Russland Safari – Der große Fortsetzungsroman von Marko Wild – Bei Philosophia Perennis
IIII
Es piepte. Ich fuhr hoch. Hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein. Ein Blick auf meine Uhr: Es war Mitternacht. Sauhund! Gespielt gleichmütig fragte ich: „Sima, wie spät ist es?“
Stille. Vielleicht überlegte er, was er mir anbieten konnte.
„Kurz nach Eins“, kam es nach einer Weile von vorn. Ich stöhnte auf. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Eine einzige Stunde hatte er uns, bzw. mir, gegönnt. Und vor uns lag diese lange Strecke. Warte nur, mein Freund, dachte ich. Ich komme schon noch darauf zurück.
Hinter den Wiesen, über den schwarz-gezackten Wipfeln der fernen Bäume stand niedrig der Mond und funkelte wie ein rundgeschliffener Diamant auf dunklem Tuch. Fast blendete er die Augen. Vor uns die Lichtkegel, die der Bus auf die gleichmäßig unter uns durchrauschende M51 warf. Alles war ganz friedlich.
Wir hörten Radio. Als sollte die nächtliche Szenerie vervollkommnet werden kam ein Lied, das mir außerordentlich gut gefiel. Ein perfekter, russischer Popsong. Ich bat Sima, mir den Refrain zu übersetzen, während ich die Akkordfolge herauszuhören versuchte. Sima schrieb mir ins Notizbuch:
medlenno, medlenno – doschd po twajim gubam
medlenno, medlenno – snowa loblju twoi wsgljad
(langsam, langsam – Regen über deinen Lippen)
(langsam, langsam – wieder fange ich deine Augen)
Zu Hause suchte ich nach diesem Lied und fand problemlos Text und Interpretin. Es stammte von der ukrainischen Sängerin Ani Lorak, die 2008 beim Eurovision Song Contest mit einem anderen Lied den zweiten Platz erreicht hatte. In Wirklichkeit hieß es in der ersten Refrain-Zeile nicht doschd (Regen), sondern drosch (Zittern, Frösteln, Schauer). Doch mir gefiel Regen und gefällt es bis heute. Ich interpretierte doschd als Tränen – das passte zu einem Liebeslied: Langsam sah sie die Tränen über seine Lippen laufen, langsam fing sie seinen Blick ein… Und noch ein Gutes hatte Simas „falsche“ Übersetzung: dank ihr konnte ich später auf sich zusammenziehende Wolken zeigen und „doschd“ sagen. Dann bekam ich ein Nicken, ein „da, doschd“ – und man wusste, dass man einander verstanden hatte. Hören Sie sich dieses Lied auf Youtube an und versuchen Sie sich vorzustellen, dass wir dazu bei dreiviertelvollem Mond nachts um zwei Uhr durch das sibirische Flachland fuhren. Das sind Momente, in denen man sich vorkommt wie in einem wahnsinnig guten Film. Man fühlt sich nahezu unbezwingbar, bombastisch, in einem vollkommenen Strom, als könne gar nichts schief, als müsse alles gut werden, als wäre man hier, jetzt, im besten aller möglichen Augenblicke…
Ich wollte den Refrain unbedingt versuchen. Nur einmal spielen, damit ich die Melodie nicht wieder vergäße. Ich stoppte den Bus, holte die Gitarre, setzte mich an den Straßenrand – und es klappte auf Anhieb. Dies waren Dinge außerhalb von Simas Vermögen und ich wusste, dass ihn das beeindrucken würde: er schwieg. Aber darum ging es mir nicht. Medlenno, ein wunderschönes Lied, das unsere Hinfahrt programmatisch beschrieb (langsam, jedenfalls nach Simas Vorstellung), war gespeichert. Vielen Dank, russisches Radio.
Sima bedeutete derartige Musik nichts. Er duldete sie, ignorierte sie aber meistens. Auf ging ihm das Herz bei Liedern, die er Schlager nannte. Nicht zu vergleichen mit unserer Schlagermusik à la Helene Fischer, sondern eher eine Mischung aus Reinhard Mey und sibirischem Tom Waits. Fröhlich- melancholische oder nachdenkliche Melodien, von Männern mit kratziger Stimme zur Gitarre gesungen. Männern, denen man die Härten des Lebens anhörte. Für Sima war das die wahre, russische Musik. Alles andere war westlicher Abklatsch.
