Samstag, 27. April 2024

Özils Steilvorlage für die Türkei im Kampf um die Austragung der Europameisterschaft 2024

Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg

„Life is… a poor player that struts and frets his hour upon the stage and then is heard no more; it is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing“(Shakespeare: Macbeth)

Es gibt nur weniges, was Medien mehr fürchten als die nachrichtenarme Sommerzeit, in der die Parlamente in den Ferien sind und kaum Entscheidungen treffen. Der syrische Bürgerkrieg ist zwar noch längst nicht beendet und hat erst vor wenigen Tagen wieder 200 Menschenleben beim Kampf um eine Stadt gekostet; aber das hat für die Presse keinen Sensationswert und bringt es allenfalls noch als Randnotiz in die Zeitung, nicht als Schlagzeile.

Wenn kaum wichtige Entscheidungen diskutiert und getroffen werden, sehen Wichtigtuer aus Politik und anderen Bereichen der Öffentlichkeit ihre Stunde gekommen, um lärmend Aufmerksamkeit zu erregen.

In diesem Sommer ist es die Stunde lauter Rücktrittsforderungen und –erklärungen. Zu den Fordernden gehört sogar ein Moslemfunktionär, der nicht nur die Politik, sondern nun auch noch den DFB in die Pflicht nehmen und – unisono mit manch einem Parteifunktionär – den DFB-Präsidenten zum Rücktritt bewegen will, weil der sich nicht hinter Mesut Özil, einen Fußballspieler islamischen Glaubens, gestellt hätte. Daß Deutschland sich ebenso wie die Türkei um die Austragung der Europameisterschaft 2024 bewirbt und der DFB kurz vor der Entscheidung im September den Kopf frei von solchen Quengeleien haben sollte, ist den Kritikern anscheinend nicht so wichtig.

Lassen wir die Schreihälse mit ihren Rücktrittsforderungen ein Stündchen auf der Bühne lärmen und wenden uns dem zu, der tatsächlich zurücktrat und es mit lautem Spektakel in die Schlagzeilen sowie zur besten Sendezeit in die Tagesschau schaffte: Nicht etwa am Schluß, sondern von Anfang an für ganze fünf Minuten und insofern für ein Drittel der gesamten Sendezeit, als ob die britische Königin ihre Abdankung erklärt hätte.

Doch es war nicht die altehrwürdige Königin, sondern nur ein junger Emporkömmling namens Mesut Özil, der zurücktrat – und das in des Wortes doppelter Bedeutung tat.

Da Fußballspieler leichter zu ersetzen sind als Ihre Majestät, die Königin, wäre seine Rücktrittserklärung kaum der Rede wert, wenn er nach einer höchst umstrittenen Audienz bei Erdogan mit seiner Erklärung nicht lange schweigend bis zur nachrichtenarmen Sommerzeit gewartet und sich dann nicht auch noch als Verfolgungsopfer in Szene gesetzt hätte. In der Rolle gefiel er sich anscheinend so gut, daß er sich zur Rechtfertigung seines Treffens mit dem türkischen Präsidenten sogar auf eine Ebene mit der Königin stellte und darauf hinwies, daß Ihre Majestät sich ebenfalls freundlich mit Erdogan getroffen hätte.

Wer bringt dem armen Özil bei, daß Staaten keine Freunde, sondern Interessen haben und es zu den Pflichten einer Königin gehört, sich im Interesse ihres Staates auch mit Amtskollegen zu treffen, denen sie die Hand nicht ohne Handschuh reicht?

Derartige Pflichten hat der angeblich verfolgte Özil nicht, verfolgt aber möglicherweise ebenso Interessen wie sein Kollege Gündogan, der bekanntlich an Wirtschaftsunternehmen in der Türkei beteiligt und insofern auf das Wohlwollen der türkischen Obrigkeit angewiesen ist. Unter diesen Umständen war es gewiß kein Schaden, daß der deutsche Staatsbürger Gündogan dem türkischen Staatsoberhaupt ein Trikot überreichte, auf dem er seine Verehrung für „meinen Präsidenten“ – wie darauf geschrieben stand – zum Ausdruck brachte.

So liebesdienerisch wollte Özil nicht sein, wollte aber dem Präsidenten des Landes, aus dem seine Sippe stammt, unpolitisch Respekt erweisen, wie es in seiner Rücktrittserklärung heißt. Er habe „zwei Herzen“, von denen das eine für Deutschland und das andere für die Türkei schlage. Das kann ich gut verstehen, habe jedoch gerade deswegen kein Verständnis, daß er sich an anderer Stelle der Erklärung darüber beklagt, von vielen Menschen in Deutschland nicht als Deutscher, sondern als Deutschtürke angesehen zu werden.

Warum sollte man nicht einen Menschen als Deutschtürken identifizieren und respektieren, der keinen Hehl daraus macht, daß von seinen „zwei Herzen“ eines für Deutschland und eines für die Türkei schlägt?

