Freitag, 19. April 2024

Björn Höcke und die Thüringer AfD ziehen keine Lehren aus dem Holocaust

Ein Gastbeitrag von Dr. Dr. Marcus Ermler

Die letzten Wahlumfragen vor der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 legen nahe, dass die Thüringer AfD rund um ihren Spitzenkandidaten Björn Höcke circa 25% der Stimmen erzielen könnte. Damit könnten also ein Viertel der wahlberechtigten Thüringer einer Partei die Stimme geben, die vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz im September 2018 zum „Prüffall“ erklärt wurde, der Vorstufe für die „Beobachtung“ durch den Verfassungsschutz. Unter solch einen Beobachtungsstatus fallen in Thüringen bislang neonazistische Parteien wie die NPD, „DIE RECHTE“ und „Der III. Weg“.

Der Bundesvorstand der AfD selbst unternahm zu Zeiten der letztlich an Höcke gescheiterten und später aus der Partei ausgetretenen Parteivorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry 2015 wie 2017 den Versuch, Höcke wegen „übergroße Nähe zum Nationalsozialismus“ aus der Partei auszuschließen beziehungsweise ihn seiner Ämter zu entheben. Beides misslang bekanntermaßen und wird unter den heutigen Parteivorsitzenden Gauland und Meuthen nicht weiter vorangetrieben, die sich beide bereits zuvor für Höckes Verbleib in der AfD ausgesprochen hatten.

Lieber geben sich Gauland und Meuthen beim jährlichen Kyffhäuser-Treffen ein Stelldichein mit dem Höcke loyalen „Flügel“ der AfD oder referieren bei Götz Kubitscheks „Sommerakademie des Instituts für Staatspolitik“, der jährlichen Werbeveranstaltung und Nachwuchsmesse von Höckes Spiritus Rector. Dieses Stillhalten der AfD-Parteiführung und ihr Protegieren von Parteimitgliedern wie Strömungen innerhalb und außerhalb der AfD, die sich in fragwürdiger Nähe zum Nationalsozialismus beziehungsweise Antisemitismus bewegen, hat eine gewisse Kontinuität.

Antisemiten, NS-Verharmloser und BDS-Claquere in vorderster Front

So ist der Antisemit und BDS-Claquere Wolfgang Gedeon bis heute nicht aus der Partei ausgeschlossen worden, obwohl er beispielsweise 2017 und bereits damals ohne nennenswerten Widerspruch Resolutionen für einen Bundesparteitag der AfD einreichte, die davon sprachen, dass „Antisemitismus nicht wissenschaftlich, sondern im Wesentlichen ideologisch begründet“ sei, es einen „regelrechten Meinungsterror im Hinblick auf jüdische Themen“ gäbe sowie „wirtschaftliche Sanktionen und Boykottmaßnahmen gegenüber Israel (sog. BDS-Politik)“ notwendig seien.

Bekannte Landesvorsitzende wie Doris von Sayn-Wittgenstein und Andreas Kalbitz, deren Nähe zum Nationalsozialismus evident zu sein scheint, werden entweder gar nicht, wie im Falle von Kalbitz, oder wie bei der Beinahe-Parteivorsitzenden Sayn-Wittgenstein nur mit großem innerparteilichen Widerstand des „Flügels“ aus der Partei ausgeschlossen. Höcke selbst werden im Verfassungsschutz-Gutachten zur AfD zwei vollständige Abschnitte über „Aussagen von Björn Höcke auf politischen Veranstaltungen“ wie über „Björn Höckes Gesprächsband ‚Nie zweimal in denselben Fluß‘“ gewidmet. Eine der wohl bekanntesten Äußerungen Höckes, die einen Bezug zur NS-Zeit und dem Holocaust haben, fielen in seiner Dresdner Rede vom Januar 2017:

