Nachdenkliches zur Bundestagswahl von Gastautor Herwig Schafberg
Die Frage, wohin die Macht geht, fiel nicht erst Bertolt Brecht ein, dem die im Titel zitierte Frage häufig zugeschrieben wird, sondern sie wurde schon im antiken Athen im Hinblick auf die Entwicklung der Demokratie gestellt und treibt immer noch Menschen um. Zu denen gehört anscheinend auch Bundestagstagspräsident Norbert Lammert. „Der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein könnte und vielleicht auch sein sollte,“ sagte er neulich in seiner Abschiedsrede. Daß der Bundestag die Bundesregierung „nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren“ solle, sei zwar im Prinzip unbestritten; doch „im konkreten parlamentarischen Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der ersten,“ fügte er hinzu.
Das ist zurückhaltend kritisiert im Vergleich zu der offenen Kritik, die Christian Ströbele in der ZEIT äußerte:
„Warum machen sich viele Abgeordnete der Koalition selber klein, indem sie bloß Vollstrecker der Politik der Bundesregierung sind und deren Fehler decken?“
Als Mitglied der Grünen vertritt Ströbele manche Positionen, die ich nicht teile; doch ich werde ihn ebenso im Bundestag vermissen wie Wolfgang Bosbach von der CDU, der wie Ströbele zur kleinen Schar der aufrechten Abgeordneten gehört, die sich nicht dem Druck von oben beugen.
Abgeordnete sind zwar offiziell nur ihrem Gewissen verpflichtet; tatsächlich beugen die meisten sich jedoch Fraktionszwängen, als ob sie ein imperatives Mandat erhalten hätten – nicht von ihren Wählern, sondern von ihren Parteien.
Das war schon so, als Herbert Wehner Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag war und dafür sorgte, daß die Fraktion möglichst geschlossen den Kurs der seinerzeit sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen unterstützte. Als hätte Lenins „demokratischer Zentralismus“ die politischen Führungsprinzipien des ehemaligen Kommunisten Wehner über dessen Zeit im Moskauer Exil hinaus geprägt, gab der von mir ansonsten hoch geschätzte „Zuchtmeister“ der SPD manch einem Abgeordneten barsch zu verstehen, daß dieser nicht damit rechnen könnte, als Kandidat für die nächste Wahl zum Bundestag nominiert zu werden, wenn er nicht folgsam wäre.
Druck auf Abgeordnete, die nicht dem von der Regierung verordneten Kurs folgen wollten, hat es in anderen Parteien ebenfalls manches Mal gegeben. Das erfuhr auch Wolfgang Bosbach, der im Frühjahr 2010 nicht für die Aufstockung der Finanzmittel für den Euro-Rettungsschirm stimmen wollte und – wie zu lesen war – vom Kanzleramtsminister Pofalla angeschnauzt wurde: „Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen!“ Als Bosbach einwand, daß es für ihn dabei um eine Gewissensfrage ginge, soll Merkels Höfling ihm deutlich zu verstehen gegeben haben, was er von der Gewissensfreiheit des Abgeordneten hielt: „Laß mich mit so einer Scheiße in Ruhe!“
Während der amerikanische Kongreß – zum Kummer des derzeit dilettierenden statt regierenden Präsidenten – auf die Einhaltung von Checks and Balances zu achten weiß, ist die Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung ziemlich obsolet.
Wie achtlos die Bundesregierung beispielsweise ihrer Informationspflicht gegenüber dem Bundestag mitunter nachkommt, wurde besonders deutlich, als sie den Abgeordneten kaum Gelegenheit zu einer gewissenhaften Prüfung der zur Abstimmung vorgesehenen Finanzhilfen für das verschuldete Griechenland gab und ihnen erst kurz vorher Akteneinsicht gewährte, als ob sie den parlamentarischen Laiendarstellern verständlich machen wollte, daß diese sich nicht die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin einmischen, sondern ohne viel Federlesen der vorgegebenen Linie folgen sollten. Immerhin ging es um Kredite sowie Bürgschaften in zwei- oder dreifacher Milliardenhöhe, für die vor allem Deutschland beziehungsweise die deutschen Steuerzahler gerade stehen müßten – und es ging dabei ebenso um die Frage, inwieweit durch die Rettungsaktion Prinzipien des Maastricht-Vertrages verletzt würden.
