Ein Gastbeitrag von Alexander Meschnig
Der Historiker Rolf Peter Sieferle wurde erst nach seinem Freitod im September 2016 einem größeren Publikum bekannt. Entscheidend dafür waren zwei nach seinem Tod erschienene Werke: „Das Migrationsproblem“ in der Werkreihe von TUMULT, das die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung zum Thema hat, und vor allem das im verfemten Antaios-Verlag veröffentlichte „Finis Germania“.
Dieses schmale Bändchen verursachte einen veritablen Skandal und wurde aus der ursprünglichen SPIEGEL-Bestsellerliste aus „politisch korrekten“ Gründen wieder entfernt. Beide Bücher wurden zu Bestsellern, was das Feuilleton aber nicht daran hinderte, den Universalgelehrten Sieferle posthum mit den üblichen Reflexen als „rechtsradikal“ oder „verbitterten, kranken, alten weißen Mann“ abzuwerten.
Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn Sieferle galt lange Zeit als ein Vordenker der Umweltgeschichte, exemplarisch dafür sein 1982 erschienenes Werk „Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution“. Zudem war er Berater der Bundesregierung und legte 2010 seine Expertise „Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ vor. Dass er am Ende seines Lebens, so die Zuschreibung seiner Kritiker, „rechtsextreme“ Positionen einnahm, mag aber nicht zu überraschen.
Denn heute wird jeder in Deutschland mit dem Etikett „Rechts“ oder „Nazi“ versehen, der eigene Gedanken hat und sich jenseits der erlaubten Diskursräume bewegt.
Der Landtverlag hat nach Sieferles Tod die Gesamtrechte für den Neuabdruck seiner Werke erworben. Mit dem bereits 1994 veröffentlichten Essay „Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“ liegt der erste Band nun vor. Dieses intellektuell wie auch sprachlich brillante Werk ist in seiner Analyse und Vorhersage der „deutschen Zustände“ geradezu prophetisch. Als Leser entsteht immer wieder das Gefühl: das Buch kann erst vor kurzem geschrieben worden sein, gibt es doch zahlreiche Hinweise und Antworten auf die aktuellen Fragen, insbesondere auf die alles entscheidende Migrationskrise.
Es sind vier gesellschaftliche Entwicklungen, die Sieferle an der Schwelle zum 21. Jahrhundert für moderne Gesellschaften wie Deutschland als entscheidend betrachtet:
- Der globale Strukturwandel des Industriekapitalismus
- Die Kontrolle über die Entwicklung der Technik
- Die Bewältigung der Umweltprobleme
- Die Migration in die Wohlstandszonen
Während die ersten drei Problemstränge „klassisch“ linke Themen benennen, gilt der letzte Punkt, auf den ich mich im folgenden konzentriere, als von rechts kontaminiert. Die simple Dichotomie von links/rechts hat heute nur noch eine folkloristische Bedeutung und dient mehr der eigenen Bequemlichkeit, also dafür, die Anstrengungen des Denkens zu vermeiden.
Die ubiquitäre Verwendung des Rassismus- und Nazivorwurfs auf alle Kritiker der Masseneinwanderung und der Willkommenskultur zeigt in aller Deutlichkeit, dass ihre Protagonisten keinen Begriff mehr von den realen Entwicklungen haben, sondern dass es nur noch um die Denunziation des politischen Gegners geht:
„Die Probleme des 21. Jahrhunderts werden sicherlich nicht die des 20. Jahrhunderts sein. Ihre Rückübersetzung in das alte politische Drama, in welchem ‚Faschisten‘ gegen ‚Antifaschisten‘ kämpfen und innerhalb dessen die Rollen fest verteilt, die Prädikate eindeutig festgelegt sind, verstellt nur den Blick auf neuartige Konfliktlagen und richtet heillose Verwirrung an.“
Es ist viel weniger die uns vertraute politische Gegenüberstellung von links und rechts als der Konflikt zwischen Universalismus und Partikularismus, den auch Sieferle ins Zentrum seiner Analyse stellt. Deutschland, so seine These, ist dafür geradezu exemplarisch. Im 19. Jahrhundert noch die „Kulturnation“ par exellence, nach der politischen Einigung ein Machtstaat par exellence, in der ideologischen Zuspitzung der 1930er Jahre der totalitäre Staat par exellence und seit 1945 ein entpolitisierter Staat, der den moralischen Universalismus par exellence verkörpert. In allen diesen Fällen erscheint Deutschland als eine Art Musterschüler der Geschichte. Idealismus, Perfektion, Übertreibung und Prinzipientreue sind geradezu markante Alleinstellungsmerkmale, bis hin zur eigenen Selbstzerstörung. Was läge daher näher, als auch die Sache der universellen Menschenrechte zu einem Prinzip zu erheben, das auf alle Fälle gelten muss: fiat justitia, et pereat natio. (Etwa: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Nation darüber zugrunde“).