Da Sima gerade gut in Form war, bat ich ihn, sich einige Sätze anzuhören, die ich mir von einer Ukrainerin zurechtformulieren lassen hatte. Ich stellte mich darin als Vertreter für Robotertechnik vor. Das Ganze wirkte allerdings recht umständlich, was ich auch ohne große Russischkenntnisse erriet. Ein Bekannter, der Roboter verkaufte, hatte mir ein wenig Infomaterial mitgegeben und gemeint, mit Russland würde er gerne ins Geschäft kommen. Wenn es mir gelänge, in Nowosibirsk einen Auftrag an Land zu ziehen, wäre die Hälfte der Provision mein.
Sima hörte sich die formulierten Sätze an, lachte dann und empörte sich. Kein Mensch würde so reden in Russland! Nicht im Geschäftsleben! Das sei ja furchtbar! Worum es denn eigentlich ginge? Ich antwortete, dass die Firma Spezialroboter baut. Sima sann ein wenig nach und legte mir dann zwei Sätze
vor. Beide in einfachem, klar verständlichem Russisch. Zunächst sollte ich fragen, ob im Unternehmen Interesse an Robotisierung bestünde. Und danach, dass ich Robotortechnik anbieten könne, für beides – konstrukze i konfiguraze. Sima war begeistert von seiner Formulierung konstrukze i konfiguraze.
„Konstrukze“, sagte er und verdrehte dabei die Augen, als hätte er gerade an einer 5-Sterne-Delikatesse aus Kaviar und Smetana genascht, „i konfiguraze!“ Er machte „hmm“ und küsste sich die Fingerspitzen. So, wie Sima tat, sah ich mich schon Roboter für mehrere zehntausend Euro verkaufen. Ich strich die alten Sätze, notierte mir die neuen ins Büchlein und blickte – mich bestens gerüstet fühlend – zufrieden und frohgemut meinem ersten Firmenbesuch entgegen…
V
Nach knapp drei Stunden erreichten wir Omsk. Es dämmerte bereits, doch die Sonne war noch nicht aufgegangen. Diesmal führte der kürzeste und der schnellste Weg durch die Stadt. Auch Sima war ihn schon gefahren. Im Westen kurz rein und im Süden gleich wieder raus. Wie schon schon in Ufa und bei der Umfahrung von Tscheljabinsk mussten wir uns Richtung Flughafen orientieren. Doch ich wollte wenigstens einmal den Irytsch in der Stadt überqueren, was bedeutete, dass wir uns zunächst ein bisschen weiter östlich halten mussten. Am Stadtrand tankten wir. Allerdings nur 30 Liter. Sima meinte, dieser Sprit sei möglicherweise minderwertig; es kämen später ganz sicher bessere Tankstellen.
In Omsk, 1.17 Millionen Einwohner, bot sich uns erneut das mittlerweile vertraute Bild russischer Millionenstädte. Eine eklektisch zusammengewürfelte Stadtarchitektur aus spiegelverglasten, diesmal zwischen ocker- und zimtfarben changierenden Konsumtempeln und Bankgebäuden neben fertigen oder erst als Rohbau vorhandenen Megawohnblocks, über die Baukräne ihre dürren Tentakel ausstreckten. Zwischen all dem Beton immer wieder geradezu niedlich anmutende, russisch-orthodoxe Kapellchen und Kirchen mit güldenen Zwiebeltürmchen. Und sogar ziegelbraune Blockhäuser aus der Zarenzeit mit Bäumen davor gab es noch an einigen Stellen. Zimt. Omsk war zimtfarben.