Nachdem die europäische Währungsunion gegründet worden war, hatte die CDU noch gefordert, daß daraus keine Schulden- und Transferunion werden dürfte. So hieß es etwa 1999 auf einem Wahlplakat der CDU zur Wahl des Europa-Parlaments: „Muß Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen? – Ein ganz klares Nein“. Doch als es darauf ankam, stimmten die allermeisten CDU-Abgeordneten ebenso wie andere den Finanzhilfen für Griechenland zu, weil die Kanzlerin – nicht zum letzten Mal – verlauten ließ, daß es „keine Alternative“ zu ihrer Politik gäbe. Das sah das damalige CDU-Mitglied Bernd Lucke anders und rief aus Protest gegen Merkels Euro-Kurs die „Alternative für Deutschland“ (AfD) ins Leben.
Manche halten Merkels Mangel an Prinzipientreue für ein Zeichen von Wendigkeit, die sie bald darauf – im März 2011 – ein weiteres Mal zeigte, nachdem wenige Tage zuvor ein Kernkraftwerk im japanischen Fukushima durch einen Tsunami beschädigt worden war. Das Epizentrum des Erdbebens, das diesen Tsunami ausgelöst hatte, lag vor der Küste Japans, das Epizentrum der Angst vor Verstrahlung aber im 9000 Kilometer entfernten Deutschland. Und die weit verbreitete Angst bewirkte, daß die Bundeskanzlerin hektisch den Kurs ihrer Energiepolitik um 180 Grad wendete, plötzlich auf erneuerbare Energien setzte und nicht mehr auf Atomenergie, obwohl der Bundestag erst kurz vorher eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke beschlossen hatte.
Wie viele Milliarden Euro die finanzielle Förderung von Solar- sowie Windstromanbietern und mögliche Schadenersatzleistungen an Kraftwerkbetreiber am Ende kosten werden und wie teuer das für die Stromverbraucher sowie Steuerzahler am Ende sein wird, ist noch nicht abzusehen.
Die nächste politische Wende mit unabsehbaren Folgen gab es im Herbst 2015, als die Bundeskanzlerin die Landesgrenzen öffnen und unkontrolliert Menschenmassen ins Land ließ, die sich auf dem Balkan stauten.
Im Sommer des Jahres hatte die Bundeskanzlerin noch bei einem Treffen mit Schülern erklärt, daß sie auf eine Beschleunigung der Asylverfahren hinwirken wollte, daß sich jedoch nicht jeder Ausländer nach eigenem Belieben in Deutschland niederlassen dürfte, und mit den Worten ein Mädchen libanesischer Herkunft zum Weinen gebracht, obwohl es eine Aufenthaltsgenehmigung hatte.
Daß Angela Merkel versuchte, das Mädchen mit Streicheln zu trösten, hielt manche professionell Empörten aus Politik und Medien ebenso wenig wie viele aus Neigung erregte Moralisten davon ab, ihr Mangel an Mitgefühl vorzuwerfen und sie als „unmenschlich“ zu beschimpfen. Hatte die „Eiskönigin“, wie sie in einer Zeitung genannt wurde, solche Schmähungen noch im Sinn, als sie die Grenzen öffnen ließ und sich gegen diesbezügliche Kritik mit den Worten wehrte, es wäre nicht ihr Land, wenn man Geflüchteten hier „kein freundliches Gesicht“ zeigen dürfte?
Es war in der Nacht vom 4. zum 5. September 2015, als die Kanzlerin sich in Telefonaten mit ihren österreichischen sowie ungarischen Amtskollegen bereit erklärte, für 12000 sogenannte Flüchtlinge die Grenzen zu öffnen, und damit eine Immigrationsbewegung auslöste, in deren Lauf nicht nur ein paar tausend, sondern ein paar hunderttausend, vermutlich mehr als eine Million Menschen ungehindert ins Land strömten.
Adolf Hitler brauchte zur Durchsetzung seiner politischen Ziele ein Ermächtigungsgesetz, Angela Merkel dagegen ermächtigte sich selbst und verzichtete auf eine Beschlußfassung der Bundesregierung sowie des Bundestages.
Daß die Bundeskanzlerin europäisches sowie nationales Recht außer Kraft gesetzt und den Bundestag übergangen hatte, störte die allermeisten Abgeordneten und ihre Parteien – mit Ausnahme der CSU – anscheinend ebenso wenig wie die Mehrheit im türkischen Parlament die Selbstherrlichkeit von Staatspräsident Erdogan.
