Freitag, 29. März 2024

„Krieg gegen Gott“: Die Proteste im Iran, ein unbewaffneter Aufstand?

Die seit dem 16. September diesen Jahres anhaltenden Proteste gegen die staatliche Ordnung des Iran, gegen die dort gegebene Herrschaft der Geist= lichkeit (velayat-e-faquih), weisen laufend steigende Todesopferzahlen auf. Ein Gastbeitrag von Dieter Gellhorn.

Gegenwärtig, am heutigen 9. November 2022, zählt Reuters 367 tote weibliche und männliche Demonstranten, darunter auch viele sehr junge Frauen, und ca 1160 Verletzte.

(c) Oganesson007, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Verantwortlich dafür ist eine brutal vorgehende „Sittenpolizei“. Seit 2005, zu Beginn der Amtszeit des islamradikalen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad (geb. 1956) überwacht diese in Kleinbussen patrollierende Sittenpolizei (Gaschad -e Erzad), ob Frauen ihren Hidschab vorschriftsgemäß tragen.

Ihnen deswegen auffällige Frauen verbringen sie mit den Kleinbussen zu Polizeistationen, wo die Frauen dann von den Sittenwächtern belehrt werden und im Normalfall noch am gleichen Tag von einem männlichen Angehörigen abgeholt werden können.

Der Fall Jina Mahsa Armini

Am 14. September widerfuhr der 22jährigen iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini, die in Teheran ihren Bruder besuchte, eine solche Mitnahme durch die Sittenpolizei. Am 16. September lag sie beatmet in einem Krankenhaus und starb dann am Abend jenes Tages. Aus dem Krankenhaus herausgeschmuggelte Röntgenaufnahmen ließen erkennen, dass äußere Gewalt diese Entwicklung verursacht hatte.

Dies wurde der Initialfunke für eine vorwiegend von Frauen getragene Protestbewegung, an der bis zum heutigen 9. November nach Zählung von Reuters etwa 90.000 Personen teilgenommen haben. Diese Bewegung hat auch auf Universitäten und sogar auch auf Schulen übergegriffen. Auch die Arbeiter der für die iranische Wirtschaft sehr wichtigen Petrolarbeiter haben sich ihr angeschlossen.

Für einen Außenstehenden, wie auch der Verfasser ist, sind die Protestdarbietungen, wie sie sich  z. B. von Musikstudentinnen im Netz einfanden, besonders eindrucksvoll. Hier zeigt sich am klarsten, wie reine Seelenkraft sich gegen äußere Gewalt zu behaupten versucht.

Andernorts wird von den Demonstrantinnen und ihren männlichen Begleitern einfordernd skandiert „Frau, Freiheit, Leben“ oder „Freiheit, Freiheit, Freiheit“ oder auch „wir wollen keine islamische Republik“. Obwohl die sog. Sicherheitskräfte, die übrigens strafrechtliche Immunität genießen, nicht nur mit Knüppeln sondern perfiderweise auch mit scharfer Schrappnell- Munition gezielt gegen die Demonstranten schießen, ebben die Demonstrationen nicht ab.

Eine neue Qualität?

Die Schrappnellmunition übersät die angeschossenen Opfer mit – im Falle einer nicht sofortigen Behandlung – tödlichen Wunden. Eine rasche Behandlung wird aber den Ärzten in den Krankenhäusern oft von den Sicherheitskräften verwehrt, die Verhöre und das Anlegen von Handschellen vorschalten. Genau deshalb hat in Teheran eine Protestdemonstration von Ärzten stattgefunden, die aber mit vergleichbarer Grausamkeit beendet wurde.

Immer wieder wird von Spezialisten, wie z. B. von der iranischen Friedens-Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi, geäußert, dass die gegenwärtigen Proteste eine neue eigene Qualität haben. Lange und für das Regime gefährliche Proteste hat es aber auch vorher schon gegeben. Es gab sie 1999, 2005, 2009, 2017/18, 2019.

Der gefährlichste von diesen dürfte der von 2019 gewesen sein. Hier erstreckte sich die Protestwelle über ein halbes Jahr und fand in mehr als hundert Orten statt. Bei einer nachträglichen Zählung kam man auf 1500 Todesopfer unter den Protestlern. Während damals allerdings vorwiegend die Unterschicht protestierte (Auslöser war eine plötzliche und deutliche Erhöhung der Benzinpreise), erfasst die gegenwärtig aktive Protestwelle alle Schichten der Gesellschaft. Es sollen auch 2 Töchter ehemaliger Präsidenten dabei sein.