Sechs Spuren hatte die Brücke über den Irtysch. Über mehrere kilometer, an hunderten von Laternenmasten, die beide Fahrbahnen ausleuchteten, hing immer wieder ein und das selbe Plakat: POBJEDA, 70 LET, 1945-2015 (Sieg, 70 Jahre), dazu eine weiße Friedenstaube auf blauem Grund. Der Irtysch selbst aber beeindruckte mich weniger. Obwohl er breit war, obwohl Kutter auf ihm schaukelten oder mittelgroße Frachtschiffe fuhren, obwohl Fähren dem Beginn ihres unermüdlichen Betriebes entgegendösten und hinter seinen grünen
Ufern viel gebaut wurde, sah doch alles sehr nach Alltag und harter Arbeit aus. Nicht nach Bildband und Tourismus.
Als wir die Irytschbrücke überfahren hatten, dröhnte ein Flugzeug nur wenige Meter über uns und über die Stromleitungen hinweg; die Einflugschneise ging mitten durch die Stadt. Doch den Flughafen – unsere wichtigste Orientierungshilfe – fanden wir nicht. Er war ab einem bestimmten Punkt einfach nicht mehr ausgeschildert. Weshalb wir bald in einem Viertel festhingen, in dem die Straße immer enger wurde, die Häuschen immer niedriger, der Sand den Asphalt ersetzte und wir zunehmend begriffen, dass dies nicht der Weg zur Fernstraße M51 sein konnte. Also wieder zurück. Weit zurück, denn einfach irgendwo Wenden war wegen der durchgängigen Mittelplanken nicht möglich. Die Sonne kam heraus und ihr goldenes Licht wurde von den spiegelverglasten Fassaden hundertfach reflektiert. Ich machte Fotos. Der Morgenverkehr setzte mit voller Wucht ein, gerade, als wir den richtigen Weg endlich gefunden hatten. Jetzt aber schnell hinaus! Nach Omsk tankte ich noch einmal. Dann blieb nur noch eines zu tun: die letzten 650 Kilometer zu fahren. Immer dem Sonnenaufgang entgegen. Immer geradeaus. Bis Nowosibirsk. Das Finale unseres Marathon. Und so fühlte es sich auch an: es zog sich. Die Kilometer wurden viel zu langsam weniger. Wieder würde es heiß werden. Wir waren verschwitzt, erschöpft, hungrig und müde. Aber es ging weiter, immer weiter. Bald… bald. Nur noch ein paar Stunden. Zähne zusammen beißen und nicht schlapp machen.
Die M51 führte kaum noch durch Siedlungen. Das Land blieb unerschütterlich nichtssagend. Manchmal kreuzte eine andere Straße, dann gab es einen Kreisverkehr. Und Wegweiser. Nowosibirsk 548 Kilometer. Immer noch! Foto gemacht. Zu Beweiszwecken.
Sima stritt wieder mit mir. Er prangerte jeden Fehler an, den ich beim Fahren machte. Vermutlich war der eigentliche Grund dafür mein Tempo, das ihm zu niedrig war. Oder die Anstrengung trieb allmählich makabere Blüten. Ich meinte, er solle sich doch jetzt nicht mehr aufregen, wir wären ja wirklich bald da. Später musste ich etwas gesagt haben, was seiner Ansicht nach einer früheren Aussage widersprach. Er erinnerte mich daran, dass er nie etwas vergessen würde. „Meine Mutter sagt, ich habe Gedächtnis wie Kopierautomat. Und du hast gelogen. Du hast gestern anders gesagt.“ Bitte, nicht schon wieder. Meine Nerven! Alles, was in Simas Ohren auch nur ein wenig anders klang, musste auch anders gemeint gewesen sein. Sima neigte dazu, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, besonders wenn er schlechte Laune hatte oder gewinnen wollte. Lass uns doch einfach fahren, dachte ich. Aber Sima hörte nicht auf. Ich sagte: „Du lügst mich doch auch an!“ Ich wusste, Sima hasste es, ein Lügner genannt zu werden. Das war also ein probates Mittel, um seine Verteidigung zu durchbrechen.
„Ich? Wann ich habe gelogen?“
„Denkst du, ich habe dich heute morgen nach der Zeit gefragt, weil ich wissen
wollte wie spät es ist?“
Sima schwieg. Er wusste sofort, worauf ich anspielte.