Ein Sozialstaat hat Grenzen. Im Zentrum von Sieferles Denken steht die (genuin materialistische) Idee der Begrenzung aller Dinge. Das gilt nicht nur für natürliche Ressourcen, die das Industriesystem, anders als die jahrtausendealten Agrargesellschaften, für ihn als nicht nachhaltig kennzeichnet, sondern auch für ein soziales Umverteilungssystem wie den Sozialstaat. Letzterer ist in Deutschland weltweit am intensivsten ausgebaut, was dieses Land
„zum attraktivsten Magnet für Einwanderer aus aller Welt machte, während der politische Wille zur Selbstbehauptung am schwächsten ausgeprägt war.“
Die bis vor kurzem nur von Linksextremen, Linken, Grünen, Refugee-Welcome-Aktivisten, Pro Asyl und den Kirchen vertretene Position der grenzenlosen Einwanderung („No Border“) ist seit dem September 2015 Richtschnur der staatlichen Politik geworden. Sie zeichnet sich durch eine prinzipielle Leugnung jeglicher Grenzen und den Glauben an eine universelle Gesellschaft, in der es nur noch den „Menschen an sich“ gibt, aus.
Der Staatsbürger wird zum „schon länger hier Lebenden“, der sich in nichts vom Einwandernden unterscheidet, obwohl sozialstaatliche Leistungen bis dato nur an „den Menschen“ in Gestalt des Bürgers erbracht wurden. Jeder Sozialstaat steht prinzipiell vor dem Problem, Kriterien dafür zu entwickeln, wer in dem Sinne ein „Mensch“ ist, dass ihm Leistungen als ein Recht zustehen – was umgekehrt bedeutet, andere davon auszuschließen.
Der Sozialstaat kann, so Sieferles These, deshalb überhaupt nur als Nationalstaat existieren. Ersterer gerät aber durch den in Deutschland und anderen europäischen Ländern dominanten moralischen Universalismus zunehmend unter Druck.
„Leistungen des Sozialstaates sind hier nicht auf die eigenen Staatsbürger beschränkt, sondern der Staat gewährt sie sämtlichen Personen, die sich auf seinem Territorium befinden.“
Hilfsansprüche der gesamten Menschheit? Nehmen wir als Beispiel die gängige Praxis seit dem September 2015: Jeder, der es schafft, über die deutsche Grenze zu gelangen, kann an wohlfahrtsstaatlichen Leistungen partizipieren. Leidet er etwa an einer schweren Krankheit, werden ihm alle Mittel der modernen Medizin zugestanden, unabhängig davon, ob er die Kosten dafür tragen kann oder nicht. Niemand, der sich auf dem Territorium Deutschlands befindet, darf hier benachteiligt werden, und falls doch, ist die Empörung jedes Mal groß. Denn aus welchem anderen Grund als „Unmenschlichkeit“ oder „Rassismus“ könnte einem „Anderen“ abgelehnt werden, was mir zusteht?
In der abstrakten, grenzenlosen Logik des moralischen Universalismus ist es prinzipiell gleichgültig, ob jemand in Deutschland, Rumänien oder Afrika lebt. Am Ende müssen sämtliche Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Kultur, gleichbehandelt werden, sprich: jegliche Unterscheidung wird hinfällig, da sie bereits das Element einer Diskriminierung in sich trägt.
In der Wirklichkeit ist es aber immer noch die Kategorie der räumlichen „Nähe“, die entscheidet, wer Hilfe bekommt und wer nicht: Wer außerhalb der territorialen Grenzen des deutschen Staates bleibt, bekommt keine Hilfe, wer sich innerhalb befindet, wird zum vollumfänglichen Leistungsempfänger.
