Donnerstag, 21. November 2024

Der Unwille, oppositionelle Haltungen zu integrieren

Im Umgang mit den Demonstrationen von Leipzig zeigt sich einmal mehr das fortgesetzte Bestreben zur Ausgrenzung Andersdenkender. Ein Gastbeitrag von Hans Heckel

Die demonstrative Lernunwilligkeit des etablierten Politikbetriebs der Bundesrepublik muss erschrecken – und macht zugleich beklommen. Wie im August, als zehntausende Bürger in Berlin gegen die mit Corona begründeten Zwangsmaßnahmen demonstrierten, reagierten Politiker des Regierungslagers und befreundeter Parteien nun auch auf die Massendemonstration von Leipzig mit dumpfen Pauschalurteilen über die Kundgebungsteilnehmer (siehe PAZ/46 Seite 4).

Es ist stets die gleiche Leier: „Chaoten“, „rechtsextreme Hetzer“, „Verschwörungstheoretiker“ – SPD-Chefin Saskia Esken diffamiert die gesamte Kundgebung, weil „auch rechtsradikale Hooligans aus ganz Europa nach Leipzig angereist“ seien. Bei Demonstrationen, die dem Regierungslager entgegenkommen, spielt dagegen die Beteiligung einiger Randständiger nie eine Rolle. Nicht etwa ehrliche Sorge, sondern der finstere Wille zur Denunziation ist es, der aus den Worten Eskens und vieler anderer, Politiker wie Medienvertreter, hervortritt.

Luhmanns Warnung

Wie gefährlich die pauschale Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile ist, hat der bekannte Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) beschrieben. Von ihm stammt die Warnung, dass sich die Überlebensfähigkeit eines politischen Systems langfristig daran ermisst, inwieweit seine Akteure imstande sind, Protest, der außerhalb des Systems entstanden ist, in die Bahnen des Systems hineinzulenken.

Das heißt: Oppositionelle Bewegungen gilt es nicht an den Rand zu drängen, sondern dazu zu bringen, sich innerhalb des Systems und seiner Regeln einzubringen. So verwandelt sich eine Herausforderung in eine weitere Säule der Demokratie.

Linksextremisten werden geschont

Genau das Gegenteil aber geschieht seit Jahren in der Bundesrepublik. Bewegungen, die sich durchaus als loyaler Teil, ja Verteidiger des parlamentarisch-demokratischen Systems begreifen, werden unter Rechtsextremismus-Verdacht gestellt und mit aller Härte ausgegrenzt. Dagegen erfreuen sich erklärte Feinde der freiheitlich-demokratischen Ordnung vom äußersten linken Rand größter Rücksichtnahme und Toleranz. Die gleiche Schonung gilt im Wesentlichen auch für radikal-islamische Kräfte, selbst wenn jüngste Terrortaten hier zumindest eine Nuancen-Verschiebung ausgelöst haben.

Mit einem neuen Demonstrationsrecht will die rot-rot-grüne Landeskoalition in Berlin gar die Möglichkeit extremistischer Kräfte stärken, bürgerliche Demonstrationen effektiver stören zu können (siehe PAZ/46 Seite 5).

Eine solche Strategie ist dazu angetan, eine Gesellschaft zu zerreißen. Die Entfremdung hat weit größere Bereiche des Volkes erfasst, als konkret messbar ist. Den Kreis der Ausgegrenzten allein auf die Kernwählerschaft der AfD zu beschränken, greift längst zu kurz.

Der Partei gelingt es nicht mehr, neu aufkommende Protestbewegungen hinter sich zu scharen, wie sie dies zuletzt angesichts der unkontrollierten Masseneinwanderung ab 2015 vermochte. Stattdessen hat sich unter dem Schatten der Corona-Restriktionen eine neue Protestszene etabliert, die deutlich über das Potential der AfD hinausreicht.

Bestrafen statt integrieren

Aber wo soll das enden? Was ist das Ziel der Ausgrenzung? Wer sich den ideologisch-historischen Hintergrund der Tonangeber des etablierten Lagers vor Augen führt, könnte zu dem Schluss kommen: Hier will sich eine linke Elite am republikanischen Bürgertum dafür rächen, dass dieses Bürgertum die 68er-Revolte ebenso bezwungen hat, wie es den SED-Staat überwinden konnte. So gesehen wohnt den dumpfen, autoritären „Kampf gegen Rechts“-Reflexen und „Alternativlosigkeits“-Postulaten sogar eine perfide, vor allem aber brandgefährliche Logik inne. Hier soll nicht integriert, hier soll vielmehr bestraft und zerstört werden. Niklas Luhmann würde Alarm schlagen.

Der Beitrag erschien zuerst bei PAZ

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