„Ich habe gefragt, weil ich sehen wollte, ob du ehrlich zu mir bist. Ob du mir die Wahrheit sagt. Ich habe selber eine Uhr. Und du hast gelogen.“
Das saß. Sima schwieg. Doch dann sagte er: „Ja, ich wollte, dass wir schneller losfahren. Ich habe dir das nicht gesagt – ich nehme schon seit zwei Tagen Schmerztabletten. Hier…!“ – er holte eine kleine Verpackung aus der Türablage und zeigte sie mir – „ich kann nicht mehr sitzen. Meine Rücken. Wenn ich gewusst hätte, wir fahren sechs Tage, ich wäre geflogen. Keine Problem für mich. Keine Schmerzen. Nicht lange fahren. Nur wegen dir ich fahre, weil du nicht allein fahren wolltest.“
Sima kippte Eiswasser über mich. Ich hätte es mir denken müssen, dass tagelanges Sitzen ihn quälen würde. Bei seiner Körperfülle. Und dennoch . . . da er Schmerzmittel dabei hatte, musste er auch mit Schmerzen gerechnet haben. An mir allein konnte es nicht liegen.
Lange sprach keiner von uns ein Wort. Schweigend rauschten wir durch Westsibirien.
Neun Uhr. Noch 300 Kilometer. Um Zehn, noch 210 Kilometer. Und diese Hitze … „Sima, ich will nicht verschwitzt ankommen. Ich will mich noch irgendwo frisch machen und was essen.“
„Ja, ich auch. Kommt bald ein Rastplatz. Mit Kafe, vielleicht auch Dusch.“
„Okay.“
Kurz vor Elf, 130 Kilometer vor Nowosibirsk, dockten wir an. Ein Beton- und Kiesplatz in der sibirischen Birken-Wüste. Mit Tankstelle, Kantine und Service- Station. Die Sonne brannte gleißend hell. Wir aßen eine letzte gemeinsame Mahlzeit auf dieser Fahrt, doch Gemeinschaft kam nicht mehr auf. Sima war mit seinen Gedanken anderswo, wollte nicht mit mir herumsitzen. Er ging raus. Dass es bald vorbei sein würde, lag wie zum Greifen in der Luft. Ich suchte die Duschen. Kein Wasser. Ich zog mich bis auf die Unterhose aus und wusch mich an einem der Waschbecken neben den Klos. Kein angenehmer Geruch hier. Bis auf das letzte waren alle schlecht gespült und verdreckt. Augen zu und durch. Danach fühlte ich mich etwas sauberer. Aber der fehlende Schlaf drückte mir im Schädel.
Ich suchte Sima. Er unterhielt sich mit einem LKW-Fahrer, der einen Schlauch geflickt hatte und das am Boden liegende Rad eben mit dem Kompressor seines LKW aufpumpte. Beide standen im Schatten des Angängers. Ich tat, als schlendere ich ein wenig herum und versuchte dann, ganz unauffällig von Sima ein paar Fotos zu machen. Denn wie gesagt: er ließ sich nie fotografieren. Jedesmal, wenn ich die Kamera zückte, verschwand er. Natürlich war er auch jetzt wachsam wie ein Tier am Wasserloch. Er schien die Kamera selbst von hinten zu spüren und stellte sich seitlich, so dass er mich im Blick behalten konnte. Ich ging weiter, entfernte mich möglichst gleichgültig. Dann erwischte ich ihn. Er blickte zu mir. Ich tat, als würde ich etwas ganz
anderes fotografieren und hoffte, er würde keinen Verdacht schöpfen. Zuvor hatte ich ihn bereits einmal erwischt. Ich meine: Sima war der Mensch, mit dem ich eine Woche lang jede Stunde des Tages zusammen verbrachte. Und ich hatte nicht einmal ein Bild von ihm? Er erlaubte es einfach nicht! Was war das nur für ein Mensch. . . ?
Sima übernahm. Endspurt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er hatte Mühe, seine Wut nicht Eins zu Eins ins Gaspedal zu stemmen. Er fuhr schnell. Zu schnell, vor allem über die schlechten Stellen. Ich versuchte es zu ignorieren, schaute krampfhaft aus dem Fenster. Irgendwann hatte ich genug und sagte, von wegen er würde mein Auto besser behandeln als seines.