Der Sozialstaat braucht aber für sein Funktionieren die Unterscheidung von Eigenen und Fremdem, Leistungsberechtigten und Nichtberechtigten. In dem Maße, wie die nationale Solidarität durch universalistische Motive aufgeweicht wird, weiten sich die „Leistungsempfänger“ prinzipiell auf die gesamte Menschheit aus, die staatliche Fürsorge wird zu einer Art „Menschenrecht.“
Dieser Mechanismus ist die innerste und den Protagonisten nicht bewusste Essenz für alle Fragen rund um Einwanderung und Asyl.
„Für den strikten ethischen Universalismus kann kein prinzipieller Unterschied darin liegen, ob ein Einwanderer wegen ‚politischer Verfolgung‘ oder als ‚Wirtschaftsflüchtling‘ versucht, Zugang zu den besseren Lebenschancen in den Industrieländern zu gewinnen. (…) Die Asylproblematik ist daher nur eine andere Fassung der allgemeinen Problematik des humanitären Universalismus.“
Die realen Begrenzungen der Ideologie. Das Ziel des humanitären Universalismus ist die soziale, ökonomische und kulturelle Homogenisierung im Namen der Globalisierung und Modernisierung der Welt.
Wer sich dieser Dynamik entgegenstellt, wer auf Eigenheit und Differenz pocht, ist längst ein hoffnungsloser Reaktionär und Ewiggestriger, wird als Pack oder Dunkeldeutscher diffamiert.
Er negiert die Zeichen der Zeit und verbleibt in traditionellen, vom Juste Milieu verfemten Kategorien wie Heimat, Geschlecht, Kultur, Familie etc. gefangen. Der angestrebten Homogenisierung aller Unterschiede stehen aber mindestens drei Problembereiche gegenüber, die Sieferle als reale Begrenzungen einer Ideologie sieht, die ihre eigenen Voraussetzungen bzw. die Konsequenzen ihrer Forderungen nicht mitdenken kann.
Das Industriesystem beruht auf kulturellen und mentalen Voraussetzungen, die nicht ohne weiteres auf andere Kulturen und Gesellschaften übertragbar sind. Auch wenn die besonders beliebte Theorie der Ausbeutung: „sie sind arm, weil wir reich sind“, immer noch als Erklärung für etwa die Rückständigkeit Afrikas herhalten muss, werden kritische Gegenstimmen doch lauter.
Tribalismus, Islamismus, die Unterdrückung der Frau, Analphabetentum, hohe Geburtenraten, massive Korruption, die Rentenökonomie der ölreichen Länder, all das sind entscheidende Hemmnisse für eine grenzenlose Expansion der „One-World-Visionen“.
Die demografische Entwicklung der arabischen und insbesondere der afrikanischen Länder stellt alles in den Schatten, was historisch bekannt ist. Selbst die Bevölkerungsexplosion in Europa ab dem 15. Jahrhundert verblasst dagegen. Jedes reale Wirtschaftswachstum in diesen Staaten wird sofort durch den exorbitanten Bevölkerungszuwachs obsolet gemacht.
Der „Youth Bulge“ (Heinsohn), ein Überschuss an jungen Männern ohne Chance auf eine adäquate gesellschaftliche Position, bleibt so eine drohende Gefahr für die westlichen Wohlfahrtsstaaten, auf die es keine Antwort gibt.
Die Homogenisierung stößt auch an eine ökologische Grenze. Jedem dürfte klar sein, dass die ganze Welt niemals auf dem Niveau der USA oder Westeuropas leben und konsumieren kann. Unser Verbrauch von Ressourcen, der Anspruch auf ein Auto, auf Wohnkomfort, umfassende Krankenversorgung, soziale Absicherung, Jahresurlaub etc. für Milliarden von Menschen ist undenkbar. Wie wollen wir aber auf Dauer verhindern, dass andere einfordern, was wir besitzen?
Zuwanderer verbrauchen am Ziel mehr Energie als daheim. Alle diese Begrenzungen machen klar, dass unsere Gesellschaft als eine Art „historischer Sonderweg“ betrachtet werden muss, der nicht global verallgemeinerungsfähig ist.
„Die Lebenslüge der westlichen Industriegesellschaften (einschließlich des Großteils des sie komplementierenden Protestlagers) besteht darin, dieser Tatsache nicht ins Auge sehen zu wollen, zumindest aber, die ernsthaften Konsequenzen zu ignorieren die sich daraus ergeben.“
Die auch von Linken, insbesondere von den Grünen häufig vertretene Idee der Begrenztheit der Ressourcen, müsste eigentlich auch das stärkste ökologische Argument gegen die Masseneinwanderung sein, denn jeder Afrikaner, der Deutschland oder Westeuropa erreicht, verbraucht hier hundertmal mehr Energie als in seinem eigenen Land. Der sogenannte ökologische Fußabdruck potenziert sich hier in einer Größenordnung, die einmalig ist. Während Umweltprobleme einfach auf das Freund-Feind-Verhältnis reduziert werden können, zeigt die Behandlung, besser: Nichtbehandlung, des Bevölkerungswachstums durch das „Empörungslager“, dass sich hier kein Gegner festmachen lässt, an den man seine moralischen Appelle richten kann.
