Sonntag, 22. Dezember 2024

Wie Berlin (West) mit der Teilung vor siebzig Jahren fertig wurde

Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg

2018/19 jährt sich zum siebzigsten Mal die Berliner Blockade und gibt Anlaß zum feierlichen Gedenken.  Im Herbst dieses Jahres ist es ebenfalls siebzig Jahre her, daß Berlin geteilt wurde. Das bleibt jedoch weitgehend unbemerkt, obgleich – oder gerade weil (?) –  als Folge der Teilung im Westen der Stadt aus dem Nichts eine neue Verwaltung aufgebaut wurde und dazu Anstrengungen erforderlich waren, zu denen Politik und Verwaltung des Landes Berlin in ihrer heutigen Verfassung kaum in der Lage wären.

1 Was damals anders als heute alles zu schaffen war

Damals ging es um die Weiterentwicklung der Nachkriegsordnung in Deutschland, in dem die Sieger des 2. Weltkrieges je eine Besatzungszone hatten – auch in Berlin, das analog dazu in vier Sektoren aufgeteilt war.

1948 schlossen die Westmächte – USA, Großbritannien sowie Frankreich – ihre Besatzungszonen zur Trizone zusammen, aus der 1949 die Bundesrepublik hervorging, und brachten mit der Währungsreform im Juni 1948 die Deutsche Mark (DM) als neues Zahlungsmittel in Umlauf. Die Sowjetunion ordnete in ihrer Besatzungszone – der späteren DDR – eine eigene Währungsumstellung an und nahm die gegen ihren Willen erfolgte Einführung der DM in Berlin am 24. Juni 1948 zum Anlaß, um alle Straßen, Schienen- sowie Wasserwege von Westdeutschland nach Berlin und die Stromversorgung der westlichen Stadthälfte aus dem sowjetischen Sektor im Osten der Stadt zu unterbrechen. Mit dieser Blockade schien der Westen Berlins auf Gedeih oder Verderb den Machthabern im Osten ausgeliefert zu sein.

Doch die Westmächte reagierten auf die Blockade der Land- und Wasserwege mit der Bildung einer „Luftbrücke“ und versorgten vom 26. Juni 1948 an ihre Sektoren im Westen der Stadt auf dem Luftweg.

Um die Versorgung der Teilstadt so weit wie möglich zu sichern, mußte ein Flugzeug in 20 Minuten entladen werden

Mit „Rosinenbombern“ wurden Nahrungsmittel eingeflogen, aber auch Kohlen, Baustoffe, Maschinen, Ersatzteile, Autos sowie vergleichbare Güter auf dem Luftweg herbeigeschafft, bis die Sowjets die fast elf Monate dauernde Blockade aufgaben und ab 12. Mai 1949 wieder Autos, Eisenbahnen sowie Schiffe von Westdeutschland nach Berlin (West) fahren konnten.

Da der Flughafen Tempelhof für die Versorgung aus der Luft nicht ausgereicht hatte, waren weitere Flächen für den Flugverkehr genutzt worden. Eine Dauerbaustelle wie aktuell die des BER konnte man sich damals nicht leisten und schaffte es in fünf Monaten, in Tegel einen neuen Flughafen anzulegen und in Betrieb zu nehmen.

Kurz vor der Währungsreform und der anschließenden Blockade waren die sowjetischen Vertreter aus dem Kontrollrat sowie aus der Alliierten Kommandantur ausgeschieden und hatten damit praktisch die gemeinsame Verwaltung Deutschlands und Berlins so gut wie beendet.

Zu einer weiteren Konfrontation kam es, als Anhänger der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Sommer 1948 damit begannen, Sitzungen der im Stadthaus – also im sowjetischen Sektor – tagenden Berliner Stadtverordnetenversammlung zu stören. Als Störer Ende August erneut ins Stadthaus eindrangen, unterbrachen die Stadtverordneten die Sitzung und wichen mit Ausnahme der SED-Vertreter Anfang September in den Westen der Stadt aus, wo sie ebenso wie der Oberbürgermeister im Rathaus Schöneberg eine neue Bleibe fanden.

