Exklusiv: Philosophia perennis im Gespräch mit dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus – A. R. Göhring hat mit ihm gesprochen.
Deutschland hat in der westlichen Welt eine der geringsten Abiturienten- und Studentenquoten. Seit den Nuller Jahren holen wir aber kräftig auf: Von durchschnittlich über 250.000 Erstsemestern in den 90ern beginnen nun über 500.000 junge Menschen nach der Schule ein Hoch- oder Fachhochschulstudium.
Zunächst klingt es gut, dass immer mehr Deutsche eine akademische Laufbahn anstreben, unser Land also immer klüger und gebildeter wird. Aber ist die Wirklichkeit auch so, wie es die Theorie vermuten lässt?
Herr Kraus,
Deutschland hat heute eine hochentwickelte Dienstleistungs- und hochspezialisierte leistungsfähige Industrie-Ökonomie. Ist es da nicht angezeigt, möglichst viele junge Menschen in den tertiären Bildungsweg zu schicken, um das technisch-intellektuelle Niveau halten zu können?
Josef Kraus: Wir stehen so gut da, obwohl (oder weil) wir lange Jahre auf eine künstlich nach oben geschraubte Pseudoakademisierung verzichtet haben. Vergessen wir bitte nicht, dass Deutschland, Österreich und die Schweiz niedrige Akademisierungsquoten, zugleich aber die besten Wirtschaftsdaten, die stabilsten Finanzen, die günstigen Wachstumsraten, die niedrigsten Quoten an Arbeitslosen und die niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen haben. Das haben wir nicht, weil wir gigantische Studierquoten hätten. Das haben wir unter anderem aufgrund des großen Standortvorteils „Qualified in Germany by berufliche Bildung made in Germany“
Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch*, dass es heutzutage mehr Studiengänge gibt als je zuvor. Ist diese bunte Vielfalt nicht gerade günstig für eine diversifizierte Wirtschaft mit vielen Spezialisierungsrichtungen? Oder sind einige Studiengänge weniger gut geeignet für die Aufrechterhaltung des Niveaus?
Josef Kraus: Es ist doch etwas schief, wenn wir in Deutschland 330 Berufsbildungsordnungen und rund 17.000 Studienordnungen haben. Und wenn mittlerweile mehr junge Leute ein Studium ergreifen als junge Leute, die eine berufliche Bildung anfangen. Lügen wir uns nicht in die Tasche: Diese Verschiebung ist ein maßgeblicher Grund für den eklatanten Fachkräftemangel, den wir haben, und dafür, dass viele Sozial- und Geisteswissenschaftler als formal Überqualifizierte unterqualifizierte Stellen annehmen müssen.
Seit Ende 2014 erleben wir Deutschen eine nie gekannte Immigrationswelle; etwa zwei Millionen Zuwanderer aus dem islamischen, afrikanischen und ost-südosteuropäischen Raum leben nun zusätzlich im Lande. Die meisten dieser Immigranten sind nach den Statistiken sehr gering gebildet. Können diese nicht Arbeitsstellen übernehmen, für die es durch die Akademisierung nicht mehr ausreichend einheimische Bewerber gibt?
Josef Kraus: Nein, auch hier lügen wir uns in die Tasche. Als die Wirtschaft im Herbst 2015 jubelte, mit der Flüchtlingswelle würde die Facharbeiterlücke geschlossen, hat sie wohl selbst nicht daran geglaubt. Denn noch Monate später hatten die 30 deutschen Dax-Unternehmen gerade einmal erst rund 50 junge Flüchtlinge eingestellt. Die allermeisten jungen Flüchtlinge brauchen sechs Jahre, bis sie auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar und einsetzbar sind: zwei Jahre Schulung in Sprache, Landeskunde, Rechtskunde, ein Jahr berufliche Orientierung und dann drei Jahre Berufsausbildung. Ganz zu schwiegen davon, dass die dann Qualifizierten viel dringender in ihren Herkunftsländern gebraucht würden. Deshalb wäre es besser, die Bundesregierung, die deutschen Länder und die deutsche Wirtschaft würden in die berufliche Bildung vor Ort, also in den Herkunftsländern der Flüchtlinge investieren. Wir sollten aufpassen, dass wir vor lauter Hoffnung auf die Schließung unserer Fachkräftelücke nicht dauerhaft Flüchtlinge an uns binden und auf diese Weise eine Art Kolonialismus 2.0 betreiben.
Besonders die regierenden Parteien in den Bundesländern sehen die Erhöhung des Studentenanteils in den jungen Bildungsgenerationen sehr positiv. Es wird auf die Leistung der Regierungen bei der sozialen Angleichung der Menschen verwiesen. Sind Sie mit dieser Sicht einverstanden?
Die Politik macht es sich sehr einfach. Sie sonnt sich in Quoten, ohne Rücksicht auf die Qualität des Abiturs und des Studiums. Das ist eigentlich plumpe populistische Politik: Sie kommt gut an, vor allem bei den vielen ehrgeizigen Eltern, die ihr Kind unbedingt zum Studium boxen wollen. Tatsächlich aber sind sehr viele formal höhere Zeugnisse ungedeckte Schecks. Zudem gilt: Qualität und Quote verhalten sich reziprok. Will sagen: Wenn ich die Quote nach oben schraube, geht das nur durch Absenkung der Ansprüche.
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Der Pädagoge und Psychologe Josef Kraus (*1949) leitete von 1995 bis 2015 ein Gymnasium in Bayern. Seit 1987 ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL). Er hat mehrere aufsehenerregende Bücher geschrieben: „Spaßpädagogik – Sackgassen deutscher Schulpolitik“ (1998), „Der PISA-Schwindel“ (2005), „Ist die Bildung noch zu retten? Eine Streitschrift“ (2009), den Bestseller „Helikoptereltern“ (2013) und soeben „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017).
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