„Passt dir schon wieder nicht! Ich schon gewusst habe das!“, fauchte er.
Aber er fuhr weiter. Immerhin. Sonst hatte er mir ja gedroht, überhaupt nie wieder zu fahren. Doch besser wurde es nicht. Im Gegenteil. Sima raste. War bei 130, bei 140. Rumms – wieder einen harten Absatz mitgenommen.
„Wenn du nicht anständig fahren kannst, dann halte bitte bei der nächsten Möglichkeit an. Dann müssen wir eben wieder tauschen.“
Keine Antwort.
Eine Tankstelle kam.
„Bitte fahr dort raus.“
Sima stierte gerade aus und gab Gas. Die Tankstelle flogt vorbei.
Was passierte hier gerade? Drehte er jetzt durch? Mir wurde mulmig.
„Ich will, dass du bei der nächsten Tankstelle rausfährst und mir das Auto wieder gibst.„
„Lösche das Foto!“
Ah, daher wehte der Wind. Unglaublich!
„Nein, das werde ich nicht!“
Sima gab noch mehr Gas.
„Du gibst mir jetzt mein Auto!“
„Lösche erst das Foto!“
Oh, das war ernst. So kurz vor dem Ziel. Ich begann, fieberhaft nachzudenken.
Hat Sima ein Recht an seinem Bild? Ja, zumindest in Deutschland. Habe ich ein Recht auf ein Foto von ihm? Ein moralisches Recht?
Narmalerweis ja! Es war einfach nicht fair von ihm, mir jede fotografische Erinnerung an ihn zu verweigern. Kein Mensch würde das einem anderen antun. Stets machten zusammen Reisende Fotos von einander. Das war absolut normal! Nicht ich war der, der dem anderen etwas Unerhörtes zumutete. Schon auf der Autobahn nach Görlitz hatte Sima vor jeder Mautbrücke die Sonnenblende herunter geklappt, damit man von außen sein Gesicht nicht erkennen konnte. Und warum? Weil ich ihm erzählt hatte, die Kameras an den Mautbrücken wären durchaus in der Lage, nicht nur LKW zu fotografieren.
Dennoch: Im Augenblick war Sima in der stärkeren Position. Ich versuchte, zu handeln, damit nicht der Eindruck entstünde, er könne mich erpressen.
„Halt an, dann lösche ich das Foto.“
„Nein, erst löschen.“
So ein harter Hund. Ich überlegte nicht mehr lange, zeigte ihm das Foto und löschte es. Er sagte:
„Ich will sehen. Zeige mir andere Foto.“
Ich zappte zurück. Sima war von hinten zu sehen.
„Das auch löschen!“
„Jetzt mach aber mal halb lang! Man sieht überhaupt nicht, dass du das bist! Man erkennt ja gar nichts von dir.“
„Lösche es!“ Ich löschte es. „Gib mir Kamera! Ich will sehen, ob noch mehr Fotos sind.“ Ich zappte zwei Bilder zurück, behielt die Kamera aber in der Hand. „Hier, siehst du?! Keine Fotos von Sima.“
„Gib mir Kamera. Ich will selber sehen!“
Er wollte, während wir dahinrasten, mir die Kamera aus der Hand nehmen.
„Nein“, fuhr ich ihn an. „Das reicht jetzt! Du bist wohl nicht ganz sauber! Jeder normale Mensch lässt sich fotografieren. Was soll das? Was ist eigentlich los mit dir! Bist du bei der Mafia? Darf keiner dein Gesicht sehen? Denkst du, ich gehe her und zeige jedem dein Foto?“ Ich äffte, wer er sonst immer, einen kindischen Ton nach: „Oh, äh, schau mal hier, das ist der Sima, von der russischen Mafia, ja, damit gehe ich jetzt zur Polizei, damit mache ich eine Anzeige, huuuuuh …“
Ich übertrieb. Ich hoffte, genug zu übertreiben, um ihn von der Kamera abzulenken und ihm die Lächerlichkeit seines Beharrens vor Augen zu führen. Es funktionierte. Sima hielt an. Wir tauschten, ich fuhr weiter.