Die von den Sowjets protegierte SED war durch die Zwangsvereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten in den sowjetisch dominierten Teilen Deutschlands und Berlins entstanden. Allerdings hatte bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung 1946 nicht sie die Mehrheit erhalten, sondern die SPD, die sich im Westen der Stadt gegen die Vereinigung entschieden hatte und insofern weiter als eigenständige Partei auftrat.

Am 30. November 1948 trat im sowjetischen Sektor auf Betreiben der SED und mit Billigung der sowjetischen Besatzungsmacht eine „außerordentliche Stadtverordnetenversammlung“ zusammen. Die war aber nicht aus Wahlen hervorgegangen, sondern bestand aus Stadtverordneten der SED sowie „Vertretern des schaffenden Berlin aus den Betrieben und Massenorganisationen,“ wie es in einem Aufruf zur Teilnahme an dieser Sitzung hieß. Sie erklärte die Magistratsmitglieder der SPD, CDU sowie LDP, die ebenso wie der Oberbürgermeister ihre Amtssitze in den Westen der Stadt verlegt hatten, für abgesetzt und wählte einen neuen Magistrat, der von den Sowjets im Amt bestätigt wurde und fortan den Osten verwaltete, im Westen jedoch als „illegal“ angesehen wurde.

In den westlichen Sektoren dagegen gab es am 5. Dezember Neuwahlen zur Stadtverordnetenversammlung, aus denen die SPD mit größerer Mehrheit als zuvor und Ernst Reuter als Oberbürgermeister hervorging. Da aber die Sowjets die Wahl nicht anerkannten, blieb seine von den westlichen Besatzungsmächten bestätigte Amtsgewalt ebenso wie die seiner Magistratskollegen auf den Westen der Stadt beschränkt.

Insofern war die Spaltung der Stadtverwaltung von Berlin vollzogen und die Stadt politisch sowie administrativ geteilt.

Die Spaltung der Stadtverwaltung war ein Prozeß, der schon vor den Ereignissen im Herbst 1948 begonnen hatte. Der Magistrat und die meisten Behörden waren bis zur Spaltung Berlins im Osten – im sowjetischen Sektor – angesiedelt gewesen. Dazu gehörte auch die Polizeibehörde. Und deren Präsident Paul Markgraf hatte sich wiederholt als Erfüllungsgehilfe der sowjetischen Besatzungsmacht und deren SED-Protegé erwiesen. Weil die Polizei nichts gegen Entführungen aus dem Westen und gegen Störungen der Stadtverordnetenversammlung unternommen hatte, ließ der Magistrat Markgraf mit Zustimmung der westlichen Militärkommandanturen vom Amt suspendieren; der weigerte sich aber mit Billigung des sowjetischen Stadtkommandanten, die Amtsgeschäfte an den zum Nachfolger ernannten Johannes Stumm zu übergeben, so daß dieser sich im Juli 1948 einen neuen Dienstsitz im amerikanischen Sektor nahm und die Berliner Polizisten aufforderte, seinen Anweisungen zu folgen.

Ähnliches passierte auch in der Magistratsabteilung für Ernährung, der in jener Zeit großer Lebensmittelknappheit eine besonders wichtige Rolle zukam. Wenige Wochen nach Unterbrechung der Land- und Wasserwege von Westdeutschland nach Berlin erklärten die Sowjets sich zur Versorgung der ganzen Stadt mit Lebensmitteln bereit und ordneten die Bildung einer Unterabteilung in der genannten Magistratsabteilung an, die sich nach Weisungen der für Berlin gar nicht zuständigen „Deutschen Wirtschaftskommission für die sowjetische Besatzungszone“ richten sollte. Die Westmächte ließen zwar deren Einflußnahme in ihren Sektoren nicht zu, konnten jedoch nicht verhindern, daß die von den Sowjets eingesetzte Leitung der neuen Unterabteilung die im Osten gelegenen Diensträume der Ernährungsbehörde sowie die Arbeitskraft der meisten Mitarbeiter für sich beanspruchte. In dem Zusammenhang wurde der für die Leitung der gesamten Abteilung zuständige Stadtrat Paul Fuellsack an der Wahrnehmung seiner Leitungsaufgaben gehindert, so daß dieser seinen Amtssitz in den Westen – ins Deutschlandhaus – verlegte und dort eine neue Behörde aufbaute.

