Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg
Der neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat seine Amtsgeschäfte aufgenommen. Er wollte ein unbequemer Bundespräsident sein, hatte er nach seiner Wahl angekündigt.
Was wollte Steinmeier mit dieser Ankündigung – oder war es eine Drohung – sagen? Will er nun anderen Menschen Unbequemlichkeiten bereiten oder es sich selbst im neuen Amt nicht bequem machen? Ich kenne unbequeme Schlaf- und Sitzgelegenheiten, kann mir aber nicht vorstellen, daß der neue Hausherr im Schloß Bellevue die weich gepolsterten Sessel durch Hocker aus Hartplastik ersetzen will, damit weder er noch seine Gäste es bequem haben.
In meiner Duden-Ausgabe ist unter dem Stichwort „bequem“ zu lesen: 1. „angenehm, keinerlei Beschwerden oder Mißbehagen verursachend“ sowie „keine Anstrengung verursachend“ und 2. „leicht, mühelos“. „Unbequem“ wäre das Gegenteil davon.
Unbequem wollen auch die Grünen weiter bleiben, wie sie kürzlich auf ihrem Parteitag beschlossen. Aber sind sie es denn noch? Sind sie insbesondere noch so unbequem wie ihre geistigen Väter und Mütter, die es sich und anderen im Laufe der achtundsechziger Bewegung nicht gerade leicht machten, sondern das Establishment mit unangenehmen Fragen teilweise zum Schwitzen brachten und demzufolge viel Mißbehagen verursachten?
Damals gab es manche Diskussionen, bei denen sich die Beteiligten zu intellektuellen Hochleistungen anstrengten. Ich denke etwa an ein Streitgespräch zwischen Rudi Dutschke und Ralf Dahrendorf 1968 am Rande jenes FDP-Parteitages, auf dem unter Dahrendorfs Federführung die Freiburger Thesen beschlossen wurden. Ich denke ferner an eine TV-Diskussion zwischen Rudi Dutschke und Günter Gaus, dem es anders als den Nanny-Journalisten damals sowie heute nicht darum ging, Zuschauer oder Zeitungsleser auf einer politisch korrekten Linie zu formieren, sondern sie sachlich angemessen zu informieren. Wer sich wie ich an diese spannenden Diskussionen erinnert, kennt Sternstunden der politischen Streitkultur, die es heute noch seltener als damals gibt.
Daß Rudi Dutschke, dem Meinungsführer einer „fortschrittlichen Massenbewegung“, Diskussionsforen geboten wurden, war dem Establishment seinerzeit jedoch genauso unangenehm wie den Etablierten heute eine Diskussion mit Götz Kubitschek, dem Vordenker einer konservativen „völkischen Bewegung“.
Zu den Liedermachern der Achtundsechziger gehörte Franz Josef Degenhardt mit seinem Spottlied über „Vatis Argumente“, in dem es heißt: „ Lieber Rudi Dutschke, würde Vati sagen, nun hören Sie mal gut zu. Was Sie hier sehen, das haben WIR… hingestellt – und darum, verstehen Sie, darum lassen wir uns von euch nicht sagen, wie wir zu leben haben.“
Wie wäre es denn, wenn der Innenminister von Sachsen-Anhalt „Vatis Argumente“ zum Streitgespräch mit Kubitschek übernähme? Doch der Minister hatte mit seiner Zusage zur Teilnahme an einer Podiumsdiskussion mit jenem Publizisten sowie einer Kunstprofessorin in einem Magdeburger Theater bei seinem Regierungschef Mißbehagen verursacht und verzichtete auf eine Teilnahme an der Veranstaltung, die schließlich unter dem Druck massiver Proteste abgesagt wurde.
Zu den Protestierenden gehörten die Grünen, die einst als Alternative zu den etablierten Parteien den Marsch durch die Institutionen angetreten waren und es sich nun am Ziel ihrer Wünsche selber im Establishment bequem machen. Und an der Spitze der Protestbewegung stand neben dem CDU-Ministerpräsidenten Reiner Haseloff die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von Sachsen-Anhalt, Cornelia Lüddemann, die es ähnlich wie ihr Kollege von der SPD „unglaublich und verantwortungslos“ fand, mit Götz Kubitschek zu diskutieren.
Frau Lüddemann hatte übrigens eine Ausbildung als Bibliotheksfacharbeiterin in der DDR und weiß vielleicht schon daher, zu welchen Repressionen eine staatstragende Partei im Umgang mit Schriftstellern fähig ist, deren Weltanschauung ihr unbequem sein könnte.
