Gerade bei honorigen Persönlichkeiten sind repressive Hausdurchsuchungen Vorzeichen für düstere Zeiten. So nachzulesen in Stefan Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“. Gastbeitrag von Frank Steinkron.
In Hitlers Schatten
Nach dem Ersten Weltkrieg war der österreichische Dichter Stefan Zweig vom geschäftigen Wien ins beschauliche Salzburg übergesiedelt. Doch die Idylle trog. Von seinem auf dem Kapuzinerberg gelegenen Haus reichte der Blick über die Grenze hinweg ins bayerische Berchtesgaden, wo Hitler seine Sommerresidenz hatte. Diese Nachbarschaft hielt Zweig nicht nur in symbolischer Hinsicht für bedrohlich. Schon früh hatten die Nationalsozialisten begonnen, Österreich mit ihren „NGOs“ zu infiltrieren. Nach 1933 gingen sie sogar dazu über, österreichische Beamte und Journalisten offen zu erpressen: Man werde sich später (also nach einem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich) sehr wohl erinnern, wer sich wie verhalten habe.
Im Bademantel aus dem Bett geklingelt
Angesichts dieses Drucks verfügte der Polizeipräsident von Salzburg 1934 eine Hausdurchsuchung bei dem „Juden“ und bekennenden Pazifisten Stefan Zweig: unter dem absurden Vorwand, dieser könne ein geheimes Waffenlager besitzen. Zweig, der ein sehr feines Gespür für kommende Entwicklungen hatte, nahm diesen Vorfall zum Anlass, umgehend nach England zu emigrieren. Hier in Auszügen seine Schilderung der Ereignisse:
Am nächsten Morgen, ich lag noch im Bett, klopfte es an die Tür; unser braver alter Diener, der mich sonst nie weckte, wenn ich nicht ausdrücklich eine Stunde bestimmt hatte, erschien mit bestürztem Gesicht. Ich möchte hinunterkommen, es seien Herren von der Polizei da und wünschten mich zu sprechen. Ich war etwas verwundert, nahm den Schlafrock und ging in das untere Stockwerk. Dort standen vier Polizisten in Zivil und eröffneten mir, sie hätten Auftrag, das Haus zu durchsuchen (…)
Die Welt vergisst schnell, was persönliches Recht und staatsbürgerliche Freiheit bedeuten.
… Nach einer halben Stunde erklärten sie die Untersuchung für beendet und verschwanden. Warum mich diese Farce damals so sehr erbitterte, bedarf leider bereits einer aufklärenden historischen Anmerkung. Denn in den letzten Jahrzehnten (Stand 1941; Anm. d. Verf.) hat Europa und die Welt beinahe schon vergessen, welch heilige Sache vordem persönliches Recht und staatsbürgerliche Freiheit gewesen. Seit 1933 sind Durchsuchungen, willkürliche Verhaftungen, Vermögenskonfiskationen, Austreibungen von Heim und Land, Deportationen und jede andere denkbare Form der Erniedrigung beinahe selbstverständliche Angelegenheiten geworden; ich kenne kaum einen meiner europäischen Freunde, der nicht derlei erfahren. Aber damals, zu Beginn von 1934, war eine Hausdurchsuchung in Österreich noch ein ungeheurer Affront. …
Hausdurchsuchung als Mittel der Einschüchterung
… So lag der Gedanke nahe, durch eine Haussuchung bei mir demonstrativ kundzutun, dass man vor niemandem mit solchen Sicherungsmaßnahmen zurückscheue. Ich aber spürte hinter dieser an sich unbeträchtlichen Episode, wie ernst die Sachlage in Österreich schon geworden war, wie übermächtig der Druck von Deutschland her. Mein Haus gefiel mir nicht mehr seit jenem amtlichen Besuch, und ein bestimmtes Gefühl sagte mir, dass solche Episoden nur schüchternes Vorspiel viel weiterreichender Eingriffe waren. …
Fremd geworden im eigenen Land
… Am selben Abend begann ich meine wichtigsten Papiere zu packen, entschlossen, nun immer im Ausland zu leben, und diese Loslösung bedeutete mehr als eine von Haus und Land, denn meine Familie hing an diesem Haus als ihrer Heimat, sie liebte das Land. Mir aber war persönliche Freiheit die wichtigste Sache auf Erden. Ohne irgend jemanden meiner Freunde und Bekannten von meiner Absicht zu verständigen, reiste ich zwei Tage später nach London zurück; mein erstes dort war, der Behörde in Salzburg die Mitteilung zu machen, dass ich meinen Wohnsitz definitiv aufgegeben hätte. Es war der erste Schritt, der mich von meiner Heimat loslöste. Aber ich wusste, seit jenen Tagen in Wien, dass Österreich verloren war – freilich ahnte ich noch nicht, wieviel ich damit verlor“.