Wie der Stadtrat für Ernährung versuchten im Laufe der Zeit auch die anderen Magistratsmitglieder, soweit sie nicht der SED angehörten, dem politischen Druck im Osten zu entgehen und im Westen ungehindert weiter zu arbeiten.

Neben der Suche nach Büroräumen war es erforderlich, Büroausstattung zu besorgen. Das war nicht leicht in der Zeit der Blockade sowie der Teilung; denn Büromöbel waren ebenso wie Arbeitsmittel – von Schreibmaschinen bis zu Papier und Bleistift – Mangelware und konnten nur mit allergrößter Mühe beschafft werden. „Für die Versorgung der Westsektoren unentbehrliche Akten, Möbel und Büromaschinen dürfen aus dem Hause nicht entfernt werden,“ beschwerte sich Paul Fuellsack in einem Brief an den sowjetischen Stadtkommandanten, nachdem er aus seinen alten Amtsräumen verdrängt worden war, und wies darauf hin, „daß Akten, Möbel und Büromaschinen, die in der Ostabteilung entbehrlich sind, im Deutschlandhaus aber dringend benötigt werden, unter großen finanziellen Aufwendungen und Belastung der Steuerzahler beschafft werden müßten“.

Schwieriger als an Büroausstattung war es, an die Akten zu kommen, die zur Arbeit gebraucht wurden. Die lagen ja zumeist in den alten Dienststellen im sowjetischen Sektor. Doch es gab in großer Zahl Beamte und Angestellte, die zu den neuen Dienststellen im Westen überliefen und aus ihren bisherigen Amtsräumen klammheimlich Akten zu ihren neuen Arbeitsplätzen im Westen mitgehen ließen.

Zu ihnen gehörten Angestellte der Bauverwaltung, von denen es im Jahresbericht 1949 des Hauptamtes für Baulenkung heißt: „Wenn es gelang, alle Unterlagen der eingereichten Darlehensanträge und die Akten der Wohnungsbau-Kreditanstalt vor dem Zugriff des illegalen Magistrats zu bewahren, ist das allein den Angestellten der Bauverwaltung zu danken, die diese wichtigen Papiere oft unter Gefährdung ihrer persönlichen Sicherheit aus dem Stadthaus im Ostsektor tagelang in kleinen Mengen herausbrachten, bis die Akten vollständig waren. Nur dadurch war es möglich, den Grundstückseigentümern die nochmalige Aufstellung von Kostenvoranschlägen, Anfertigung von Zeichnungen und das Zusammentragen aller notwendigen Unterlagen für die Kreditbewilligung zu ersparen. Alle diese Unterlagen gaben also sofort Aufschluß über die Kreditforderung des privaten und gemeinnützigen Hausbesitzes“.

Nach der Bildung des neuen „illegalen“ Magistrats im Osten verlangte dieser von allen Behördenmitarbeitern Loyalitätserklärungen, die ihm jedoch viele trotz drohenden Verlusts ihres Arbeitsplatzes verweigerten: Davon betroffen waren 700 Magistratsangestellte sowie 2000 Mitarbeiter der Bezirksämter, von denen die meisten allerdings im Westen weiter beschäftigt wurden.

Allen Schwierigkeiten zum Trotz gelang es innerhalb kurzer Zeit, im Westen Berlins eine neue Behördenstruktur zu schaffen, die zur Verwaltung und Regierung dieser Teilstadt tauglich war.

1950 wurde eine neue Verfassung in Kraft gesetzt, die auf Grund der politischen Verhältnisse jedoch nur im Westteil Geltung erlangte: An die Stelle der Stadtverordnetenversammlung trat das Abgeordnetenhaus von Berlin, statt des Magistrats mit dem Oberbürgermeister gab es nun den Senat mit dem Regierenden Bürgermeister an der Spitze dieses Kollegiums.