„Was interessiert mich das Recht, wenn es um Menschen geht,“ sekundierte der stellvertretende Vorsitzende ihres sozialdemokratischen Koalitionspartners, Ralf Stegner, der Kanzlerin, als hätte es 2015 in der Flüchtlingskrise einen übergesetzlichen Notstand gegeben wie 1962 in Hamburg. Damals war nach einem Deichbruch auf Betreiben des dortigen Innensenators Helmut Schmidt am Gesetz vorbei die Bundeswehr eingesetzt worden, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten.
Die Erfahrungen mit der Flutkatastrophe in Hamburg trugen dazu bei, Notstandsgesetze zu beschließen. Und falls die Rechtslage nicht ausreicht, um Flüchtlingsströme zu regulieren, dann müßte man sich als Politiker sehr wohl für das Recht interessieren, Herr Stegner, und auf eine Änderung hinwirken, damit es aktuellen Erfordernissen gerecht wird und Regierungsmitglieder dann in einer neuartigen Notlage ihrem Amtseid gemäß „das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren“ können, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört.
Früher hatte man Menschen, die von Afrika nach Amerika verfrachtet und dort zur Sklavenarbeit gezwungen worden waren, als „schwarzes Gold“ bezeichnet. Und der Spitzenkandidatin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, waren 2015 die Menschen, die sich – unter freiwilligem Zwang – aus Afrika und anderen Weltregionen zu uns auf den Weg machten, als „Geschenk“ willkommen. Mit derartigen Metaphern mochte sich der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nicht begnügen, sondern er wertete sie zu Menschen auf, die „etwas mitbringen, was mehr wert ist als Gold.“ Er wollte damit vermutlich sagen, daß er in ihnen eine willkommene Reserve für den Arbeitsmarkt unserer alternden Gesellschaft sah.
Doch die allermeisten Menschen und erst recht nicht die Kriegsflüchtlinge sind hierher gekommen, um uns zu bereichern, sondern um dem Elend in ihren Heimatländern und besonders dem Bürgerkrieg in Syrien zu entfliehen.
Nicht alle, aber viele der zumeist jungen Flüchtlinge aus Syrien werden zurückgehen, wenn der Krieg vorbei und die Fluchtursache beseitigt ist. Das sollten sie auch tun, weil es dann keinen berechtigten Grund mehr gibt, ihnen weiter Asyl zu gewähren, und weil sie zum Wiederaufbau ihres verwüsteten Heimatlandes dringender gebraucht werden als zur Profitmaximierung der deutschen Wirtschaft, soweit sie dazu beruflich qualifiziert sind. Und die anderen, die ohne Not ihr Glück hier suchen und im Rechtssinne gar keine Flüchtlinge sind, dürften ohnehin keinen Rechtsanspruch auf Asyl haben und insofern nicht hier bleiben.
Von den Menschen, die während des libanesischen Bürgerkriegs Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nach Deutschland kamen, hatten ebenfalls viele keinen derartigen Anspruch, wurden allerdings nicht abgeschoben, sondern hier weiter geduldet, ohne daß man ihnen eine Arbeitserlaubnis gab. Man speiste sie statt dessen auf Dauer mit Sozialhilfe ab und trieb viele von ihnen dadurch in die Arme der organisierten Kriminalität.
Während es sich bei den Libanesen um Tausende handelte, sind es bei den neu ins Land Gekommenen Hunderttausende, deren Antrag auf Asyl nicht stattgegeben werden dürfte. Und wenn solche Menschen nicht abgeschoben werden, besteht die Gefahr, daß viele von ihnen ebenfalls kriminell werden, soweit es die Streuner und Beutesuchenden in ihren Reihen nicht schon sind.
Eine Entwicklung wie „2015 darf sich nicht wiederholen,“ mahnt heute – wendig wie ist – dieselbe Bundeskanzlerin, die diese Entwicklung mit ihrer damaligen Kehrtwende eingeleitet hatte. Wenn die politisch Verantwortlichen aus den negativen Erfahrungen mit libanesischen Bürgerkriegsflüchtlingen klug geworden sind, müßten sie die Menschen, die 2015 ungehindert ins Land strömten, aber keinerlei Rechtsanspruch auf Asyl haben, entweder konsequent abschieben oder ihnen die Möglichkeit verschaffen, ihren Lebensunterhalt hier selber zu bestreiten, damit das, was sie an Arbeitsfähigkeit und hoffentlich auch an –bereitschaft mitgebracht haben, tatsächlich mehr wert ist als Gold. Ja, Herr Schulz, um Mehrwert bei der Ware Arbeit geht es tatsächlich.