Um meinen Standpunkt zu untermauern, konnte ich es noch nicht gut sein lassen. Ich hielt eine ähnliche Philippika wie damals in den Waldaihöhen, als er partout nicht mit mir zusammen hatte essen wollen. Ich sagte ihm, ich empfände es als persönliche Beleidigung, dass er etwas vollkommen Narmales verweigere und mir nicht die Ehre erwies, diese gemeinsame Fahrt mit einem Bild von ihm festzuhalten – etwas, worüber sich jeder andere Mensch sogar freuen würde. Dass dies etwas sei, was mir eigentlich zustände, weil wir so viel gemeinsam erlebt hätten. Dass er mich damit quasi zu einer Lüge zwinge – wieder die Lüge; immer musste ich Sima mit der Lüge kommen – weil er auf keinem meiner Bilder existieren würde, obwohl er doch die ganze Zeit immer dabei gewesen sei. Sima verlangte mir alles ab. Ich redete auf ihn ein, fuhr an moralischen Geschützen auf, was ich konnte. Alles nur, um ihn von meiner Kamera abzulenken . . . von dem einen Bild, das ich ihm vorhin nicht gezeigt hatte. Wie ein Meisterdieb kämpfte ich um dieses eine letzte Bild von ihm. Und behielt es.
VI
12:40 Uhr. Der Bordcomputer zeigte 33.5 Grad. Nach 5914 gefahrenen Kilometern erreichten wir endlich – endlich, endlich! – die Außengrenzen der Stadt Nowosibirsk. Besonders großartig fühlte es sich nicht an. Ich hatte mir auf ein paar DIN-A4-Seiten vergrößerte Google-Maps-Ansichten ausgedruckt: eine Durchfahrtskarte, eine Umgebungskarte und eine vom Zentrum mit meiner ersten Zieladresse. Die Durchfahrtskarte genügte zur allergröbsten Orientierung. Auf der Höhe, in einem Kreisverkehr, fuhren wir von der Fernstraße ab und wählten eine schnurgerade Straße hinunter in die Stadt. Bald stellte sich heraus, dass diese Straße wohl unbedeutender war, als angenommen. Wir hielten und Sima fragte einen Jungen, der an einem Gartenzaun auf seinem BMX-Rad balancierte, wo es ins Zentrum ginge. Der Junge zeigte sich gewaltig beeindruckt, dass wir von Deutschland (Frankfurt war die einzige Stadt, die ihm etwas sagte) – dass wir aus der Nähe von Frankfurt bis hierher gefahren waren. Er erklärte uns den Weg. Es half aber nichts. Wir mussten noch einmal fragen. Sima rief eine Gruppe Männer aus an: „Muschiki!“ Ich wusste, was das bedeutete. Zu Anfang unserer Reise hatte Sima mir erklärt (nicht ohne seine Fingerspitzen zu küssen und von der Schönheit der Nowosibirskerinnen zu schwärmen, mit der die deutschen Frauen bei weitem nicht mithalten könnten), man solle Frauen nicht mit Schena (Frau) ansprechen, sondern viel besser mit Djewotschka (Mädchen). Auch Kellnerinnen riefe man so. Sogar ältere Frauen würden sich über ein freundliches Djewotschka freuen und es als liebgemeintes Kompliment auffassen. Schena war die (Ehe)Frau – Muschik der (Ehe)Mann. Muschiki hieß demnach Männer! So rief man sich hier also an. Ich speicherte es schnell ab. Die Muschiki riefen etwas zurück, man tauschte noch ein paar Gesten aus, dann war klar: wir waren richtig. Immer gerade aus. Die Straßen wurden wieder breiter. Wir kamen an einen Kreisverkehr. Vier Ausfahrten. Die Gegend schien etwas heruntergekommen zu sein. Irgendwie mussten wir über den Fluss, den Ob. Welche Ausfahrt würde uns zur einer Brücke bringen? Wir machten die Runde im Kreisverkehr ein zweites Mal und fuhren, um uns zu orientieren, sehr langsam. Suchend schauten wir umher. Am Kreisverkehr saß eine Gruppe zentralasiatisch aussehender Männer. Mit finsteren Gesichtern, in Trainingsanzügen und alten Schuhen. Bei genauerem Hinsehen waren vor allem sie es, die diesem Ort seinen Charakter verliehen. Als wir uns ihnen auf der zweiten Runde näherten, sprangen sie alle wie auf Kommando auf und kamen auf uns zugelaufen. Sima rief: „Fahr zu!“
Ich gab Gas und nahm die Ausfahrt, aus der die meisten Autos hinausfuhren.