Wir Deutschen – und ich rede jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben – wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande [gemeint ist das Berliner Holocaust-Denkmal, Anm. des Autors] in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat […] Wir brauchen so dringend wie niemals zuvor diese erinnerungspolitische Wende um 180 Grad, liebe Freunde. Wir brauchen keinen toten Riten mehr in diesem Land. Wir haben keine Zeit mehr, tote Riten zu exekutieren [sic!]. Wir brauchen keine hohlen Phrasen mehr in diesem Land, wir brauchen ein lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt.“

Allerdings und das sei in Bezug auf Höcke und die Thüringer AfD der Vollständigkeit halber angemerkt: An der von den AfD-Bundesvorständen unter Lucke und Petry so attestierten offenkundigen „übergroße Nähe zum Nationalsozialismus“ bestanden zunächst sogar Zweifel beim Thüringer Verfassungsschutz, wie die Thüringer Allgemeine am 11. September 2019 berichtete:

Das Prüfverfahren wegen extremistischer Tendenzen innerhalb der Thüringer AfD hat im Landesamt für Verfassungsschutz zu starken internen Konflikten geführt. Nach Informationen dieser Zeitung stritten Präsident Stephan Kramer und der damalige Referatsleiter für Rechtsextremismus monatelang über Zuständigkeiten und Vorgehen […] In einer internen E-Mail an Kramer erhebt der Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen den Präsidenten. So seien die Fachleute im Amt während des Verfahrens gezielt ‚außen vor‘ gelassen worden. Zudem habe Kramer auf der Pressekonferenz im September 2018, auf der er die AfD zum ‚Prüffall‘ erklärte, ‚falsche und ungenaue Informationen‘ verwendet. ‚Auch von einer Verwendung […] des Artikels einer linksextremistischen Zeitschrift […] wäre dringend abzuraten gewesen‘, heißt es.“

Die Bundesrepublik als Gegenbild von Nazismus und Holocaust

Trotz dieser internen Konflikte prüft der Thüringer Verfassungsschutz nun seit September 2018, „ob man den Partei-Landesverband unter der Führung des AfD-Rechtsaußen Björn Höcke ganz oder in Teilen als rechtsextremistisch einstufen und unter geheimdienstliche Beobachtung stellen werde“. Was als Arbeitsauftrag heißt, „Parteitagsreden und andere Äußerungen aus Höckes Landesverband zu analysieren, also frei zugängliche Informationen – sowie ein Gutachten zu Verbindungen der Höcke-Leute in die rechtsextreme Szene zu schreiben“. Was den AfD-Bundesvorständen 2015 unter Lucke und 2017 unter Petry an Aufklärung nicht gelang, versucht der Thüringer Verfassungsschutz nunmehr endgültig zu evaluieren: Ob nämlich Björn Höcke und die Thüringer AfD sich in in der „Nähe zum Nationalsozialismus“ wie Antisemitismus bewegen.

Aber warum ist dies verfassungsrechtlich überhaupt von Bedeutung? Die besondere Rolle der Bundesrepublik Deutschland als Gegenbild zum NS-Regime sei für die „verfassungsrechtliche Ordnung“ identitätsprägend, wie es zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts festsetzen, wobei insbesondere und gerade der Umgang mit dem Holocaust im Zentrum stünde. Auf diese beiden wegweisenden Urteile berief sich übrigens auch der NPD-Verbotsantrag von 2013. So sprach das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil von 1958 (nachzulesen hier) als unmittelbare Folge des industriellen Massenmords an den Juden und somit zentrale Aufgabe für die deutsche Nachkriegsgesellschaft wie für folgende Generationen davon, dass:

Dem deutschen Ansehen hat nichts so geschadet wie die grausame Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus. Es besteht also ein entscheidendes Interesse daran, daß die Welt gewiß sein kann, das deutsche Volk habe sich von dieser Geisteshaltung abgewandt und verurteile sie nicht nur aus politischen Opportunitätsgründen, sondern aus der durch die eigene innere Umkehr gewonnenen Einsicht in die Verwerflichkeit.“

Gilt „Nie wieder Auschwitz“ auch für die Thüringer AfD?

