Samstag, 23. November 2024

Sehr geehrter Martin Sellner, warum so „typisch deutsch“?

Ein Gastbeitrag von Dr. Dr Marcus Ermler

Meinen letzten beiden Artikeln „Björn Höcke und die Thüringer AfD ziehen keine Lehren aus dem Holocaust“ beziehungsweise „Das Theorieblatt des Höcke-Flügels und seine NS-Verharmlosung“ hier auf Philosophia Perennis blieben nicht ohne Reaktion.

David Berger zum „Feindzeugen“ des „sanften Totalitarismus“ einer „linken Meinungsdiktatur“ gekürt

Martin Sellner, der Sprecher der Identitären Bewegung Österreichs, bedachte den letzten der beiden Artikel mit einem Tweet wie einem Video, in denen er David Berger zum „Feindzeugen“ des „sanften Totalitarismus“ einer „linken Meinungsdiktatur“ kürt, der das „patriotische, migrationskritische Lager“ zersetze.

Eine Pathologisierung Bergers, die in ihrer historischen Kontinuität doch „typisch deutsch“ ist.

Die selbst ernannte Vorhut des „patriotischen, migrationskritischen Lagers“

Aber der Reihe nach: Im Tweet wirft Sellner David Berger vor, er habe den „Terroranschlag [von Halle] aus[ge]nutzt um Repressionsziele zu markieren und mit seiner kruden Ideologie die totale Hegemonie über Migrationskritik zu erringen“. In Sellners Video „Berlin vs. Halle – Feindzeugen vs Patrioten“ wird Berger als solch ein „Feindzeuge“ gekennzeichnet, der mit meinem Artikel die „Pogromstimmung“ gegen die AfD im Nachgang des Terroranschlags in Halle vorantreibe, um einen „Sündenbock“ in Kubitschek, dessen Schnellrodaer-Umfeld und Sellner aufzubauen.

Die drei Genannten sehen sich, wie Sellner es in seinem Video so eindrücklich formuliert, in ihrer „klaren inneren weltanschauliche Haltung“ selbst als Vorhut des „patriotischen, migrationskritischen Lager“. Einem Lager, das in einer „Fundamentaloppostion zur herrschenden Migrationspolitik und zum Globalismus“ wie gegen einen „Bevölkerungsaustausch“ stünde, welche der „sanfte Totalitarismus“ einer „linke[n] Meinungsdiktatur“ implementiere.

So müsse es, ganz im Kontrast zur Bergers Wirken, im „patriotischen, migrationskritischen Lager“ nunmehr „Konsens wie damals in der DDR [sein, dass] alle Gegner des totalitären DDR-Staats“ seien. Das heißt, zuerst müsse „Freiheit da sein, dann [können wir] unsere inneren Differenzen demokratisch austragen“.

„Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei“

Was klingt wie die Sprache beziehungsweise der Jargon einer politischen Sekte zur Konstitution einer selbsterfundenen Scheinordnung als Herrschaft über das Bewusstsein – diffundiert in einer „deutschen“ Volksgemeinschaft ethnopluralistischer Ausprägung –, hat doch, mit Adornos und Horkheimers „Elemente des Antisemitismus“ gesprochen, seine ganz eigene psychoanalytische Note in wahnhaften „Glaubenssysteme[n]“, welche „etwas von jener Kollektivität fest[halten], welche die Individuen vor der Erkrankung bewahrt“.

Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn alleine zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei […] Der horror vacui [Scheu vor der Leere, Anm. des Autors], mit dem sie sich ihren Bünden verschreiben, schweißt sie zusammen und verleiht ihnen die fast unwiderstehliche Gewalt

Das heißt „sozialisiert: im Rausch vereinter Ekstase, ja als Gemeinde überhaupt, wird Blindheit zur Beziehung und der paranoische Mechanismus beherrschbar gemacht, ohne die Möglichkeit des Schreckens zu verlieren […] Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung von Bünden […] Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn alleine zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei […] Der horror vacui [Scheu vor der Leere, Anm. des Autors], mit dem sie sich ihren Bünden verschreiben, schweißt sie zusammen und verleiht ihnen die fast unwiderstehliche Gewalt.“

Das totalitäre Mandat des kollektiven Schwarms eines „patriotischen, migrationskritischen Lagers“