Mit seiner hybriden Identität steht Mesut Özil ja nicht allein. Das Los teilt er mit vielen – nicht nur mit anderen Deutschtürken, sondern auch mit Menschen sonstiger Herkunft und mit Juden, deren Sippen seit Jahrhunderten hierzulande leben und ihre jüdischen Wurzeln großenteils gekappt hatten, bevor die Nazis an die Macht kamen und selbst jene, die christlichen oder gar keines Glaubens waren und sich vorbehaltslos für Deutsche hielten, als Juden abstempelten und verfolgten.

Soweit sie die Verfolgungen überlebten und ebenso wie ihre Kinder in Deutschland geblieben sind, ist es vor allem seit dem bedrohlich zunehmenden Antisemitismus auf deutscher, deutschtürkischer sowie -arabischer Seite für viele deutsche Juden gut zu wissen, daß es einen Staat Israel gibt, in dem sie Schutz finden können, wenn die Jagd türkischer sowie anderer Antisemiten auf Juden in Europa nicht aufhört. Das ist eine Sorge, die verständlicherweise eine enge Bindung zu Israel schafft, aber zu manchen Mißverständnissen führt. Das erlebte auch Ignaz Bubis, seinerzeit Zentralratsvorsitzender der Juden in Deutschland, als er hierzulande auf seinen Präsidenten angesprochen wurde. Obwohl Bubis Deutscher war, meinte der Gesprächspartner damit aber nicht etwa den Bundespräsidenten, sondern den israelischen Staatspräsidenten.

Der deutsche Staatsbürger Bubis sah bei aller Verbundenheit mit Israel im Bundespräsidenten eindeutig sein Staatsoberhaupt. Ob die deutschen Staatsbürger Gündogan und Özil das auch so unzweideutig sehen oder sich als „Diener zweier Herren“ betrachten, ist eine offene Frage.

Es ist nicht nur die Staatsbürgerschaft, die man mit anderen teilt, sondern es sind auch Gemeinsamkeiten an Sprache, Geschichte, Religion, Sitten und Bräuchen, die über Grenzen und Gruppen hinweg ein „Wir“-Gefühl erzeugen. Daß Deutsche sich mit Österreichern eng verbunden fühlen, finden viele hier im Lande empörend. Daß deutsche Juden sich mit Israelis und Deutschtürken sich mit Einwohnern der Türkei ähnlich eng verbunden fühlen, empört hingegen viele andere Deutsche. Ich weiß nicht, wer von all den Empörten im weiten Spektrum von links bis rechts mehr Potenzial für Schnappatmung hat.

Atemberaubender finde ich, daß es unter deutschen Staatsbürgern türkischer Nationalität eine große Zahl von Menschen gibt, die ebenso wie manche „völkisch“ gesinnten Deutsche glauben, sie hätten nationale Bindungen in ihrem Blut. Wer an derartige „Blutsbande“ glaubt, sollte für eine bessere Durchblutung seines Hirns und so für eine Verbesserung seines Denkvermögens sorgen. Vielleicht würde er dann verstehen, daß Nationales nicht in der Natur des Menschen zu suchen ist, sondern in der Kultur. Und er würde dann hoffentlich auch nicht denen Verrat an der Nation vorwerfen, die ihr Glück woanders suchen.

Solchen Verratsvorwürfen war auch Mesut Özil ausgesetzt, als er vor zehn Jahren das Angebot annahm, in der deutschen Fußballnationalmannschaft mitzuspielen, und damit die enttäuschte, die ihn lieber als Spieler in der türkischen Mannschaft gehabt hätten.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie türkische Jugendliche auf deutschen Straßen sich nicht entblödeten, Özil als Verräter zu beschimpfen und zu bedrohen, nachdem er sich für Deutschland entschieden hatte. Ich kann mich ebenso gut erinnern, wie mehrere zehntausend Türken pfiffen, wenn er bei einem Fußballspiel zwischen Deutschland und der Türkei am Ball war. Es waren nicht nur eingereiste Türken, sondern auch solche, die hier daheim waren, sich  jedoch als Türken und nicht als Deutsche fühlten. Doch solche Anfeindungen bewogen Özil nicht zum besorgten Rückzug aus der deutschen Mannschaft, obgleich die Hetze und Pfiffe auf türkischer Seite aggressiver klangen als das, was er sich nach dem Treffen mit Erdogan von Deutschen anhören mußte.

Wie viele Türken, die sich heute mit Özil solidarisieren, hatten ihn damals als „Volksverräter“ geschmäht? Wo stand damals Erdogan, der ihn nach dessen Deutschlandschelte plötzlich „die Augen küssen“ will – und wo der türkische Justizminister, der Özils Rücktritt als „Tritt ins Gesicht des Faschismus“ feiert?