Der Welt solle also deutlich gemacht werden, dass ein „Nie wieder Auschwitz“ keine hohle Phrase einer den Nazismus nie aufarbeitenden deutschen Gesellschaft sei, sondern vielmehr die Einsicht der eigenen inneren Umkehr von dieser Geisteshaltung der Weltöffentlichkeit allgemein gewahr werde. Diese öffentliche wie offensichtliche Abwendung von Nazismus und Antisemitismus, der die Bundesrepublik als Gegenbild zur Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus implementieren sollte, formulierte das Bundesverfassungsgericht in seiner Wunsiedel-Entscheidung von 2009 (zu finden hier) wie folgt:

Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung […] Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen […] und bildet ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung […] Das Grundgesetz kann weiterhin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden […] [um] eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.“

Beide Urteile halten also zusammengenommen das fest, was die Bundesrepublik Deutschland im Innersten zusammenhält, also gewissermaßen ihren Gründungsmythos konstituiert: (1) dass das deutsche Volk sich vom Antisemitismus abgewandt habe wie auch (2), dass die Bundesrepublik, genauer ihr Grundgesetz, das Gegenbild zum NS-Regime ist. Diesen zentralen Gründungsmythos in Frage zu stellen, kann demnach auch nur als ein direkter Angriff auf eben dieses Grundgesetz gewertet werden.

Im Kontext der Thüringer AfD und ihres Spitzenmannes Björn Höcke ist also nicht nur von Bedeutung, ob sie tatsächlich Nationalsozialisten oder Antisemiten sind, sondern bereits die Feststellung, ob sie den Gründungsmythos der Bundesrepublik als Gegenbild von Nazismus und Holocaust, mit all seinen inhärenten politischen Konsequenzen, anzweifeln. Und sich damit in der Interpretation des Lüth-Urteils beziehungsweise der Wunsiedel-Entscheidung bereits selbst zu Verfassungsfeinden erklären würden.

Thüringer AfD positioniert sich im Geiste der konservativen Revolution

Wie sieht die Thüringer AfD selbst ihr Verhältnis zur Bundesrepublik und zum benannten Gründungsmythos? Bedeutsam für die Klärung dieser Frage ist ein im Mai 2018 von der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag veröffentlichtes und bislang medial wenig beachtetes Positionspapier zu den Themen „Leitkultur, Identität, Patriotismus“. Das Verfassungsschutz-Gutachten zur AfD widmet diesem Papier im Abschnitt C-I-1.4 nur einen Zweizeiler, der die „Diktion und ideologischen Herleitung des Volks- und Kulturbegriffs“ im Papier anmahnt, ohne jedoch die weitaus brisanteren Aussagen zum Nationalsozialismus beziehungsweise Holocaust zu reflektieren. Gleiches gilt übrigens auch für die Berichte der WELT, der Süddeutschen Zeitung, des Focus, der FAZ und der ZEIT, wobei letztere dem Positionspapier sogar zuspricht, dass ein „Anerkennen der Wandelbarkeit von Identität ungewöhnlich für eine rechtskonservative Partei“ sei.

Die Thüringer AfD motiviert das Papier auf ihrer Website damit, dass sie sich hiermit „der Auflösung der Nation in eine multikulturelle Gesellschaft ebenso wie in einen bindungslosen ‚Interaktions- und Kommunikationszusammenhang‘ von Individuen“ entgegenstellen wolle, um so „den Prozessen, die auf die Zerstörung unserer Identität abzielen“ entgegenzutreten. Das, was die AfD neben der „deutschen Sprache“ als Identität ausmacht, so einerseits das „deutsche Grundgesetz reflektiert“ und andererseits die „Mythen“ Deutschlands kürt, beschreibt sie wie folgt:

Wie das deutsche Grundgesetz reflektiert jede Verfassung eine spezifische Nationalgeschichte und die aus dieser hervorgehende nationale Identität […] Was sodann die deutsche Identität ausmacht, manifestiert sich in geographischen Orten und historischen Daten, in Bauwerken und Denkmälern, in Bildern, Emblemen und Symbolen, in literarischen Werken, in Liedern und Gedichten, in repräsentativen Personen, in Traditionen, in Festen und nicht zuletzt in mythischen Erzählungen sowie in der besonderen Ausprägung bestimmter Tugenden, in denen sich die Eigentümlichkeiten des Nationalcharakters zeigen […] Die aufgezählten Erinnerungsorte, Vorgänge, Symbole oder Daten nehmen oft den Charakter von ‚Mythen‘ an […] Vielmehr ist ein Mythos eine Erzählung, deren Funktion gerade in der Identitätsstiftung und in der Integration von Gemeinschaft besteht […] Zu den Tugenden, die unsere kollektive Identität ausmachen, gehören beispielsweise die Liebe zu Genauigkeit und Präzision, Fleiß, Ordnungsliebe, Leistungsbereitschaft oder Pünktlichkeit “

Der ehemalige Verfassungsschützer Hans-Joachim Schwagerl nennt dies in seinem Buch „Rechtsextremes Denken: Merkmale und Methoden“, welches 1993 erschien, „die Vorstellungen der sogenannten Konservativen Revolution“, deren „Grundwerte“ demnach „Fleiß, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Standfestigkeit […] Familiensinn, Pflichtgefühl, Ordnung und Sauberkeit“ seien, die „in obrigkeitsstaatliche, vordemokratische, autoritäre Ordnungskonzepte eingebunden werden“.

Deutsche Identität ohne NS-Zeit und Holocaust

Der italienische Historiker und Pionier der Faschismusforschung, Emilio Gentile präzisiert diesen Kult um Mythen und Symbolik in seinem Werk „Der Faschismus: Eine Definition zur Orientierung“ als Faschismus-innewohnend in „eine[r] Kultur, die auf dem mythischen Denken und einer tragisch-archaischen Auffassung vom Leben beruht“, die sich „eher ästhetisch als theoretisch formuliert mit den Mitteln eines neuen politischen Stils und den Mythen, Riten und Symbolen einer Laienreligion, die dazu dient, die Massen kulturell-sozial zu einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft zu formen“.

Interessant ist nun weiterhin nicht nur das, was in den Augen der Thüringer AfD diese Identität ausmacht, sondern was in ihrer Aufzählung unerwähnt bleibt: Die Lehren aus der NS-Zeit, die das Lüth-Urteil und die Wunsiedel-Entscheidung determinieren. Denn Halt macht diese Definition gemeinsamer deutscher Identität vor der Zeit des Nationalsozialismus. So spricht die Thüringer AfD zwar davon, dass „das Verhältnis zum Nationalsozialismus Bestandteil der deutschen Identität geworden“ sei. Ohne jedoch zu reklamieren, dass der Nationalsozialismus wie auch der Holocaust bereits selbst „Bestandteil der deutschen Identität“ sind. Nationalsozialismus und industrieller Judenmord werden also aus dieser Identität ausgespart. Was mit dem ausschließlichen „Verhältnis zum Nationalsozialismus [als] Bestandteil der deutschen Identität“ gemeint ist, erklärt die Thüringer AfD so:

Dabei lässt sich seit der sogenannten 1968er-Bewegung, vor allem aber seit den 1980er Jahren beobachten, dass dieses Verhältnis [zum Nationalsozialismus] von politischer Seite zunehmend ideologisiert wurde […] Vielmehr werden heute zum einen mehr und mehr politische Entscheidungen unter Hinweis auf die NS-Diktatur möglichst ohne Diskussion durchzusetzen gesucht, und zum anderen begreift man die NS-Vergangenheit überhaupt als Auftrag, die Nation mit ihrer Geschichte verächtlich zu machen und alles Deutsche aus der Welt zu schaffen […] So laufen wir heute gerade in Deutschland Gefahr, unter dem alles verdunkelnden Schatten des Dritten Reiches zu einem geschichtslosen Volk zu werden […] [Wir fordern] die Besinnung darauf, dass die deutsche Geschichte weitaus mehr ist als die Geschichte der Jahre zwischen 1933 und 1945“