„Gerade die Kultur hat sich immer viel darauf eingebildet, unbequem“ zu sein und ein Forum zu bieten, „an dem Außenseiter die Stimme erheben und dem Justemilieu ordentlich eingeheizt wird“, schreibt Jan Fleischauer zu dem Magdeburger Theaterdonner im Spiegel.
„Doch nun reicht schon der Auftritt eines Publizisten vom rechten Rand, und den Beteiligten schlottern vor Angst so sehr die Hosen,“ daß sie sich nicht einmal die geistige Anstrengung zutrauen, „gegen den Herausforderer anzutreten. Man kann auch intellektuell verfetten, wie sich zeigt. Die Humor- und Kritikunfähigkeit wächst wie ein Bauchansatz. Wer es sich zu lange bequem gemacht hat, bekommt schon bei den kleinsten Provokationen einen Herzkasper. Das ist wie bei Damen im fortgerückten Alter, denen vor Schreck die Teetasse aus der Hand fällt, wenn jemand in ihrer Gegenwart ein unanständiges Wort benutzt.“
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder,“ sang Degenhardt ferner und machte sich über Versuche lustig, mit denen Eltern ihre Zöglinge ebenso auf dem Pfad der Tugend halten wollten, wie es heutzutage schwarz-rot- grün gefärbte Gouvernanten in Magdeburg, Köln, Zürich, Wien und anderswo versuchen.
An die Stelle der ergrauten Damen mit der Teetasse sind schon längst ihre großenteils ergrünten oder erröteten Töchter und Söhne getreten, von denen etliche einen Herzkasper bekommen, wenn das schlimme N-Wort gesagt wird, das mit „eger“ aufhört – von denen aber so gut wie niemand vor Schreck die Tasse fallen läßt, wenn jemand Worte ausspricht, die mit „f“ anfangen und auf „otzen“ oder „icken“ enden. Hatte Günter Grass noch in seiner „Blechtrommel“ Alfred Matzerath den „Rotz“ vergleichsweise diskret auf das Bettlaken „klatschen“ lassen und war seinerzeit als Pornograph angefeindet worden, phantasieren heute Rapper wie Bushido sowie Muhabbet unter dem Gejohle ihres zumeist jungen männlichen Publikums laut und ungeniert, wie sie den „Schlampen“ ins Gesicht rotzen und „die Fotzen in Fetzen“ fliegen lassen.
Während Franz Josef Degenhardt und andere Protestsänger jener Zeit mit dem politischen Lied ihr Publikum für gesellschaftliche Mißstände sensibilisieren wollten und Distanz zu den Etablierten hielten, motivieren Rapper wie Bushido sowie Muhabbet nichts anderes als den inneren Schweinehund von Underdogs aus der Subgesellschaft und biedern sich auf der anderen Seite dem Establishment an. Wer hätte gedacht, daß solche „Schmuddelkinder“ es einmal zu Hätschelkindern der High Society bringen würden, aus der manch eine Vertreterin es sich angenehm sein ließ, sich gemeinsam mit Bushido bei den Berliner Filmfestspielen auf dem roten Teppich zur Schau zu stellen oder ihm einen Preis für seine vorbildlichen (!) Beiträge zur gesellschaftlichen Integration von Jugendlichen zu überreichen?
Daß Politiker es nicht der Mühe wert finden, es in einer Diskussion mit der Intellektualität eines Götz Kubitschek aufzunehmen, hätte in der achtundsechziger Epoche ebenso wenig wie heute überrascht. Aber es wäre damals kaum denkbar gewesen, daß es politischen Amtsträgern kein Mißbehagen verursachen würde, sich auf die Vulgarität und Brutalität einzulassen, die von Bushido sowie Muhabbet verkörpert wird.
Glaubten solche Politiker im Ernst, sie könnten mit diesen Rappern ein „Sesam-öffne-Dich zur Jugend“ finden, wie Alice Schwarzer höhnte?
„Steinmeier ist nahbar,“ schreibt Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel: Er wolle „dem Menschen zugewandt bleiben“. Das wollte auch der römische Kaiser Nero, dem es ebenso wenig unangenehm war, sich vor Publikum in einer Arena einem Sklaven zum Analverkehr hinzugeben, wie es dem damaligen Außenminister Steinmeier war, sich mit „Fotzenfetzer“ Muhabbet einzulassen.
