Sonntag, 22. Dezember 2024

Intellektuelle Einäugigkeit

Ein Gastbeitrag von Josef Hueber

Erblindung auf einem Auge bewirkt den Verlust korrekter Einschätzung von Distanzen. Zwei Gegenstände in unterschiedlicher Entfernung zum Betrachter scheinen dann äquidistant zu sein. Der Faktencheck: Man hält sich ein Auge zu und versucht, mit einer Flasche Flüssigkeit in ein Glas in einiger Entfernung zu gießen. Man glaubt dann, Flasche und Glas seien zum Betrachter äquidistant und schüttet dennoch daneben, da das zweite Auge zur sicheren Berechnung der Distanz nötig ist.

Intellektuelle Einäugigkeit führt analog zum täuschenden Eindruck von Äquidistanz, respektive dem Urteil über die Gleichwertigkeit unserer Kultur mit völlig anders geprägten Kulturen. Auf diesem Irrtum gründet die Forderung nach und die Illusion von dem Gelingen der herbeigesehnten Integrationsfähigkeit grundverschiedener Kulturen in die Kultur des Westens, welche die Gleichstellung aller Individuen, deren Anspruch auf Freiheit des Denkens und der Lebensgestaltung beansprucht. Samuel Huntingtons Prognose eines Clash of Civilizations wird aufgrund dieses irregeleiteten Optimismus‘ in der gegenwärtigen Diskussion um Einwanderung und Integration von Menschen aus vom Kern her völlig verschiedenen Kulturen ignoriert.

Die fälschlich wahrgenommene Gleichwertigkeit aller Kulturen wird als Buntheit und Bereicherung beschworen und im öffentlichen Diskurs als nicht mehr hinterfragbares Axiom konstatiert.

Zur Erhellung der Problematik sei ein Rückblick auf längst vergangene inkompatible Kulturen vorgenommen, wie ihn Neil Postman in einer graduation speech (Rede anlässlich der Graduierung von Studenten) vornimmt, indem er die Kultur der Griechen und die der Westgoten kontrastiert. Beide Kulturen, so der amerikanische Kulturkritiker, repräsentieren gegensätzliche Werte und Traditionen , deren Typologie heute noch gültig ist.

Die Griechen, so Postman, entwickelten die Idee der Demokratie, erfanden die Philosophie und was wir Logik und Rhetorik nennen. Sie legten die Grundlagen für die moderne Wissenschaft , indem sie schon vor über 2000 Jahren eine Vorstellung von Materie und Atomen entwickelten. Sie schufen Dramen, die 3000 Jahre danach Menschen immer noch zum Lachen und Weinen bringen. Ihr höchstes Ziel war es, in allem nach Exzellenz zu streben. Sie glaubten an Vernunft, Schönheit und Mäßigung.

Vor etwa 2000 Jahren ging ihre Kultur langsam zugrunde und die sie tragenden Menschen verschwanden im Dunkel der Geschichte. Aber es blieb, was sie an Kulturleistung geschaffen hatten. Deswegen ist es heute kaum möglich, irgendein Thema zu behandeln, ohne darauf Bezug zu nehmen, was die Athener vor 2500 Jahren dazu gedacht haben.

Die zweite Gruppe von Kulturträgern, die Westgoten, lebte etwa dort, wo heute Deutschland liegt. Ihre „Kultur“ erstarkte vor etwa 1700 Jahren. Sie waren außergewöhnlich gute Reiter, und dies ist nahezu das einzige, wofür sie die Geschichte würdigen kann. Ihrer Sprache fehlte es an Feinheit und Tiefe. Sie waren erbarmungslose und brutale Plünderer. Sie überrannten Europa, zerstörten alles auf dem Weg ihrer Raubzüge. Es gab nichts, was sie lieber taten als Bücher zu verbrennen, Gebäude zu entweihen und Kunstwerke zu zerstören. Die Westgoten hinterließen keine Dichtung, kein Theater, keine Logik, keine Wissenschaft und keine humane Vorstellung von Politik. Ähnlich wie die Athener verschwanden auch sie aus der Geschichte. Europa brauchte fast 1000 Jahre, um sich von den Folgen ihrer „Kultur“ zu erholen.

Beide Kulturen, so Postman, sind auch heute noch unter uns am Leben. Eine davon hat einen Blick auf die Welt, der die Kultur der Athener widerspiegelt. Ein Grieche zu sein, heißt Wissen und die Suche nach Wahrheit hoch zu halten, zu reflektieren, mittels der Vernunft zu argumentieren und Fragen zu stellen. Der andere Blick auf die Welt lässt die Kultur der Westgoten erkennen. Die Westgoten von heute haben kein Verlangen nach Wissen und Erkenntnis, es sei denn, sie können daraus Machtzuwachs gewinnen.

Imre Kertesz, Nobelpreis für Literatur 2002, resümiert: „Es endet immer auf dieselbe Weise: Die Zivilisation erreicht eine Reifestufe, auf der sie nicht nur unfähig ist sich zu verteidigen, sondern auf der sie in scheinbar unverständlicher Weise ihren eigenen Feind anbetet.“

Europa steht offensichtlich an einem Scheideweg seiner Entwicklung. Es muss wissen, welche der beiden Kulturformen, eine wie die der Griechen oder eine wie die der Westgoten, seine Kultur in Zukunft prägen soll.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Bestseller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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