„Was waren das für Leute?“
„Usbeken. Suchen schwarz Arbeit. Denken, wir haben Arbeit für sie.“
Heute Morgen noch hatte Sima laut darüber nachgedacht, ob er mir eventuell Geld anbieten sollte (natürlich nur das Spritgeld), damit ich ihn von Nowosibirsk bis Kemerowo (oder gar bis in seine Heimatstadt) fahre, 250 (beziehungsweise 400) Kilometer für eine Strecke. Nach unserem Streit hatten wir nicht mehr darüber gesprochen. Mir war jede Lust vergangen, diese Reise weiter in die Länge zu ziehen. Außerdem fühlte ich mich körperlich nicht wirklich dazu in der Lage. Wäre Sima mein bester Freund gewesen, hätte ich es vielleicht gemacht. Wobei selbst das ein großes Opfer gewesen wäre. Aber so? Was verpflichtete mich? Sima sah das offenbar ähnlich, denn er bat mich, ihn zum Busbahnhof zu bringen. Dort würden sich unsere Wege trennen. Wir fanden die Obbrücke. Sima erfragte den Busbahnhof. Er befand sich im Zentrum, an einer Hochstraßen-Spirale. Man konnte es angeblich gar nicht verfehlen.
Auf dem Weg dahin gerieten wir in einen dicken Ampelstau. Die Hitze setzte dem Auto zu. Im Stop-and-go-Modus ging es voran. Uns lief der Schweiß runter.
Die hohen Temperaturen hatten den Asphalt weich gemacht. Es gab tiefe, breite Längsrinnen. Ich wollte die Spur wechseln, um schneller voran zu kommen. Der Bus schaukelte bei der Querbewegung wie ein Kahn, der von einer rollenden Welle unterspült wurde. Es machte schwipp-schwapp, es machte Piep, bunte Lämpchen leuchteten auf – und der Motor war aus. Ich drehte den Zündschlüssel. Ein Relais machte deutlich vernehmbar klick … und nichts geschah. Noch einmal. Das selbe. In Nowosibirsk war gerade Rush-Hour. Langsam tastete sich der dichte Verkehr an uns vorbei. Oh Gott, bitte nein! Ich überlegte und schaltete erst mal de Warnblinker an.
„Sima, wir müssen den Bus von der Straße herunter bekommen.“
Drüben, am Fußsteig-Eck, gab es ein bisschen Fläche. Und einen Baum, der Schatten warf. Dorthin schoben wir den blinkenden, ohnmächtigen Bus.