Hatte Walter Scheel, einer von Steinmeiers Vorgängern im Amte des Außenministers, noch „hoch auf dem gelben Wagen“ gesessen sowie gesungen und sich von einem Männerchor begleiten lassen, ließ sein Nachfolger sich vor den Karren des genannten Rappers spannen, der im Verdacht stand, die Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh durch einen Islamisten gutgeheißen und sich auch noch damit gebrüstet zu haben, daß er van Gogh gerne erst gefoltert und dann getötet hätte. Steinmeier scheute nicht einmal die Mühe, seinen Amtskollegen aus Frankreich dafür zu gewinnen. Und so dienten die beiden Minister Muhabbet bei der Tonaufnahme eines Liedes gewissermaßen als Chorknaben und durften ein paar Mal refrainartig das Wort „Deutschland“ ins Mikrophon zu rufen. Zur Ehre Muhabbets und seiner beiden Ministranten sei gesagt, daß der Rapper bei dieser Aufnahme nicht „die Fotzen in Fetzen“ zum Fliegen brachte.
Obwohl Steinmeier sich anstrengte, laut und verständlich „Deutschland“ zu rufen, wollten seine Landsleute ihn 2009 nicht als Bundeskanzler haben und bescherten der SPD bei der Bundestagswahl das mieseste Wahlergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte. Bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten klappte es besser, weil die Vorsitzenden der Koalitionsparteien von CDU/CSU sowie SPD die Vorentscheidung in einer Klüngelrunde getroffen und keine Mühe hatten, ihre Parteifreunde in der Bundesversammlung auf die vorbestimmte Linie zu bringen.
FDP und Grüne schlossen sich den Koalitionsparteien an, aber nicht die Linke und ebenso wenig die AfD, die – ähnlich wie Linke sowie Grüne vor zwanzig bis dreißig Jahren – es sich angenehm sein läßt, als Alternative zu den etablierten Parteien aufzutreten, von denen aber auch geschnitten wird. Linke und Grüne wissen aus eigener Erfahrung, daß es nicht leicht ist, ausgegrenzt zu werden, und geben sich nun jedoch selber Mühe, anderen Ausgegrenzten Unannehmlichleiten zu bereiten, seitdem sie zum Kreis der Etablierten gehören.
Doch es wird vermutlich nicht lange dauern, bis es sich auch die AfD im politischen Establishment bequem machen und sich an den Machtspielen der anderen beteiligen kann, zumal die Grenzen zwischen den Parteien fließend sind.
Das konnte man dieser Tage wieder beobachten, als das Vorstandsmitglied eines Berliner CDU-Kreisverbandes die Partei verließ, um sich als AfD-Kandidat zum Stadtrat wählen zu lassen. Angefangen hatte er seine Parteikarriere übrigens in der SPD.
Daß es schon in seiner Amtszeit als Bundespräsident AfD-Minister gibt, die mit Steinmeier auf Reisen ins Ausland fahren würden, ist unwahrscheinlich. Eher wäre es möglich gewesen, daß er Sawsan Chebli, eine seiner Pressesprecherinnen im Auswärtigen Amt, in das neue Amt mitgenommen hätte und diese bei einem USA-Besuch von Donald Trumps Mitarbeitern auf ein Interview angesprochen würde, in dem sie erzählt hatte, daß ihr palästinensischer Vater sich zwar nach 30 Jahren Aufenthalt in Deutschland immer noch nicht auf Deutsch verständigen könnte, aber besser integriert wäre als ein AfD-Funktionär. Die Frau, die das erzählte, war mal Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten im Berliner Senat!
Wenn der neue Bundespräsident stattdessen Götz Kubitschek in die USA mitnähme, wäre das vermutlich Steve Bannon, Trumps Chefstratege, recht angenehm. Wenn Steinmeier aber vor der Wahl stände, entweder Kubitschek oder Muhabbet mitzunehmen, würde er sich vermutlich eher für seinen alten Leadsänger entscheiden und riskieren, in Washington D.C. Mißbehagen zu verursachen.