Thüringer AfD zweifelt Gründungsmythos der Bundesrepublik an

Hier hält die Thüringer AfD demnach fest, dass die Aufarbeitung der NS-Diktatur und des Holocausts dazu diene, „die Nation mit ihrer Geschichte verächtlich zu machen“ und „alles Deutsche aus der Welt zu schaffen“, um so „zu einem geschichtslosen Volk zu werden“. Wobei letzteres eine Verdrehung der Geschichte ist: Nicht „alles Deutsche [soll] aus der Welt“ geschaffen werden, vielmehr unternahmen die Nazis alles dafür, „alles Jüdische aus der Welt zu schaffen“. Ein feiner semantischer Unterschied, der doch einige Fragen über das Geschichtsverständnis der Thüringer AfD und ihre Lehren aus dem Holocaust aufkommen lässt.

Im Umkehrschluss heißt die Marginalisierung dieser „verdunkelnden Schatten des Dritten Reiches“ wie die Rückbesinnung auf eine „deutsche Geschichte[, die] weitaus mehr ist als die Geschichte der Jahre zwischen 1933 und 1945“, sowohl die Konsequenzen aus dem Lüth-Urteil als auch der Wunsiedel-Entscheidung anzuzweifeln: Es ist das in Frage stellen des Gründungsmythos der Bundesrepublik. Also keine weitere Gewissheit für die Welt, dass „das deutsche Volk […] sich von dieser Geisteshaltung abgewandt“ habe, wie es das Lüth-Urteil anmahnt. Keine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“ der Bundesrepublik und „bewusste[s] Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus“ mehr, wie es die Wunsiedel-Entscheidung konstatiert. Warum die Thüringer AfD die Notwendigkeit dieser gesellschaftlichen unantastbaren, absoluten und nicht in Frage zu stellender Tabus in Zweifel zieht, erklärt sie wie folgt:

Die politische Debatte im Deutschland der Gegenwart ist geprägt durch die Berufung auf eine ganze Reihe von Werten, denen man den Charakter quasi unantastbarer, absoluter und nicht in Frage zu stellender Tabus zuschreibt. Der Rekurs auf die entsprechenden Werteformeln dient nicht etwa der sachlichen Diskussion oder der Stiftung von Gemeinsamkeit, sondern vor allem dazu, abweichende Meinungen, Skepsis oder Kritik zu diskreditieren bzw. mundtot zu machen und die Vertreter anderer Auffassungen auszugrenzen. Allen diesen Formeln ist gemeinsam, dass sie strittige politische oder rechtliche Zusammenhänge moralisieren, sie dabei auf ein Gut/Böse-Schema reduzieren und für sich selbst jeweils beanspruchen, die Seite des Guten zu repräsentieren.

Hier zeigt die Thüringer AfD, obwohl sie im Zusammenhang von „Erinnerungsorte[n], Vorgänge[n], Symbole[n] oder Daten“ selbst von Mythen zur deutschen Identitätsstiftung spricht, dass sie dem tatsächlichen deutschen Gründungsmythos zur „Stiftung von Gemeinsamkeit“, rekapituliert in Lüth-Urteil wie Wunsiedel-Entscheidung, nur auf ein „Gut/Böse-Schema reduzieren“ will, das als „entsprechende Werteformel“ einzig „strittige politische oder rechtliche Zusammenhänge moralisieren“ soll. In seiner Implikation bedeutet diese Feststellung, dass die AfD diesen Gründungsmythos zur Identitätsstiftung anzweifelt und demnach auch das Grundgesetz.