Es ist das totalitäre Mandat des kollektiven Schwarms eines „patriotischen, migrationskritischen Lager“ in einer „Fundamentaloppostion zur herrschenden Migrationspolitik und zum Globalismus“, das sich hier Bahn bricht und welches als gemeinschaftliches Glaubenssystem mit einer „klaren inneren weltanschauliche Haltung“ schon immer als Kollektiv genau wusste, was für den einzelnen „Patrioten“ das Beste ist. Widerspruch, „Verschwörung und Proselytenmacherei“, wie von David Berger artikuliert, kann dabei nur als Häresie an der selbstgefassten „deutschen“ Volksgemeinschaft verstanden werden: zuerst müsse „Freiheit da sein, dann [können wir] unsere inneren Differenzen demokratisch austragen“. Freiheit heißt hier die Freiheit vom Ketzer Berger, seine Liquidation von jeder Partizipation am patriotischen Lager; und in der Konklusion sein Ausschluss vom Vaterland.

Der liberale Berger als dämonischer Widerpart der patriotischen Cheruben.

Es ist, mit Leo Trotzkis „Portrait des Nationalsozialismus“ konstatiert, in dieser selbstdefinierten Volksgemeinschaft, wie sie der Ethnopluralist in seinem „Patriotismus“ nur zu kollektivieren vermag, ein „mythologischer Schatten des Kleinbürgertums selbst, sein pathetischer Wahn vom tausendjährigen Reich auf Erden“, in welchem sich der Kleinbürger „am Märchen von den besonderen Vorzügen seiner Rasse“ besäuft und „die Nation […] das Gute“ sei. Ganz im Gegensatz dazu verkörpern „die Persönlichkeit und die Klasse – der Liberalismus und der Marxismus […] das Böse“: Der liberale Berger als dämonischer Widerpart der patriotischen Cheruben.

Der „typisch deutsche“ Sozialcharakter eines „deutschen Ideologen“

Doch diese quasi-religiöse Apologetik des Ideologen, die Sellner in einer „klaren inneren weltanschauliche Haltung“ für sich auch eindeutig wie unumstößlich reklamiert und zu deren Kontrapunkt der Häretiker Berger sich so nur manifestieren muss, ist in ihrem Kern so „typisch deutsch“, wie Marx und Engels es in ihrem Werk zur „deutschen Ideologie“ bereits 1845 reflektierten. Es ist die Deklaration „jedes herrschende[n] Verhältnis für ein Verhältnis der Religion“, dessen Umwandlung in einen „Kultus“ mit „Dogmen und dem Glauben an Dogmen“ ein Prädikat der „Deutschen“ sei, die sich „im Gebiet des ‚reinen Geistes‘“ bewegten und „die religiöse Illusion zur treibenden Kraft der Geschichte“ machten. Doch und so ergänzen Marx und Engels über diese gleichermaßen esoterische Nationalisierung beziehungsweise Patriotisierung jeder Frage durch diese „deutschen Ideologen“:

Sie erkennen die Taten andrer Völker gar nicht für historisch an, sie leben in Deutschland zu Deutschland und für Deutschland

„Diese ganze Geschichtsauffassung samt ihrer Auflösung und den daraus entstehenden Skrupeln und Bedenken ist eine bloß nationale Angelegenheit der Deutschen und hat nur lokales Interesse für Deutschland […] Überhaupt handelt es sich bei diesen Deutschen stets darum, den vorgefundenen Unsinn in irgendeine andre Marotte aufzulösen, d. h. vorauszusetzen, daß dieser ganze Unsinn überhaupt einen aparten Sinn habe, der herauszufinden sei […] Das rein Nationale dieser Fragen und Lösungen zeigt sich auch noch darin, daß diese Theoretiker alles Ernstes glauben, Hirngespinste wie ‚der Gottmensch‘, ‚der Mensch‘ etc. hätten den einzelnen Epochen der Geschichte präsidiert […] Alle andern Nationen, alle wirklichen Ereignisse werden vergessen […] Sie erkennen die Taten andrer Völker gar nicht für historisch an, sie leben in Deutschland zu Deutschland und für Deutschland“

Marx und Engels subsummierten, dass „diese hochtrabenden und hochfahrenden Gedankenkrämer, die unendlich weit über alle nationale Vorurteile erhaben zu sein glauben, sind also in der Praxis noch viel nationaler als die Bierphilister, die von Deutschlands Einheit träumen“. Stephan Grigat verleiht in seinem Artikel „Was heißt: antideutsch?“ dieser „polit-ökonomische[n] Konstellation“ die Ideologiekritik einer „spezifische[n] Form kapitalistischer Vergesellschaftung“, die so eine besondere Deutung erfährt: Grigat nennt sie im Geiste von Marx und Engels „deutsch“, denn:

„In Deutschland und Österreich existierte ein besonderes Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das letztlich zur Shoah geführt hat. Diese Konstellation kann als ‚deutsch‘ bezeichnet werden, weil sie sich in Deutschland erstmals durchgesetzt hat. Aber sie ist kein historisch oder geografisch eingrenzbares Phänomen, also weder auf den Staat Deutschland noch auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt. Daher ist das, was ‚deutsch‘ ist, auch verallgemeinerbar.“

So bringe diese „polit-ökonomische Konstellation“ eben auch „typisch deutsche“ Sozialcharaktere hervor, die „als deutsche Ideologen“ nunmehr „sowohl historisch als auch aktuell ganz offen mit Elementen der nationalsozialistischen Ideologie“ operieren. Solche pseudoreligiösen Ideologen, die einer volksgemeinschaftlichen Denkweise verhaftet, jeden Kritiker aus der Gemeinschaft der Heiligen des „patriotischen Lagers“ absondern wollen; Ideologen, die in ihrer „Fundamentalopposition“ gegen einen imaginierten „totalitären Staat“, eine neue „Freiheit“ schaffen wollen. Eine kodierte „Freiheit“, die in Wirklichkeit doch den bekannten Totalitarismus längst vergangener Zeit resublimiert; dies wieder im Gewand des Erlösers „mit dem Schmierengesicht und dem Charisma der andrehbaren Hysterie“ (Adorno und Horkheimer: Elemente des Antisemitismus).

Der „formale“ Jargon des Predigers im patriotischen Gottesdienst

Diese Rezitation der ewig gleichen Worthülsen zur Separation des Irrgläubigen Berger gewinnt jedoch „formalen“ Charakter. So ist mit Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ gesprochen, der so oben anklingende „patriotische“ wie quasi-religiöse Jargon Sellners ideologisch „einsatzbereit“, das heißt, dass dieser nun „formale“ Jargon „sorgt dafür, daß, was er möchte, in weitem Maß ohne Rücksicht auf den Inhalt der Worte gespürt und akzeptiert wird durch ihren Vortrag“.

Dieser Jargon macht uns klar, mit der Macht der bloßen Worte eines von der Youtube-Kanzel predigenden Sellners, dass Berger als „Feindzeuge“, der „Fundamentalopposition“ im Wege stehe, und in seiner „totale[n] Hegemonie über Migrationskritik“ als „Feindzeuge“ des „sanften Totalitarismus“ einer „linken Meinungsdiktatur“ wirke. Es ist der Kampf von Licht gegen Finsternis: der patriotische Messias Sellner trifft auf seinen Judas Berger und brandmarkt ihn mit dem Kainsmal des Antipatrioten, da dieser im Geiste von Jesaja 5:20 „aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis mache“. Adorno qualifiziert die Wirkung dieses esoterischen Heiligenscheins eines Apologeten patriotischer Glaubenswahrheit wie folgt:

Im patriotischen Gottesdienst weist uns der „deutsche Ideologe“ so den Weg zurück in die Mordbrennerei von Auschwitz.

„Demagogischen Zwecken ist dies Formale günstig. Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken […] Daß die Jargonworte, unabhängig vom Kontext wie vom begrifflichen Inhalt, klingen, wie wenn sie ein Höheres sagten, als was sie bedeuten, wäre mit dem Terminus Aura zu bezeichnen […] Diese [Aura] paart sich mit einer Unverbindlichkeit, die sie inmitten der entzauberten Welt disponibel oder, wie es wohl in paramilitärischem Neudeutsch hieße, einsatzbereit macht.“

Es bleibt also alles, wie es war. Der Jargon des „deutschen Ideologen“ ist „einsatzbereit“, um den Kritiker Berger zum antipatriotischen „Feindzeugen“ zu deklarieren, ihn als Gegner einer neuen „Freiheit“ dieser „spezifische[n] Form kapitalistischer Vergesellschaftung“ zu etablieren, als Antagonist einer selbstkonstituierten „deutschen“ Volksgemeinschaft deutscher „Patrioten“, die sich früher „in Deutschland und Österreich“ als „ein besonderes Verhältnis von Staat und Gesellschaft“ zeitigte, „das letztlich zur Shoah geführt hat“. Im patriotischen Gottesdienst weist uns der „deutsche Ideologe“ so den Weg zurück in die Mordbrennerei von Auschwitz.

Also abschließend gefragt: Sehr geehrter Martin Sellner, warum so „typisch deutsch“?

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PP-Redaktion
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