Ein „weißer“ Rapper wie der talentierte Eminem wäre Trump und Bannon vermutlich lieber. Der US-Präsident ist zwar hart im Nehmen, wenn es sich um grabbing „by the pussy“ handelt, soll jedoch recht zickig reagieren, wenn er sich angegriffen fühlt. Und das wäre vermutlich der Fall, wenn Muhabbet ihm aus seinem Song „Im Westen“ vorrappen würde: „Warne dich: geh nicht zu weit! Kill dich denn für Fotzengelaber hab ich keine Zeit, denn das ist dein Business weil du ´ne Bitch bist kriegtest du dick nach dick bis du in Wixse ersticktest…“
Trump könnte sich auch in seinen Vorurteilen über die Dekadenz der deutschen Gesellschaft bestätigt sehen, wenn „Der Wolfszug“ inszeniert würde und der Mann, der bei Steinmeier den Ton angab, somit ein Schlachtlied anstimmte, an dem die „Grauen Wölfe“ – türkische Islamofaschisten – große Freude hätten: „Schließe die Fenster, zieh die Gardinen. Lauf oder willst du als Kanakenfutter dienen. Eine Holzkiste hab ich für dich reserviert. Die Strassen gehörn mir. Gott hat mich avanciert. Fürchtet euch um euer Hab euer Gut. Es endet für euch teuer. Fürchtet euch um euer Hab euer Gut. Werdet brennen im Feuer. Das Ende naht, rennst nackt über die Weide, fühlst den Tod an deinem Nacken, du bist ein Heide. Pakt der Wölfe zieht mit dem Wolfszug. Blutiger Horizont, der Tod friedlich ruht. Einen Toast auf meine gefallenen Brüder. PA! Räumt auf, fallen werden diese Lügner.“
Auch ohne Muhabbets Haßgesänge könnte es für Steinmeier recht unangenehm werden, wenn Trump ihn im Oval Office empfängt und sich darüber beschwert, daß sein Gast ihn im Sommer letzten Jahres als „Haßprediger“ bezeichnet hatte.
„Er ist der Erdfeste. Der Besonnene,“ schreibt Casdorff weiter: „Einer, der zu seinem Wort steht und nicht aus der Rolle fällt.“
Aber war es besonnen, daß Steinmeier als Außenminister einen Mann, dessen Wahl zum Präsidenten der USA nicht auszuschließen war, so bezeichnete? War die Vorstellung, daß Trump die Wahl gewinnen könnte, dem Realpolitiker Steinmeier so unangenehm, daß er es gar nicht wahr haben wollte? Mochte es ihm auch noch so unbequem erscheinn, wäre vom Chefdiplomaten der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten gewesen, daß er sich nicht von Mißbehagen zu solch einer Äußerung über einen Mann hinreißen läßt, der auf dem Wege zur Machtübernahme in den USA, unseres Hauptverbündeten, war.
Daß Steinmeier es sich in dem Kontext zu leicht machte, ist um so überraschender, als er sonst häufig Mühe hatte, sich mit der gewünschten Deutlichkeit zu äußern.
Ich erinnere mich beispielsweise voller Mißbehagen daran, wie Steinmeier in seiner ersten Amtszeit als Außenminister der Öffentlichkeit weis machen wollte, daß ein in Afghanistan entführter Deutscher in der Gefangenschaft an einem Herzinfarkt gestorben wäre. War es Steinmeier unangenehm, darauf hinzuweisen, daß dieser herzkranke Mann an den Folgen der Strapazen krepiert sein könnte, die er in den Händen seiner Kidnapper erlitten hatte? Wollte der Minister kein Mißbehagen bei der afghanischen Entführerbande verursachen – oder vielleicht bei denen hierzulande, die in Verbrechern gerne Opfer gesellschaftlicher oder politischer Verhältnisse und teilweise sogar Befreiungskämpfer sehen?
Ich erinnere mich ferner, daß vor etlichen Jahren ein Afrikaner in Ostdeutschland auf der Flucht vor Nazis voller Panik durch die Glasscheibe einer Tür gesprungen war und sich dabei so verletzt hatte, daß er verblutete. Was hätte es wohl für einen Aufruhr gegeben, wenn ein deutscher Innenminister erklärt hätte, der Schwarze wäre den Verletzungen erlegen, die er sich beim Sprung durch die Scheibe zugefügt hatte, ohne auf dessen Verfolger hinzuweisen? Ich glaube nicht, daß dieser Minister länger als drei Tage im Amt gewesen wäre.
Wenn Steinmeier als Bundespräsident wirklich unbequem sein will, ist zu wünschen, daß er den Umgang mit „Schmuddelkindern“, die für sexistische, rassistische sowie islamistische Hetze bekannt sind, nicht so leicht nimmt und sich in der Beurteilung von Ereignissen sowie Persönlichkeiten größere Mühe bei der Wortwahl gibt.
Ein Bundespräsident wirkt nun mal hauptsächlich durch das Wort und der Weg vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein kleiner Fehltritt!