Ein Gastbeitrag von Kopekenstudent
Mein Vater mochte Fußball eigentlich nicht. Wenn aber Deutschland ein wichtiges Spiel hatte, schaute er durchaus einmal. Allerdings mit einer mir unverständlichen Motivation: lief es schlecht für die Deutschen, freute er sich. „Das brauchen die mal“ kommentierte er die sich anbahnende Niederlage.
Nun zieht unsere Familie um. Ein ganzer Hausstand zurück in die Heimat, zurück in die Nähe der Eltern. Problem: seit Tagen quält mich ein Hexenschuss.
Am neuen Ort haben wir noch keine Freunde. Ich rief bei Zeitarbeitsfirmen an: Vermittlung an Privat sei nicht möglich. Ich rief in der örtlichen Kirchgemeinde an: alle potenziellen Helfer seien im Urlaub. Es gäbe aber ein paar Migranten aus Afghanistan und Syrien… Und natürlich rief ich bei meinen Eltern an. Mein Vater, den ich um nichts Schweres bitten wollte, erwiderte, er müsse an dem Tag den Rasen mähen und hätte eigentlich überhaupt keine Zeit. Andere Helfer fielen ihm nicht ein. Wer jung sei, habe Arbeit und könne deshalb auch nicht helfen, sagte er. Ich meinte, man müsse mir ja nicht den ganzen Tag helfen. Zwei Stunden am Abend würden genügen. So hätten wir es früher doch auch gemacht: nach der Arbeit zu jemandem hingefahren und ihm geholfen. Mein Vater antwortete, es sei eben nicht mehr, wie früher.
Aus der Fremde zurück ziehen wollten wir schon länger. Bereits vor drei Jahren hatten wir eine schöne Wohnung gefunden. Der Besitzer der Wohnung ging bei meiner Mutter in Behandlung. Ich bat meine Mutter, einmal in unserem Sinne anzufragen. Meine Mutter wollte nicht. Mit dem Besitzer könne man schlecht reden, meinte sie. Ich bat meinen Vater, meine Mutter zu bitten, dennoch einmal mit dem Besitzer zu sprechen. Mein Vater erwiderte kühl, er glaube nicht, dass meine Mutter für mich den Bittsteller machen werde. Wir kamen nie an den Besitzer heran. Die Wohnung ging an jemand anderen. Und wir zogen nicht in diese Stadt, nicht zu meinen Eltern, nicht mit unseren Kindern zu deren Großeltern.
Als Jugendlicher wusste ich lange nicht, wozu ich auf der Welt war. Alle mir bekannten Berufe interessierten mich nicht. Die Familie sah in mir einen Ingenieur. Oder einen Beamten. Vorstellungen, vor denen mir grauste. Mit 19 hatte ich es dann. Ich wollte Musiker werden. Wollte an der Hochschule die Aufnahmeprüfung versuchen.
Als ich meinen Eltern meinen Wunsch, Musiker zu werden, unterbreitete (von dem ich fühlte, dass es weit mehr, als ein „Wunsch“ war, sondern quasi meine Bestimmung), erwiderten sie, in diesem Fall könne ich von ihnen keinerlei Unterstützung erwarten. Das zog mir den Boden unter den Füßen weg. Nicht, weil ich es nicht ohne sie hätte schaffen können, sondern weil ich streng christlich erzogen worden war – zum unbedingten Gehorsam. Sie hatten das Evangelium missverstanden. Jeder Eigenwilligkeit, jedem Streben, das nicht mit ihrem Bild von mir korrespondierte, entzogen sie ihren Segen, weil es für sie gleichbedeutend mit Sünde war. Und das ließen sie mich spüren. Mir war, als hätten meine Eltern ausgesprochen, ich sei nicht mehr ihr Sohn.
Ich gab den Plan auf.
Natürlich nicht das Musikmachen. Zwei Jahrzehnte lang schlug ich mich mit mehr oder weniger frustrierenden Jobs durch – nur um Musik machen zu können. Ich gründete zwei Bands. Unseren allerersten Auftritt nahmen wir auf Video auf. Als ich dieses meinen Eltern zeigen wollte, stand mein Vater auf und verließ wortlos das Zimmer. Meine Mutter hatte ohnehin vorgeschlagen, zum Ausleben meines „Hobbys“ könne ich doch auch im Kirchenchor singen. Warum müsse es denn eine Band sein? Und dann Rockmusik?
Ich schrieb an die 200 Lieder und nahm mit jeder Band ein Album auf. Vom ersten Album, das mich 7000 Euro kostete, die ich ganz allein beisteuerte, schenkte ich jedem aus der Verwandtschaft ein Exemplar. Auch meinen Eltern. Diese hörten einmal kurz rein, gaben es dann meinem Schwager und meinten, er dürfe es behalten. Sie könnten ohnehin nichts damit anfangen. So wurde es mir berichtet.