Wenn die NS-Zeit zur Identitätsstiftung missbraucht wird

Kontrast zu dieser bewussten Ausklammerung der NS-Zeit aus der deutschen Identität ist das Kirchenpapier „Unheilige Allianz – Der Pakt der evangelischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen“ der Thüringer AfD aus dem Juni 2019. Hier nun ist der Bezug auf die NS-Zeit zweckmäßig und respektabel, mündet er doch in einer Gleichsetzung der heutigen deutschen evangelischen Kirche mit den „Deutschen Christen“, die zur Zeit des Dritten Reichs den deutschen Protestantismus mit dem Nazismus zu verknüpfen suchten. Diese Identitätsstiftung manifestiere sich in der „Kollaboration mit dem Staat als eine der drei Hauptgefahren des Luthertums“. Ferner sei es „eine Mentalität der Anpassung und des Andienens an die Macht, und zwar nicht zuletzt um des eigenen Vorteils willen“. Und weiter:

Vom Bündnis mit den Thronen des Kaiserreiches über den Nationalsozialismus und die DDR-Diktatur bis zum linksgrünen Doktrinarismus der Landes- und der Bundesregierungen unserer Tage – immer wieder hat sich die offizielle evangelische Kirche (keineswegs alle ihre Gläubigen) mit der Macht verbrüdert. Dabei war sie auch bereit, sich auf totalitäre Regime einzulassen und sich weltanschaulich entsprechend auszurichten […] Heute paktiert die evangelische Kirche mit dem links-grünen Zeitgeist.“

So mahnt die Thüringer AfD eine „oft mutwilligen Verfälschung der biblischen Botschaft im Sinne politischer Parteinahme“ an, die evangelische Kirche trachte danach „durch Diffamierung und Ausgrenzung die eigene linksgrüne Weltanschauung zur alleinigen Wahrheit zu erheben“. Doch dieser „zeitgeistorientierte manipulative Umgang mit der Bibel“ sei nicht neu:

So passte etwa Reichsbischof Ludwig Müller im Jahr 1936 Bibeltexte dem damaligen nationalsozialistischen Zeitgeist und dessen Sprache an.

Auch in einem „Alternativen Bericht“ der Thüringer AfD zur Enquete-Kommission „Rassismus und Diskriminierung“ des Thüringer Landtages vom September 2019 ist der Bezug zur NS-Zeit nunmehr angemessen als identitätsstiftendes Merkmal. So stellt die Fraktion der Thüringer AfD im Landtag im Vorwort ihres Berichts eine Dualität zwischen „Rassenwahn der Nationalsozialisten“ und dem „Rassismuswahn der Multikulturalisten“ her:

Die Broschüre versteht sich auch als zeithistorisches Dokument. Der Wahnwitz der gegenwärtigen Politik, dieses Agieren jenseits von Sinn und Verstand: hier werden die geistigen Wurzeln offenbar. Der Rassenwahn der Nationalsozialisten wird gespiegelt vom Rassismuswahn der Multikulturalisten. In diesem Wahn werden die Selbstbehauptung als Individuum und als Volk, die Bewahrung von Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Rechte der Frau und so weiter als Rassismus verunglimpft und bekämpft.

In diesen beiden Dokumenten zeigt die Thüringer AfD auf, dass ihr der Bezug zur NS-Zeit als Merkmal deutscher Identitätsstiftung dann adäquat und zweckgemäß erscheint, wenn es der Diffamierung des politischen Gegners dient. In diesem Fall der evangelischen Kirche und ihres Pakts mit dem „links-grünen Zeitgeist“ als historische Fortführung eines Einlassens auf „totalitäre Regime“, wie es die Deutschen Christen mit der „Kollaboration mit dem Staat“ der Nazis zeigten. Sowie einer Parallelität zwischen dem „Rassenwahn der Nationalsozialisten“ und dem „Rassismuswahn der Multikulturalisten“, was wiederum eine Fortführung der Totalität der Nazis im „links-grünen Zeitgeist“ implizierte.

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