Zudem müsste die „Linke“ – und kleine Teile davon tun das – begreifen, dass die Logik des globalen Kapitalismus in der Beseitigung aller Mobilitätshindernisse (Waren, Technik, Information, aber auch Arbeitskräfte) besteht, die mit den Forderungen des moralischen Universalismus deckungsgleich sind.
Der Schutz vor Billigkonkurrenz durch Einwanderer war lange ein wichtiges Thema der Gewerkschaften, die, wie die SPD, ihre ehemaligen Stammwähler mehr und mehr aufgegeben haben.
„Wenn daher in den europäischen Industriestaaten Wähler aus den unteren Schichten ihre Stimmen zunehmend Parteien geben, die versprechen, Dämme gegen die Einwanderung zu errichten, so handelt es sich keineswegs nur um den Ausdruck dumpfer ausländerfeindlicher Ressentiments. Diese Menschen artikulieren vielmehr eine Furcht, hinter der eine Interessenlage identifiziert werden kann.“
Befreiung durch das Zerstören der staatlichen Ordnung? Für Sieferle verläuft das politische Koordinatensystem zwischen Freiheit und Ordnung, die er mit den mythischen Namen von Behemoth und Leviathan belegt.
„Das negative Extrem der Freiheit trägt den Namen Behemoth: es handelt sich um die kriminelle Anarchie oder den offenen Bürgerkrieg, im äußersten Fall um den Kampf aller gegen alle. Das negative Extrem der Ordnung heißt Leviathan: Despotie und Tyrannei bis zur totalen Herrschaft.“
Im Laufe der letzten Jahrzehnte und aufgrund der historischen Erfahrung in Deutschland ist allein der Leviathan als totalitäre Gefahr in den Mittelpunkt gerückt. Privat erlebe ich oft, dass der klassische Akademiker mehr Angst vor dem Eingriff des Staates (etwa Kameraüberwachung) als vor der Gewalt von Individuen hat. Der Ordnungsstaat ist zu einem negativen Begriff verkommen, der nur noch mit Polizeigewalt, staatlicher Willkür und Unterdrückung des „dionysischen Individuums“ (Sieferle) assoziiert wird.
„Das dominante Feld der politischen Ideologie ist so weit in Richtung des Behemoth verschoben worden, dass fast durchweg der Leviathan als der einzige Feind des Menschengeschlechts gilt.“
Befreiung verspricht alleine das Zerstören der staatlichen Ordnung, legitimiert unter der Prämisse, aus der Geschichte gelernt zu haben, und die Idee einer Entgrenzung, die die eigene Selbstverwirklichung sakrosankt setzt.
Mit der Grenzöffnung im September 2015 kehrt aber der Behemoth immer stärker zurück und zwar gerade, weil der Staat seine Ordnungsaufgaben nicht mehr erfüllen kann, da er auf tribalistische Strukturen trifft, auf die seine bewährten Rechts- und Strafsysteme nicht angewandt werden können.
Sieferle prophezeit bereits 1994 eine Art „Retribalisierung“ der westlichen Gesellschaften durch die Einwanderung von zahlreichen Gemeinschaften, die eigene Segmente innerhalb der Aufnahmegesellschaft bilden und in ihren traditionellen Verhältnissen verbleiben.
Da der moralische Universalismus aber nur eine homogene ‚Masse‘ von Menschen kennt, darf er keine Differenzen anerkennen und muss sie konsequenterweise verleugnen, kann also sein „Eigenes“ nicht mehr aus eigener Kraft verteidigen.
In diesem Dilemma sieht Sieferle einen fehlenden Selbstbehauptungswillen, der zu anarchischen Verhältnissen führen wird. Es wird nicht mehr der Staat der große Gegner unserer Freiheit sein, sondern die negative Fixierung auf ihn wird den tribalen Gemeinschaften den Raum für die Durchsetzung ihrer Interessen eröffnen.