War es faschistisch, daß deutsche Politiker von rechts bis links Özils sowie Gündogans Treffen mit Erdogan für politisch inkorrekt hielten? Das wäre es vielleicht, wenn diese politischen Möchte-gern-Gouvernanten sich nicht mit einem erhobenen Zeigefinger begnügen müßten, sondern auch Arrest und Prügelstrafe zur Volkserziehung verhängen dürften! War es rassistisch, daß die beiden Deutschtürken während der WM-Spiele in Rußland von mitgereisten Deutschen ausgepfiffen wurden? Das wäre es vielleicht, wenn es Pfiffe schon vor ihrer umstrittenen Begegnung mit dem türkischen Präsidenten gegeben hätte und davon auch Leute wie Khedira, Boateng und andere Spieler aus Migrantenfamilien betroffen gewesen wären!

Ja, manchen Deutschen gefiel es nicht, daß Mesut Özil beim Absingen der deutschen Nationalhymne nicht mitsingen mochte. Das unterließ auch Lukas Podolski, der allerdings wie eine rheinische Frohnatur wirkte und  mit dem Singen Kölner Karnevalslieder den Eindruck erweckte, er wäre einer von „uns“, während Özil der „andere“ blieb, der im Verdacht stand, in aller Stille Koranverse zu rezitieren und insofern anders zu ticken als „wir“. Aber die Vorliebe für den einen sowie das Fremdeln mit dem anderen sagen nichts aus über die Relevanz von „Rassismus“, der mit diesem Schlagwort den Menschen eingehämmert werden soll. Die meisten deutschen Fußballfreunde standen jedenfalls hinter dem einen wie dem anderen, solange sie für  Deutschland mit Erfolg Fußball spielten – ebenso hinter Sami Khedira und Jerome Boateng, den sich die meisten Deutschen allen Zweifeln eines führenden AfD-Politikers zum Trotz gut und gerne in ihrer Nachbarschaft vorstellen könnten.

Der DFB förderte talentierte Fußballspieler gleich welcher Herkunft sowie Religion und insofern auch Özil, der mit deutscher Marschverpflegung im Gepäck zum Multimillionär in London aufstieg, sich nun aber von seinen deutschen Förderern rassistisch verfolgt fühlt.

Zu den Rassisten gehört nach der Scheinlogik solcher Übertreibungen insbesondere DFB-Präsident Grindel, dem Özil nicht bloß mangelnde Unterstützung nach dem Scheitern bei der WM vorwirft, sondern auch Positionen, die Grindel vor 10 bis 20 Jahren als CDU-Bundestagsabgeordneter vertrat, wenn es um doppelte Staatsbürgerschaft und multikulturelle Gesellschaft ging. Das sind Positionen, die von Grindels Partei- und Fraktionsvorsitzender Merkel damals ebenfalls vertreten wurden. Ist die Bundeskanzlerin also Rassistin?

Özils Rassismus-Vorwürfe werfen die Frage auf: Wem nützen sie und inwieweit ist der Nutzen gewollt? Für Erdogans Türkei kommen diese Vorwürfe jedenfalls im Hinblick auf die EM 2024 wie bestellt.

Özil und seine Berater wissen vermutlich, daß er seine besten Jahre als Fußballspieler hinter sich hat und auch ohne seinen selbst inszenierten Rücktritt kaum noch einen Platz in der deutschen Mannschaft bekommen würde. Er wird deshalb für Sponsoren in Deutschland ebenfalls uninteressant und muß schauen, wie und wo er sich noch gut vermarkten lassen kann.

Ein besseres Land als Deutschland fände man alle Male, hatte der deutschtürkische Journalist Deniz Yücel geschrieben, bevor er in der Türkei im Knast saß und mit deutscher Hilfe davon erlöst wurde. Dort im Knast zu landen, braucht Özil – der einst geschmähte „Volksverräter“ – wohl nicht zu befürchten, wenn „unser Bruder“, wie der türkische Sportminister den deutschen Staatsbürger Mesut Özil nennt, ins Land seiner Väter kommt, sich dort günstig zu vermarkten verspricht und zum Einstand etwas mitbringt, das dem Paten an der Spitze des tiefen Staates der Türkei höchst willkommen sein dürfte: Rassismus-Vorwürfe gegen die Deutschen, mit denen die Türken wortgewaltig von Faschismus-Vorwürfen gegen die türkische Staatsführung ablenken und ihre Chancen im Wettbewerb mit den Deutschen um die Austragung der Europa-Meisterschaft 2024 steigern können. Schauen wir mal, wie es weiter geht!

Wenn Erdogan wie angekündigt Özil die Augen küßt, könnte das der Beginn einer wunderbaren Patenschaft sein: „Fair is foul and foul is fair“(Shakespeare: Macbeth)

PP-Redaktion
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Eigentlich ist PP nach wie vor ein Blog. Dennoch hat sich aufgrund der Größe des Blogs inzwischen eine Gruppe an Mitarbeitern rund um den Blogmacher Dr. David Berger gebildet, die man als eine Art Redaktion von PP bezeichnen kann.

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