Ein großer Teil der Exiliraner, die zu hunderttausenden in den USA und in Deutschland leben, hängen ihre Hoffnung besonders jetzt an diesen gewaltfreien Aufstand. Sie sehen in ihm eine reelle Chance, dass das klerikale Unterdrückungsregime in ihrer ehemaligen Heimat nun bald sein Ende nimmt. Sogar ein Enkel des Staatsgründers Ruholla Khomeinis soll gefordert haben, dass man die iranische Verfassung dahingehend ändert, dass man nun eine mehrheitsgeleitete Demokratie einführt.

Keine Verhandlungen mit den Mullahs!

Von exiliranischer Seite wurde auch gefordert, dass man jegliche Verhandlungen mit den Mullahs einstellt, mindestens solange, wie diese auf ihre Kinder schießen. Dieses Moratorium müsste auch den bisher angestrebten Atomdeal einschließen.

Dass gegenwärtig die glühende Emotion der Demonstrierenden nicht erlischt, mag – wie viele sagen – auch mit daran liegen, dass eine moderne mit Internet und den sozialen Netzwerken hochkommunikative Gesellschaft nun einmal nicht in einem puritanisch mittelalterlichen Habitus führbar ist. Zwar hat das Regime versucht, genau da anzusetzen und das Internet abzuschalten, aber die USA haben dafür gesorgt, dass es trotzdem Internetzugänge gab und auch Elon Musk half, der eine Zuschaltung über Starlink bewirkte.

Ein bei dieser Welle neu hinzugekommenes Phänomen ist auch, dass auf Seiten der Freiheitsdemonstranten eine Hackergruppe Namens Anonymus kämpft, die sogar im September eine Live-Sendung des staatlichen Fernsehens für 30 Sekunden unterbrach und eine Durchsage machte, sich den Protesten anzuschließen. Einer anderen Hackergruppe gelang es am 30. Oktober per DDoS-Attacken eine Zeit lang die Kommunikationswege des Kernkraftwerkes Buschehr lahmzulegen.

„Krieg gegen Gott“

Vor wenigen Tagen wurde eine Gegenaktion des iranischen Parlaments bekannt. Mehr als 3/4 der 290 Parlamentarier forderten in einem Brief an die Justiz, den 1400 Gefangenen, die die Sicherheitskräfte unter den Demonstranten gemacht hatten, umgehend einen Prozess zu machen mit der Anklage “ Krieg gegen Gott“.

Eine Verurteilung in einem solchen Verfahren erfordert die Verhängung der Todesstrafe.
Diese sei – so schrieben die Parlamentarier – dann öffentlich und auch im Fernsehen zu sehen, zu vollziehen.

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Vom Autor ist nun sein neuestes Buch erschienen, das am 21. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des GHV-Verlages öffentlich vorgestellt wurde: Dieter Gellhorn: Spanische Ansichten übers Jahr. Ein kritisches Allerlei in 259 Aperçus (245 Seiten, ISBN: 978-3-87336-761-6, Klappenbroschüre; A5, Preis: 18,90 Euro)

Im Verlagstext heißt es: Manche Arbeitgeber ermöglichen ihren Angestellten gelegentlich eine lange unbezahlte Auszeit, ein sog. Sabbatjahr. Warum so etwas nicht auch als Rentner einmal machen? So war der Verfasser, ein berenteter Anästhesist, das ganze Jahr 2021 in Südspanien, nahe Huelva unweit Gibraltar. Hier bestätigte sich: manches sieht man nur vom Ausland her gut. Im Jahr 2021 jährten sich eine Reihe von Ereignissen, manche zum ersten oder zweiten Mal, eines zum 20igsten und auch eines zum 450igsten Mal. Das forderte den Verfasser in seiner Abgeschiedenheit auf, solches selbstständig zu kommentieren. Auch den deutschen Wahlkampf, seinen Ausgang und das Ausscheiden von Dr. D. A. Merkel aus der aktiven Politik kommentierte er. Immer wieder drängten sich auch Betrachtungen zur Covid-19 Pandemie vor, zum gleichseitigen Achteck, zu dem in Spanien allgegenwärtigen Christoph Kolumbus, zum Koran und Islam. Im Korsett der Kurzform Aperçus fügten sich dieses und manches Andere schließlich zum „kritischen Allerlei“.

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PP-Redaktion
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