2 Wie die politisch Verantwortlichen von heute im Vergleich zu denen aus der Nachkriegszeit da stehen

Heute versucht Michael Müller, in den großen Schuhen Ernst Reuters Halt zu finden. Er war zuvor Senator für Stadtentwicklung – also Chef der Bauverwaltung, um deren Leistungen nach der Teilung es weiter oben ging.

War es damals möglich gewesen, in wenigen Monaten die Verwaltung im Westen Berlins neu aufzubauen und ihre Arbeitsfähigkeit herzustellen, dauerte es beispielsweise in der jetzigen Dekade zwei Jahre (!), bis der Senat den Abriss der Deutschlandhalle beschließen konnte, weil ein Beamter der Denkmalschutzbehörde „so lange auf den Akten gesessen“ hatte, wie Ulrich Nußbaum sich in einem Zeitungsinterview erinnert. Nußbaum war Berliner Finanzsenator, als sein Kollege Müller nicht fähig oder bereit war, den säumigen Beamten zügig an die Arbeit zu bringen oder ihm die Aufgabe zu entziehen und einen anderen damit zu betrauen.

Wenn Politiker in der Nachkriegszeit so entscheidungsunfähig gewesen wären, wäre es kaum möglich gewesen, die Lebensfähigkeit von Berlin (West) zu erhalten.

Der Krieg hatte Ruinenfelder hinterlassen, die 30 Quadratkilometer der am dichtesten besiedelten Stadtgebiete umfaßten. 70 Prozent aller Berliner Gebäude waren zerstört oder beschädigt: Produktionsanlagen, Geschäfts- sowie Bürogebäude und Wohnhäuser. Von den 1500 000 Millionen Wohnungen in der Stadt waren am Ende des Krieges 600 000 völlig zerstört, 640 000 beschädigt und nur 370 000 vollständig bewohnbar.

Obgleich es nach dem Krieg an Facharbeitern, Geld, Baustoffen, -geräten und Transportfahrzeugen mangelte, um Schutt und Geröll zu beseitigen, Gebäude instand zu setzen oder neu zu bauen, wurde in der Zeit vom Ende des Krieges bis zur Teilung der Stadt ein Fünftel der beschädigten Wohnungen wieder bewohnbar gemacht.

Der Wittenbergplatz mit dem zerstörten KaDeWe im Hintergrund

Die Fondsmittel aus den Gebäudeinstandsetzungsabgaben waren zwar auf Konten der östlichen Stadtverwaltung deponiert und konnten nach der Teilung nicht mehr im Westen verwendet werden; doch entscheidungsfähig wie Politik und Verwaltung in Berlin (West) damals waren, wurden zur Überbrückung der Anfangsschwierigkeiten im Nothaushalt von 1948/49 Mittel für die Bauförderung zur Verfügung gestellt. Im Laufe der nächsten Jahre kamen weitere Landes- sowie Bundesmittel und Geld aus US-Fonds hinzu, so daß Ernst Reuters Nachfolger Otto Suhr 1957 die hunderttausendste Sozialwohnung im Westen seit der Teilung Berlins ihrer Bestimmung übergeben konnte.

Die Bevölkerung wuchs nach der Wiedervereinigung zwar nicht wie erwartet; doch es wurden in der Mitte der neunziger Jahre noch 33 000 Wohnungen pro Jahr in ganz Berlin gebaut. Das waren mehr als doppelt so viele wie in der heutigen Zeit, in der die Zahl der Einwohner rapide zunimmt. Geschätzt wird, daß mindestens 170 000 Wohnungen fehlen – und die Tendenz ist steigend. Bezahlbare Wohnungen werden immer knapper; doch die Senatsbauverwaltung behindert anscheinend private Bauvorhaben, kommt aber nicht einmal mit dem Bau landeseigener Wohnungen so zügig voran, wie der Senat es sich vorgenommen hat.

Die zuständige Stadtentwicklungssenatorin Karin Lompscher und die Baubehörden des Landes inklusive der Bezirke dürften sich keine weiteren Verzögerungen leisten, wenn sie es mit ihren leistungsstarken Vorgängern an Tempo und Effizienz auch nur annähernd aufnehmen wollten.