Ansonsten bleiben die meisten auf Dauer Kostgänger der Allgemeinheit. Die Lasten, die unsere Steuerzahler für all die sogenannten Flüchtlinge zu tragen haben, sind jetzt schon im zwei- bis dreistelligen Milliardenbereich veranschlagt. Und auf die Beitragszahler wird voraussichtlich auch noch einiges zukommen, nachdem man zur Gesundheitsversorgung der Asylbewerber kürzlich schon auf die eisernen Reserven der Krankenkassen zurückgegriffen hat. Es war der Sache angemessen, daß wenigstens Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken im Bundestag, besorgt ihre Stimme erhob und – zum Unmut ihrer Partei – die abenteuerliche Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin scharf kritisierte.
Doch „wir schaffen das,“ bestimmte die Kanzlerin damals im Plurale Majestatis, ohne uns und unsere Volksvertreter im Parlament zu fragen, ob wir „das“ überhaupt schaffen wollten.
Was geschafft werden soll, ist die gesellschaftliche Eingliederung von mehreren hunderttausend Menschen aus fremden Ländern sowie Kulturen. Aber „die Größe einer Einwanderungsgruppe darf man nicht unterschätzen,“ warnte der Migrationsforscher Haci-Halil Usculan im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel; denn je größer so eine Gruppe sei, „desto schwieriger wird es mit der Assimilation und desto leichter wird der Erhalt der ursprünglichen kulturellen Identität.“
Ja, es darf nicht unterschätzt werden, daß die allermeisten der sogenannten Flüchtlinge aus dem islamischen Kulturkreis mit Wertvorstellungen hierher kommen, die zum großen Teil nicht mit denen in unserer Zivilisation übereinstimmen, und es beispielsweise als einen Kulturschock empfinden, wenn hierzulande seit dem Sommer dieses Jahres auch zwei Männer oder zwei Frauen miteinander verheiratet sein dürfen.
Die Bundeskanzlerin war zwar dagegen, hatte sich aber in einem Interview dafür ausgesprochen, daß jeder Abgeordnete nach eigenem Gewissen dafür oder dagegen stimmen sollte, wenn es zu einer Abstimmung in dieser Sache käme. Und die Mehrheit im Bundestag beeilte sich daraufhin, die „Ehe für alle“ zu beschließen, ehe „Mutti“, wie Merkel in ihrer Partei mit ironisch geäußertem Respekt genannt wird, es sich möglicherweise anders überlegt. Daß dieser Machtmensch, dem man auf den ersten Blick so viel Durchsetzungskraft gar nicht zutrauen würde, sich mit einer beiläufigen Bemerkung zum Vormund des Bundestages aufgespielt hatte, schien weder in den Medien noch im Parlament irgend jemand zu empören. Anscheinens haben die Abgeordneten sich im Laufe der Jahre so an die dem Parlament zugewiesene Rolle als Mehrheitsbeschaffer für die jeweilige Regierung gewöhnt, daß viele glücklich sind, wenn sie mal von der Leine gelassen werden. Von einer parlamentarischen Demokratie wünsche ich mir etwas Besseres!
Wer vielleicht glaubt, daß Martin Schulz als Bundeskanzler maßvoller als Angela Merkel wäre, der konnte sich vor kurzem anders belehren lassen: Als der Kanzlerkandidat der SPD gefragt wurde, ob er sich als Regierungschef an Merkel ein Beispiel nehmen und eine Abstimmung über die Legalisierung des Handels mit Cannabis „freigeben“ würde, gab er nicht etwa zur Antwort, daß ein derartiger Eingriff in die Hoheit des Parlaments eine Amtsanmaßung wäre, sondern beantwortete die Frage ungeniert mit „ja“. Si tacuisses, Martin!
Alle Macht geht zwar vom Volk aus in die parlamentarische Volksvertretung, aber dort hält sie keiner zurück, wenn sie weiter geht und – zur Zeit noch im Zeichen der Raute – auf der Regierungsbank Platz nimmt.
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig, arbeitet seit dem Eintritt in den Ruhestand als freier Autor ist und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert.
Sein letztes Buch erschien bei BoD unter dem Titel „Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern“ (ISBN 978-3-7412-4491-9)
Das Buch kann hier bestellt werden: Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern
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