„Wo der Leviathan die Kraft eingebüßt hat, sein Gewaltmonopol als Grundlage seiner Herrschaft des Rechts durchzusetzen, können die Ordnungen des Behemoth an seine Stelle treten.“
Das wirkliche Leben verweigert sich den Traumwelten. Anhand dieser Passagen wird klar, dass es unredlich und falsch ist, Sieferle eine „Radikalisierung“ am Ende seines Lebens zu attestieren. Die in „Das Migrationsproblem“ und „Finis Germania“ behandelten Themen sind mehr als 20 Jahre zuvor bereits präsent. Deutschland steht für Sieferle exemplarisch für die allgemeine Tendenz des Universalismus, die Realitäten und die Folgen seiner Politik auszublenden.
„Der Hauptvorwurf, den der neutrale Beobachter dem Universalisten machen muss, zielt daher auf seine Illusionsfähigkeit, seine Identifikation von guter Gesinnung mit gutem Ausgang. Er schließt die Augen vor der Härte der Probleme, weil nur so sein konsequenter Moralismus möglich ist.“
Das ist eine exakte Beschreibung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, die seit dem September 2015 in zwei unversöhnlich getrennte „Lager“ gespalten ist. Unabhängig von der Traumwelt des Universalismus bleibt das „wirkliche Leben“ partikularistisch, bleiben Familie, Freunde, Nachbarn, Gemeindeangehörige, kulturelle Eigenheiten für viele von uns nach wie vor vorrangig und schützenswert. Selbstbehauptung ist immer ein Partikularinteresse, dazu gehört auch das nationale Interesse, das neben dem Druck der globalen Tendenzen in Deutschland auf ein historisch entstandenes Tabu trifft.
In der Frage der Masseneinwanderung kulminieren die beiden Prinzipien. Der Universalist kann die Moral und das gute Gewissen wie auch die großen historischen Entwicklungslinien auf seiner Seite verbuchen. Sein einziger Nachteil liegt in der Wirklichkeit und der Widerständigkeit des Partikularen. Insofern werden seine Rückzugsgefechte in dem Maße aggressiver werden, wie sich die Zonen des Wohlstandes gegen ihre globale Nivellierung durch eine unbegrenzte Einwanderung wehren. Hier liegt der eigentliche Grund für die Entstehung des neuen Nationalismus, den wir in fast allen europäischen Ländern beobachten können.
„Der humanitäre Universalist muss die unbegrenzte Einwanderung zulassen, da er keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Menschengruppen wie Nationen anerkennen kann. Er wird somit zu einem Faktor zur Auflösung des Sozialstaates als Nationalstaat und zur kulturellen Selbstzerstörung. Der um Abgrenzung bemühte Nationalist dagegen kann seinen Selbstbehauptungswillen innerhalb einer von universalistischen Prinzipien geprägten Weltöffentlichkeit nicht argumentativ legitimieren.“
Er kann es insbesondere in Deutschland nicht, da seine Argumente stets in das Fahrwasser des Völkischen und Rassistischen gestellt und er sich politisch und medial in die Defensive gedrängt sieht. Er kann folglich nur eine Position verteidigen, von der er weiß oder ahnt, dass sie angesichts der globalen Tendenzen nicht zu halten sein wird.
So bleibt nur die Verlangsamung, das wahrscheinlich vergebliche Aufhalten einer Dynamik, die aber nicht den Nationalisten, sondern den moralischen Universalisten zu einer tragischen Figur macht.
Denn seine Haltung wird am Ende in letzter Konsequenz genau der Ordnung zur Durchsetzung verhelfen, die er zu bekämpfen meint. Mit den Einwandernden aus den arabischen und afrikanischen „Failed States“ kehren das Prinzip der kulturellen Exklusivität und tribalistische Prinzipien mit aller Macht nach Europa zurück. Der Schlusssatz in Sieferles Epochenwechsel lautet deshalb nicht umsonst:
„Die reale Universalisierung wird im Vollzug dessen, was man einmal Dialektik der Aufklärung genannt hat, in die Ordnungen des Behemoth hineinführen, das heißt zum Sieg des realen Partikularismus im Namen des Universalismus.“
Alle Zitate aus:
Rolf Peter Sieferle: Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, LANDTVERLAG 2017 – Problemlos hier bestellbar: MANUFACTUM
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Der Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors und der „Achse des Guten“, wo er zuerst publiziert wurde: ACHGUT
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