Sonntag, 22. Dezember 2024

Die postreformatorische Belastungsstörung

TUMULT-Autor Horst G. Herrman hat ein neues Buch bei Manuscriptum veröffentlicht. Hier eine Einstimmung: 

Es gibt eine postreformatorische Belastungsstörung. Sie ist ein Tabu. Wir alle in Deutschland sind Menschen mit Reformationshintergrund; sind – ob protestantisch oder katholisch, gläubig oder ungläubig – angesteckt und infiziert mit Luthers Rechtfertigungslehre:

Fünfhundert Jahre nach ihrer Inkubationszeit ist im fortschreitenden Verlauf natürlich nicht mehr von einer »vollständigen Verworfenheit des Menschen« und einer »geschenkten Gerechtigkeit« die Rede; auch die angemaßte Gottesperspektive dieser Lutherlehre hat nach dem »Tod Gottes« (Nietzsche) viel von ihrer Auto-Suggestivität verloren.

Mit der Apoptose der Rechtfertigungsidee, ihrer gutartigen Selbstauslöschung, ist aber weiterhin nicht zu rechnen, denn der Reformations-Erreger ist Shapeshifter; er wechselt seine Gestalt, das politische Regime, zur Not auch die Konfession; will einfach nicht sterben und freut sich, in der allgegenwärtigen Selbst-Rechtfertigungs-Praxis mit der (de)konstruktivistischen anthropologischen Vorgabe anything goes – der Selbstermächtigung des Menschen – weiterhin quicklebendig zu sein; als konvertierte DNA der Reformation.

23632723_814257828753130_1664665186407081429_oEs ist lohnend, an Nietzsches Anamnese zu erinnern, der im Protestantismus »die halbseitige Lähmung des Christentums – und der Vernunft« ausmachte, ein »Gift«; »die unsauberste Art Christentum, die es gibt, die unheilbarste, die unwiderlegbarste«; und der für diese »einem südländischen Argwohne über die Natur des Menschen« gegenüber feindselige Mentalität die Deutschen verantwortlich machte:

»Wenn man nicht fertig wird mit dem Christentum, die Deutschen werden daran schuld sein«.

Nietzsches Befund einer deutschen Pathologie könnte auch heute noch – abzüglich aller Polemik – durchaus erkenntnisleitend einen Unterschied markieren, wenn eine hypermoralisierte deutsche Gesellschaft 2017 auf die Zielgerade der Lutherdekade einbiegt. Nicht von ungefähr:

Denn das Erbe der Reformation ist Moral; obwohl sich Luther ja eigentlich aller Moral (der guten Werke) entledigen wollte. Will man nicht sagen: »Dumm gelaufen!«, kann man mit Hegel auch von »Dialektik« sprechen, was in unserem Fall auf dasselbe hinausläuft.

Die Resistenz, ja Resilienz des Rechtfertigungs-Erregers im Lauf der Jahrhunderte, seine Adaptions- und Anschlußfähigkeit an alle möglichen Moralisierungsdiskurse, dürfte auch mit der inhärenten Reinheitsagenda zu tun haben, die bereits den vier lutherischen soli zu eigen ist, den berühmten »allein«: »Allein Christus, allein die Gnade, allein die Schrift, allein der Glaube« sorgten von Anfang an für einen ambivalenzfeindlichen systematischen Tunnelblick, der nach Verblassen der Bezugsgrößen solus Christus und sola gratia nurmehr »allein« auf Texttreue und guten Glauben, auf gute Absichten und ein reines Gewissen rekurriert und bei dem das Ich am Ende allein auf sich selbst blickt; selbstrechtfertigend – und in diesem Geist ein Selfie nach dem anderen macht.

Sola scriptura, das bedeutet im aktuellen gesellschaftspolitischen und medialen Kontext: Allein Paragraph 16a GG, allein das kanonisierte Recht auf Asyl ist der hermeneutische Filter zum Phänomen der Masseneinwanderung, keinesfalls der politische, von den Realitäten kontaminierte und womöglich selektierende Blick, welche Einwanderer eigentlich gewünscht und gebraucht werden. Der reformatorische Tunnelblick suspendiert Politik, ja er »befreit« von Politik und erlaubt es, sich der Reinheit der eigenen Absichten zu vergewissern, um darin zu baden.

Im Vollbild der postreformatorischen Belastungsstörung verschmelzen die evangelischen Antipoden: der moralisierende Impetus des Kulturprotestantismus mit dem Jargon der Dialektischen Theologie; die »gute Gesinnung« wird zur »Frage überhaupt«, zur Gewissensfrage: »Ich habe mir nichts vorzuwerfen!« tönt es, Luther-like und Adolf von Harnack mit Karl Barth vereinigend, heil- und »alternativlos«, aus dem zum Pfarrhaus umgebauten Bundeskanzleramt.

Das Buch kann hier bestellt werden: MANUSCRIPTUM

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Bestseller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

Trending

VERWANDTE ARTIKEL