Wurde der Wohnungsbau in der Nachkriegszeit im Eiltempo vorangetrieben, aber auch vieles abgerissen, was erhaltenswert gewesen wäre, tut man sich heute schwer mit Abriß, nimmt allerdings manchen Leerstand hin – nicht bloß in Wohnhäusern, sondern auch in anderen Gebäuden wie dem ICC und am Flughafen Tempelhof.

Als das ICC 1979 eröffnet wurde, verkündete der damalige Bundespräsident Walter Scheel, dass es ebenso lange Bestand haben würde wie die Pyramiden in Ägypten. Es war aber schon nach weniger als 40 Jahren baufällig und wurde 2008 ebenso geschlossen wie das vergleichsweise solide gebaute Gebäude des Flughafens Tempelhof. Seit der Schließung sind zehn Jahre vergangen, in denen lang und breit überlegt worden ist, ob man das ICC abreißen oder sanieren sollte und wie man das Flughafengebäude auf Dauer nutzen könnte. Doch das weiß man im Senat anscheinend bis heute genauso wenig wie den mehrfach verschobenen Termin, an dem der BER  in Schönefeld tatsächlich in Betrieb gehen könnte.

Man weiß im Senat manches nicht oder erst so spät, daß es weitreichende Folgen hat. Dabei denke ich nicht nur an die verpatzte Inbetriebnahme des BER-Flughafens, sondern auch an die verspätete Ausschreibung für den Ringbahnbetrieb und ähnliche Versäumnisse bei der BVG.

War es nach dem Krieg in wenigen Monaten gelungen, Bahnstrecken ebenso wie Straßen wieder befahrbar zu machen, obgleich die sowjetische Besatzungsmacht in riesigen Mengen Schienen demontiert und samt Bahnwaggons in die Sowjetunion abtransportiert hatte, ließ sich der vorige Senat – ohne jede Not – mit dem Ausschreibungsverfahren etliche Jahre Zeit, so daß auf den Ringbahnschienen vielleicht bald nicht genügend einsatzfähige Waggons rollen werden. Um die chronischen Verspätungen zu beheben, kam die Bahn auf die Idee, die Züge nicht mehr an jeder Haltestelle stoppen zu lassen, und gab den Plan erst nach heftigen Protesten auf. Protestiert wurde auch von Straßenbahnern und U-Bahnlenkern, die sich überlastet fühlen und vor Engpässen in der rapide wachsenden Stadt warnen.

Statt ihren Stolz in einer zügigen Verbesserung von Dienstleistungen zu suchen, brüsten politisch Verantwortliche sich mit der Erhöhung des Frauenanteils in Leitungspositionen des öffentlichen Dienstes sowie vergleichbarer Betriebe. Doch Altenpflegerinnen oder Verkäuferinnen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, fragen nicht, wer im Vorstand der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) Mitglied oder ohne Glied ist, sondern wollen wissen, was Senat, BVG und Bahn unternehmen, um einer weiteren Verschlechterung der Beförderungsbedingungen in Berlin mit seiner zunehmenden Bevölkerung entgegen zu wirken.

„Berlin ist arm, aber sexy“, meinte Klaus Wowereit seinerzeit als Regierender Bürgermeister. Doch Berlin ist in erster Linie arm dran mit einer schlecht geführten Verwaltung und einer politischen Elite, die dafür verantwortlich ist.

Als Wowereit 2001 das Amt des Regierenden Bürgermeisters antrat, war das Land mit knapp 40 Milliarden Euro verschuldet. Er wollte sparen, „bis es quietscht!“ Und es wurde gespart – vor allem beim Personal im öffentlichen Dienst, wie heute noch jeder merkt, der wochenlang auf einen Termin in einer KfZ-Zulassungsstelle zur PKW-Anmeldung, in einem Bürgeramt oder Standesamt wegen einer Meldebescheinung oder einer Geburtsurkunde oder sogar jahrelang auf einen Kitaplatz für sein Kind wartet.

