schmidt Schnauze“ war nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch der Tat, wenn es darauf ankam!

Anders als heute hat es im Laufe der Jahre durchaus Politiker gegeben, welche die politische Verantwortung für Versäumnisse in ihrem Amtsbereich übernahmen und zurücktraten.

Ich denke beispielsweise an zwei Berliner Justizsenatoren, die zurücktraten, nachdem in der Amtszeit des einen wie bald darauf des anderen kriminelle Linksextremisten aus der Haft entflohen waren.

Bis heute hat es dagegen in keiner Landesverwaltung einen Politiker oder einen anderen Amtsträger gegeben, der die Verantwortung für die Versäumnisse im Zusammenhang mit dem Fall Amri, dem Massenmörder vom Berliner Weihnachtsmarkt, übernahm und zurücktrat, obwohl es gute Gründe gegeben hätte, den Burschen in Haft zu nehmen und dadurch den mörderischen Anschlag zu verhindern.

Stattdessen ist bisher lediglich mit viel Getue die Verantwortung für die verhängnisvollen Versäumnisse in diesem Fall zwischen diversen Amtsstuben länderübergreifend hin und her geschoben worden.

Es wäre schon viel getan, wenn ohne viel Getue wenigstens diejenigen aus dem Verkehr genommen und aus dem Land geschafft würden, die hier Verbrechen begangen haben.

Dabei denke ich nicht an den Haßprediger und ehemaligen Leibwächter von Osama Bin Laden, der kürzlich in sein Heimatland Tunesien abgeschoben wurde, bevor ein Gericht das im letzten Moment verhindern konnte. Es geht auch nicht nur um den oben genannten Afghanen, der hierzulande wegen diverser Delikte im Knast saß und sich nach seiner Abschiebung möglicherweise das Leben nahm, sondern auch und vor allem um Verbrecher, deren Taten verhindert worden wären, wenn man sie ohne viel Aufhebens abgeschoben hätte.

So gab es beispielsweise in Berlin neben dem Fall Amri den eines Türken, der wegen schwerer Körperverletzung im Knast saß und rechtskräftig abgeschoben werden sollte. Man fuhr ihn aber nach der Verbüßung seiner Strafe nicht etwa vom Knast direkt zum Flughafen, um ihn unverzüglich in die Türkei auszufliegen, sondern ließ ihn erst einmal laufen. Und es dauerte nicht lange, bis er in den Verdacht eines weiteren Verbrechens geriet, bei dem ein Mensch ermordet und die Mutter des Mordopfers so zugerichtet wurde, daß sie seitdem im Koma liegt. Der Verdächtige ist inzwischen mutmaßlich in der Türkei – aber nicht, weil er dorthin wie vorgesehen abgeschoben wurde, sondern weil er nach dem Raubmord flüchtete.

Skandalös ist nicht, daß abgelehnte Asylbewerber abgeschoben werden, auch wenn das im einen sowie anderen Fall bedauerlich ist, sondern es sind die lange Verfahrensdauer und die großen Vollzugsdefizite.

Abgelehnte Asylbewerber sowie nicht anerkannte Flüchtlinge, von denen es allein in Berlin 40 000 gibt, müßten eigentlich alle aus der Stadt und aus dem Land geschafft werden. Dafür zuständig ist in Berlin der Innensenator, der das aber nicht schafft und stattdessen fordert, das Problem müsse mit „beschleunigtem Asylverfahren, mit klaren Zuständigkeiten und zügigen Abläufen“ gelöst werden.

Dafür zu sorgen, wäre Geisels Aufgabe, der er jedoch ebenso wenig gerecht wird wie viele andere politisch Verantwortliche, deren Tatkraft sich im Händeln um Worte erschöpft, aber nicht im Handeln zum Wohle des deutschen Volkes, zur Mehrung des Nutzens und zur Abwendung von Schaden für das Volk.

Zum Autor des Gastbeitrags siehe hier.

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David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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