Später studierte ich doch noch. Journalismus. Damit konnten meine Eltern leben. Allerdings brach ich nach acht Semestern ab, weil ich mich in einem System des totalitären Genderismus, der ideologischen Gleichmacherei immer schwerer zurecht fand und den Eindruck bekam, ich müsste, wenn ich später eine Anstellung in diesem Beruf bekommen wollte, dem Teufel meine Seele verkaufen. Keiner aus der Familie verstand meine Beweggründe. Fortan wurde darüber geschwiegen. Ich war der, der nichts auf die Reihe bekam.
Nach der Finanzkrise 2008 begann sich der radikale Umbau Deutschlands in ein ideologisches Gefängnis immer deutlicher abzuzeichnen. Ich warnte meine Eltern. Versuchte, Tendenzen aufzuzeigen und zu erklären. Sagte, es würde schlimmer werden, als in der DDR. Mein Vater, der selbst schon einen Systemwechsel und zwei Währungsumstellungen miterlebt hatte, verlachte mich. Ich hätte ja überhaupt keine Ahnung, wovon ich da rede. Er wurde richtig böse, als ich dem damaligen Deutschland eine Zukunft schlimmer als die DDR, in der er so viel gelitten haben wollte, ankündigte. Heute lacht er nicht mehr. Aber er stimmt mir auch nicht nachträglich zu, sagt nicht, dass er sich damals geirrt und ich Recht gehabt habe.
Meine Eltern sind stolz auf ihren Widerstand in der Wendezeit. Ein paar Mal gingen sie in unserer Kleinstadt mit demonstrieren. Nach sechs Wochen war alles vorbei: die DDR öffnete die Mauer. Ihr Widerstand hatte sich scheinbar ausgezahlt. Noch heute erzählen sie davon, wie das damals war. Wie gefährlich und ungewiss…
Im jetzigen Deutschland wird seit fast drei Jahren demonstriert. Wer daran teilnimmt, muss mit dem Verlust seines sozialen Ansehens und seiner wirtschaftlichen Existenz rechnen. Es findet eine beispiellose Hexenjagd gegen Systemkritiker statt.
Wohnungen werden verwüstet, Autos angezündet, Rufmordkampagnen betrieben. Doch das System wackelt nicht. Als in der Stadt meiner Eltern zum ersten Mal demonstriert wurde, fragte ich, ob sie denn hingehen würden. Meine Mutter jedoch musste an diesem Tag unbedingt Äpfel zu Marmelade verarbeiten. Keiner aus der Verwandtschaft stand an jenem Tag auf dem Marktplatz. Die Helden von ’89 hatten keine Lust für ihre Enkel zu kämpfen.
Vor einiger Zeit machte ich eine längere Abenteuerreise durch Russland. Meine Erlebnisse fand ich so erzählenswert, dass ich sie niederschrieb. Ein Jahr lang. 550 Seiten. Das Beste, was ich bis dahin geschrieben hatte. Russland kam dabei ziemlich gut weg. Trotz dieses Umstands erhielt ich einen Verlagsvertrag. Die Lektorin war begeistert. Sechzehn Monate lang motivierte sie mich, durchzuhalten, weiter zu schreiben und Geduld zu haben. Bis das Werk vollbracht war.
Zwei Wochen vor Drucklegung wurde mir der Vertrag gekündigt, weil man im Netz auf Artikel von mir gestoßen war, die ich in alternativen Medien veröffentlicht hatte.
Artikel, die sich kritisch mit der Regierungspolitik auseinandersetzten. Artikel, die den rasenden Wandel unserer Gesellschaft beleuchteten. Artikel, die angeblich eine Zusammenarbeit des Verlages mit mir unmöglich machten.
Ich erwähnte den neuerlichen Rückschlag in der Familie. Und erntete spärlich verzogene Mimiken. Keiner sprach mehr von „meinem Buch“. Es war, als hätte ich nie an irgendetwas gearbeitet.
Ich könnte noch lange so fort fahren. Doch diese Streiflichter sollen genügen. Sie zeigen exemplarisch, woran unser Lande krankt. Denn Mutter und insbesondere Vater stehen für weit mehr, als Elternschaft; sie symbolisieren insgesamt die Vorfahren und stehen für das, wovon man abstammt – für jenen ganzen Überbau an Haltungen und Wertungen, in die man unvermeidlich hineingeworfen wird, wenn man als Deutscher in diesem Land zur Welt kommt.
Die Ver- und Missachtung des Eigenen, vor allem aber der eigenen Zukunft (symbolisiert durch das Kind), scheint demnach, sollte mein Beispiele kein Einzelfall sein (wovon ich ausgehe), tief in den Deutschen verankert zu sein. Die Lossagung vom Eigenen, die von Hilfsverweigerung über Ablehnung bis hin zu offenem Hass reicht, begann folglich nicht erst mit Merkels September 2015.