Ein Fremder überall
Der Verlust, den Zweig rückblickend andeutet, bestand nicht nur darin, dass er mehrfach den Ort seines Exils wechseln musste und dabei schrittweise vom weltweit anerkannten Kosmopoliten zum schutzsuchenden Flüchtling und schließlich zum „feindlichen Ausländer“ (in England nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs) herabsank. Zunehmend litt er auch unter geistiger Isolation (bis auf die Schweiz durften seine Bücher im deutschsprachigen Raum nicht mehr gelesen werden). Hinzu kamen der Zusammenbruch der europäischen Kultur und Zivilisation, auf die sich sein ganzes Dasein gegründet hatte, und die brennende Sorge um Freunde und Verwandte, die in dem von den Nazis besetzten Europa zurückgeblieben waren.
Ein unerhörter Warner vor dem Krieg
Nicht zuletzt verbitterte Zweig die Tatsache, dass Brasilien, das letzte Land seiner Zuflucht, sich unter dem antisemitischen Präsidenten Getúlio Vargas gleichfalls in eine Diktatur zu wandeln begann und schließlich in den Krieg eintrat. Als er Anfang Februar 1942 den Karneval in Rio de Janeiro besuchte, war er entsetzt über die Sorglosigkeit der Menschen. Es war dieselbe leichtsinnige Realitätsverweigerung, die er im Juli 1914 in Wien und nach dem Münchner Abkommen 1938 in London erlebt hatte.
Flucht in den Freitod
Wäre Zweig Christ gewesen, hätte er in der Abfolge von Karneval, Fastenzeit, Karfreitag, Grabesruhe und Auferstehung vielleicht eine heilstiftende Gesetzmäßigkeit erkannt. Und auch als gläubiger Jude hätte er nach dem Vorbild Hiobs seinem Schicksal einen tieferen Sinn abringen können.
Indes war er areligiös, „Jude aus Zufall“, wie er selbst bekannte. Und so erschien ihm der Freitod – wie auch anderen Exilanten, etwa dem Philosophen Walter Benjamin oder dem Schriftsteller Paul Adler – als letzter Ausweg. Am 23. Februar schieden er und seine Frau Lotte Altmann gemeinsam aus dem Leben: in Petrópolis, einem bei Rio gelegenen, von deutschen Auswanderern im 19. Jahrhundert gegründeten Städtchen.
Die Tyrannei der Gutmenschen

Wie ausgeprägt Zweigs Gespür für die schleichende Etablierung einer Diktatur war, beweist auch seine 1936 verfasste Monographie „Castellio gegen Calvin Oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“. Sie schildert, wie schon im frühen 16. Jahrhundert Zensur, Spitzelwesen, Denunziantentum, Indoktrination, Wohnungsdurchsuchungen und die juristische Verfolgung Andersdenkender unter dem Banner der Hypermoral und der „richtigen Gesinnung“ alltäglich wurden. Schauplatz war Genf, wo der fundamentalistische Reformator Johannes Calvin seinen „Gottesstaat“ errichtete. Gegen diesen Tugendterror kämpfte der Basler Humanist Sebastian Castello erfolglos, aber doch heroisch. In ihm dürfte Zweig sich wiedererkannt haben.
Wäre Zweig auch heute ein unliebsamer Autor?
Mehr noch als die „Sternstunden der Menschheit“ sollte „Castellio gegen Calvin“ an Oberschulen Pflichtlektüre sein: als Warnung vor der schleichenden Etablierung totalitärer Strukturen. Doch wäre diese Lektüre heute überhaupt noch erwünscht?
1933 wurden die „Sternstunden“ und andere Werke Zweigs Opfer der Bücherverbrennung durch Berliner Studenten. „Castellio gegen Calvin“ konnte 1936, zwei Jahre vor dem „Anschluss“ Österreichs, noch in Wien publiziert werden.
Doch wer weiß, ob Stefan Zweig irgendwann nicht erneut aus deutschen Büchereien verbannt wird – wie dies mit anderen Autoren ja schon geschieht. Immerhin war er ein alter weißer Mann. Und Juden sind derzeit an Berliner Universitäten wenig gelitten, ebenso wenig wie Pazifisten in der Politik.
Wieder ein Hausbesuch durch die Polizei?
Davon abgesehen hätte sich Zweig seinerseits im heutigen Deutschland vermutlich eher unwohl gefühlt, wäre an der Sorglosigkeit und Blauäugigkeit der Zeitgenossen ähnlich verzweifelt wie damals, hätte sich erneut im eigenen Land fremd gefühlt.
Und vielleicht hätte er auch abermals von vier Polizeibeamten Besuch bekommen: diesmal sogar in Uniform und bewaffnet, verbunden mit dem Ratschlag, künftig vorsichtiger zu sein.
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