Es wurde ferner gespart bei Investitionen, wie jeder weiß, der den Instandsetzungsbedarf vieler Straßen erfährt und den Sanierungsbedarf an zahlreichen Schulen – mit ihren vielen Lehrern ohne Lehramtsbefähigung – sowie anderen öffentlichen Gebäuden erlebt. Dennoch wuchs der Berliner Schuldenberg bis zum Ende von Wowereits Amtszeit 2014 auf über 60 Milliarden Euro.

Während es mit der Sanierung maroder Schultoiletten nur langsam vorangeht, beeilte der jetzige Justizsenator sich gleich nach seiner Amtseinführung, die Umwandlung von Toiletten seines Amtsbereiches in Unisex-Toiletten anzukündigen. Es dauerte hingegen noch eine Weile, bis er darüber hinaus wissen ließ, daß er sich auch eine bessere Personalausstattung in der Justiz vorstellen könnte, und damit zu verstehen gab, daß Klagen von Staatsanwälten sowie Richtern wegen Arbeitsüberlastung und insofern wegen Defiziten in der Rechtsprechung bei ihm Gehör gefunden hätten.

Daß in Berlin die Rechtsordnung partiell außer Kraft gesetzt ist, im Görlitzer Park der größte europäische Open-Air-Drogenumschlagplatz geduldet wird, Terrorismus wie im Fall Amri nicht mit der nötigen Konsequenz bekämpft wird und es Stadtviertel gibt, in denen andere Regeln als die des Rechtsstaates herrschen, ist nicht allein dem Justizsenator sowie dessen Vorgänger anzulasten, sondern  dem Senat insgesamt – dem vorigen wie dem jetzigen – und damit auch dem Regierenden Bürgermeister, der nicht einmal wahrhaben will, daß es neben Schwerpunkten der Kriminalität in der Stadt auch No-Go-Areas gibt: Das sind beispielsweise Stadtteile, in denen Homosexuelle und Juden sich nicht gefahrlos sehen lassen können beziehungsweise nicht als solche erkennbar sein sollten.

Anders als Michael Müller, der mit seinem gepanzerten 300 000-Euro-Dienstwagen an den Realitäten vorbei fährt, benutzte Luise Schröder die Straßenbahn für ihren Weg zum Roten Rathaus und nahm insofern Platz zwischen ihren Mitbürgern.

Luise Schröder war vor der Teilung amtierende Oberbürgermeisterin und nahm dieses Amt stellvertretend für  Ernst Reuter wahr, dem die sowjetische Besatzungsmacht die Amtsausübung verweigert hatte. Er konnte erst

nach der Teilung als Oberbürgermeister tätig werden und verschaffte sich kurz nach dem Exodus der meisten Stadtverordneten aus dem Osten Anfang September 1948 wortgewaltig über die Grenzen der Stadt hinaus Gehör mit den Worten:

„Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“

Ich hoffe, die Völker schauen heutzutage nicht so genau hin. Daß Jan Fleischauer neulich auf Spiegelonline fürchtete, Berlin wäre auf dem Weg zu Verhältnissen wie in Venezuela, mag übertrieben sein; doch hinter den glitzernden Fassaden der Stadt liegt zweifellos viel im Argen. Und wenn Berlin so sexy wirken sollte, wie Klaus Wowereit es wollte, dann hätte er vielleicht Christo beauftragen sollen, von all den vorhandenen Schandflecken wenigstens das ICC, das Flughafengebäude in Tempelhof und – im Einverständnis mit den Koeigentümern im Bund sowie im Land Brandenburg – vor allem den BER-Komplex in Schönefeld so lange hübsch zu verpacken und so zu verbergen, bis eine funktionsgerechte Nutzung möglich ist.

Der Wirtschaftsstandort Deutschland lebt von dem guten Ruf, den er zur Zeit noch hat, und braucht eine Visitenkarte, mit der sich Besseres vorzeigen läßt als das, was die deutsche Hauptstadt derzeit an Bau-, Verkehrs- sowie Bildungsinfrastruktur und an Dienstleistungen der Verwaltung zu bieten hat.

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Bilder ebenso wie Textteile der noch nicht publizierten „Geschichte der IBB“ von Herwig Schafberg entnommen und mit Genehmigung des Landesarchiv Berlin veröffentlicht.

Zum Autor siehe:

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