Vielmehr brauchte das, was sich nun ungehemmt Bahn bricht, offenbar den Humus eines stets latent vorhandenen Widerwillens gegen das Eigene, der es vorzog, lieber gegen sich selbst zu handeln, als dafür. Als wäre es unethisch, das Eigene dem Fremden vorzuziehen. Seinen höchsten Ausdruck erreicht dieser Widerwille in millionenfacher Abtreibung und dem kinderlosen, hedonistischen Lebensentwurf der sogenannten Selbstverwirklichung.
Gleichzeitig erlebte ich ebenfalls schon als Kind die Wertschätzung des Fremden, der dem Eigenen vorgezogen wurde. Stets zu erzieherischen Zwecken hörte ich, wie weit andere Kinder mir in den Punkten Ordnung, Fleiß, Anstand und Gehorsam überlegen seien. Immer waren da die Fremden, die mir Maßstab sein sollten. Sogar für das Gitarrespielen fand mein Vater anerkennende Worte – sofern es den Sohn eines Bekannten betraf.
Diese Haltung hat meiner Ansicht nach weniger etwas mit linker oder konservativer Gesinnung zu tun. Sie ist in Wahrheit die Folge irregeleiteter Liebe und unerlösten Denkens. Eines Denkens und einer Liebe, die in übersteigerter Weise stets das Absolute suchen – sei es aus sozialer, christlicher oder sonstiger Motivation heraus. Wer aber könnte weniger vor dem Absoluten bestehen, als derjenige, den wir am besten zu kennen meinen, weil er uns am nächsten steht? Das eigene Kind? Die eigenen Landsleute?
Ich kann mich daher (bezüglich anderer Artikel) nur wiederholen: Deutschlands – das heißt des deutschen Volkes – einzige Hoffnung besteht in einer nochmaligen rückhaltlosen Hinwendung zu Christus, wie es bereits in der Reformation und der Hochphase des Pietismus zweimal geschehen ist. Allein darin liegt jene Erlösung, Liebe und Wahrheit, derer die Deutschen jetzt so dringend bedürfen. Merke: Dies ist keine billige, jenseitige Schwärmerei, sondern durchaus ernst gemeinte irdische Lebenspraxis. Denn nur der von seinem verlorenen Selbst erlöste Mensch ist überhaupt fähig, die gegenwärtig so schmerzlich vermisste Balance zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu finden und umzusetzen. Also so zu handeln, dass es der Einzelne, die Allgemeinheit der Landsleute aber auch der Fremden als gerecht und angemessen empfindet.
Was derzeit geschieht kann, ja muss deshalb neben anderen zutreffenden Schlussfolgerungen wie der erzwungenen Errichtung supranationaler Strukturen etc. auch als Gericht Gottes an einem geistig vollkommen verwahrlosten Westen (resp. Deutschland) verstanden werden. Zweifellos vollzieht sich, was Christus im Matthäusevangelium ankündigte:
„Die Feinde des Menschen werden seine eigenen Hausgenossen sein.“
Und: „Weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten.“ Christus spricht nicht von Ungerechtigkeit allgemein. Die gab es immer. Sondern von ihrem Überhandnehmen. Einer Ungerechtigkeit also, die jedes erdenkliche und erträgliche Maß weit übersteigt. Einer Ungerechtigkeit, die dem Wahnsinn zu entspringen scheint. Ich denke, damit ist das gegenwärtige Deutschland recht gut umschrieben. Wobei der Boden der Niedertracht sicher noch nicht erreicht ist.
Kommen wir noch einmal auf mein kleines, privates Beispiel zurück. Wie verhält es sich nun in unserem familiären „Haus“?
Die Kommunikation ist auf wenige Basisfunktionen reduziert. Wirkliches (An)Erkennen des Anderen wurde schon vor vielen Jahren immer unmöglicher gemacht und war vermutlich auch nie gewollt. Echter Zusammenhalt ist praktisch nicht vorhanden. Man existiert als Name, nicht als Gemeinschaft. Die Angehörigen leben in alle Winde zerstreut. Man hat sich einander entfremdet. Diejenigen, die lange die Verantwortung hatten (und diese nie loslassen wollten), weisen jede Schuld für das geschundene Haus von sich und meiden das Thema. Ihre Ängste behandeln sie mit Blutdrucksenkern und Ernährungsumstellung.
Wenn das nicht exemplarisch für unser gesamtes Land ist, was dann?
Ich habe für mich beschlossen, dass meine Energie vor allem in meine Kinder fließen soll und nicht in sekundäre Dinge. Ich will Ihnen Zuspruch geben, Anerkennung und sie unterstützen. Lob verdirbt nicht den Charakter, wie mein Vater zu sagen pflegte. Wenn ich ihnen Grenzen setze, will ich ihnen deren Sinnhaftigkeit erklären. Ich erwarte keine blinde Unterwürfigkeit. Ich versuche, ihr Nachhaken nicht als Infragestellung meiner Autorität zu verstehen. Ich will sie stark sehen und zu freien Menschen machen. Damit unsere Familie, unser Haus auch später noch zusammen hält. Allerdings befürchte ich, dass diese Erkenntnis mindestens eine Generation zu spät kommt.