„Ich muss Hilfe holen“, sagte ich. „Wir brauchen jemanden, der uns abschleppt und in die Werkstatt bringt. Ich mache das. Bis zum Busbahnhof ist es nicht mehr weit. Du kannst ruhig zu Fuß gehen und mich hier lassen.“
Schon hatte ich mein Rad heraus geholt und wollte losfahren. Da sagte Sima: „Bitte, Marko, tu mir einen Gefallen: Versuche noch einmal, ob Auto anspringt.“ Ich hörte auf ihn. Der Bus sprang an. Es waren Tonnen an Felsgestein, die von mir abfielen. „Ich mir schon gedacht habe“, sagte Sima, „zu heiß …“
Der Busbahnhof war im Prinipz nur ein großer Parkplatz mitten unter den Fahrbahnen eines mehrstöckigen Kreisverkehrs. Es war der größte Kreisverkehr der Stadt. Sima fragte einen Fahrer, wann der nächste Bus nach Kemerowo gehe. Ergebnis: erst in mehreren Stunden. Die letzte Fahrt hatten wir um eine halbe Stunde verpasst. Sima nahm es stoisch hin. Unter anderem diese Verbindung war ein Grund gewesen, weswegen er heute morgen so zeitig wie möglich hatte aufbrechen wollen. Wenn er doch mal ein Wort gesagt hätte…
Man schickte uns mit dem Auto vom Platz: nur für Linienbusse! Ein paar hundert Meter weiter fand ich in einer kleinen Nebenstraße eine Parkmöglichkeit. Sima äußerte eine letzte Bitte. Er wolle sich am Schalter des Busbahnhofes ein Ticket kaufen. Ich sollte so lange auf seinen Koffer aufpassen. „Und kann ich mein Kopfkissen und die Decke bei dir im Auto lassen? Und kleine Beutel? Du kannst wegwerfen oder machen, was du willst. Aber wenn ich bei meine Bekannten so ankomme, mit Kopfkissen unterm Arm und Decke – das ist peinlich.“
„Lass alles hier“, sagte ich.
Sima verschwand in einem der Gebäude an der Hauptstraße. Es war furchtbar heiß. Ich musste Wasser trinken. Ein Junge auf einem Skateboard fuhr vorbei. Das also war das Ende? Hatten wir es geschafft? Würde Sima mit mir wieder zurück fahren – in vier Wochen, wenn er seine Zähne gemacht bekommen und
auch ich alles erledigt hätte, was ich erledigen wollte? Wir hatten schon mehrfach darüber gesprochen. Es war stets die erste Option gewesen. Zumindest bis gestern. Momentan aber konnte aber weder Sima sich noch ich mir das vorstellen. Vermutlich würde er zurück fliegen. Vor mir lag wieder die große Unbekannte. Wie schon so oft. Sima kam zurück. Er hatte sein Ticket. Er nahm seinen Koffer, sein Handtäschen und wir schüttelten uns lange und fest die Hand. Ich sagte und meinte:
„Danke für alles!“
Sima lächelte. „Alles Gute. Ruf mich an, wenn du brauchst Hilfe. Wegen was wissen oder wegen Auto. Und wegen Rückfahrt: müssen wir später sprechen.“
Ich sagte nochmal Danke.
„Mach’s gut!“
„Du auch mach’s gut.“
Es war alles in Ordnung. Sima zog den Griff aus seinem Rollkoffer, machte kehrtum und ging, ohne noch einmal zu mir zurück zu blicken, die Straße hinunter zum Busbahnhof.
14:57 Uhr. Bei Kilometerstand 5955.8 parkte ich den Bus im Nobel-Viertel Nowosibirsks, nur wenige hundert Meter vom zentralen Lenindenkmal und der berühmten Oper entfernt, an einem schattigen Plätzchen in der ruhigen Uliza Uritzkowo vor einem einzelnen, braunen Blockhaus. Schräg gegenüber befand sich ein mit einer roten Markise überdachter Gemüsestand. Rundherum Gründerzeithäuser. In einem von ihnen musste mein erster Gastgeber wohnen. Schön war es hier. Ordentlich und urban. Mit Parkanlagen. Wie in der Leipziger Südvorstadt. Jetzt musste nur noch jemand zu Hause sein. Angekündigt hatte ich mich für heute oder morgen.
Nach längerer vergeblicher Suche auf der Flaniermeile, wo es nur Geschäfte, Kneipen und eine Apotheke gab, fand ich die Eingänge zu den Mietswohnungen: sie waren auf der Rückseite, im Innenhof. Neben dem Gemüsestand versperrte eine Schranke die Einfahrt in den Innenhof des Karrees. Jemand sah aus einem Fenster und beobachtete, wie ich die Klingeln absuchte. Ich rief ihm die Quartiernummer zu. Er zeigte auf einen der Eingänge. Ja, da stand der Name. Ich klingelte. Die Gegensprechanlage machte ein kratziges Geräusch, dann fragte jemand: „Da?“
Ich sagte: „Marko, is Germania.“ „Ah, Marko. Warte, ich komme runter.“