Donnerstag, 21. November 2024

Das Theorieblatt des Höcke-Flügels und seine NS-Verharmlosung

Ein Gastbeitrag von Dr. Dr. Marcus Ermler

Götz Kubitscheks Sezession, die als das Theorieblatt des Höcke-„Flügels“ gilt, ist eine Fundgrube von Verharmlosungen der NS-Zeit wie des Holocausts, gerne und besonders mit Gleichsetzungen des NS-Unrechtsregimes mit dem Staat Israel oder dem Zionismus, wie auch einer „Zionismuskritik“, die nahtlos in eine Mär von der jüdischen Weltverschwörung übergeht. So findet man dort den Artikel zur „jüdischen Frage“ von Siegfried Gerlich vom Dezember 2010, der Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Zionismus postuliert:

Trotz evidenter völkischer Affinitäten verbarg die zeitweilige politische Allianz zwischen Zionisten und Nationalsozialisten doch nie die asymmetrische Rivalität zweier sich auserwählt dünkender Völker, von denen gerade der Führer des stärkeren die Vernichtung des schwächeren anstrebte und schließlich auch durchführte. Paradoxerweise aber beglaubigte die Judenvernichtung nur den verdienten Untergang des Dritten Reiches, während sie dem neugegründeten Judenstaat sein moralisches Existenzrecht verbürgte.

Martin Sellner, der Sprecher der Identitären Bewegung Österreichs, behauptet in seinem Artikel „Der Schuldkult ist nicht postmodern“ aus dem März 2019 eine Wesensähnlichkeit zwischen dem „Vernichtungsantisemitismus des NS“ und einem „Vernichtungsantifaschismus, der seine Erlösung darin sucht, den unsichtbaren und dadurch omnipräsenten Nazi ausfindig und unschädlich zu machen“. Weiter schreibt Sellner über diese „völkische Schuldmetaphysik“ der „neuen Linken“:

Gerade, weil sich keiner mehr offen zum Faschismus und NS bekennt, vermutet der fanatische Antifaschist eine Gestalt zwischen Savonarola, Robespierre und Berija. Der falsche Schein des Populismus, Konservativismus und Liberalismus sind nur Abschattungen des metaphysischen Hitlers. Von Mordanschlägen auf die Populisten (Magnitz) bishin zur feierlich verkündeten Souveränitätsaufgabe (No borders), und dem ersehnten Ethnozid (Deutschland verrecke), folgt alles politische Handeln der neuen Linken dieser völkischen Schuldmetaphysik.

Während die Thüringer AfD in ihrem Positionspapier „Leitkultur, Identität, Patriotismus“ einen Kult um Mythen zur deutschen Identitätsstiftung aufbaut – hierbei dann jedoch NS-Zeit wie Holocaust ausblendet – artikuliert sich in der „Zionismuskritik“ der Sezession, in Bezug auf den Gründungsmythos Israels, die jüdische Weltverschwörung. So schreibt Benedikt Kaiser in seiner Buchrezension „Mythos Israel“ vom Juni 2016 über Ilan Pappes Werk „Die Idee Israel – Mythen des Zionismus“ dem Buch eine „kluge Zionismuskritik“ zu, in der das „identitätsstiftende Narrativ von den sich selbst schützenden Israelis gegen eine von Anfang an feindliche Umgebung […] vor allem dem Schließen der eigenen Reihen und der Setzung selektiver Geschichtsschreibung dient“. So habe dies „mit dem ehernen Gründungsmythos und weiteren fundamentalen Legenden des Zionismus nicht viel gemein“. Und weiter konstatiert er im Geiste von Verschwörungstheorien, dass der Staat Israel sich für den Erhalt seines Gründungsmythos eigene „islamische Dämonen“ baue:

Zu guter Letzt kann mit Pappe auch die derzeitige israelische Aggression gegen das säkulare Syrien begründet werden: Die direkte Stärkung neofundamentalistischer Terrorgruppen wie der Al-Qaida-Filiale Nusra-Front sorgt dafür, daß aus dem Staatszerfall Syriens ein neuer islamischer Dämon (Pappe) hervorgeht. So könne Israel auch zukünftig einen weiteren liebgewonnenen Mythos pflegen: Jenen von Israel als Hort der Stabilität inmitten arabisch-muslimischer Barbarei.

Der Kronzeuge der Holocaust-Leugner: „Davon haben wir nichts gewusst“

Die Sezession gab im April 2007 Fritjof Meyer, von 1966 bis 2002 als Leitender Redakteur für Ost- und Außenpolitik beim „Spiegel“ wirkend, in seinem Artikel „Davon haben wir nichts gewußt“ Raum, seiner linksliberale Kronzeugentätigkeit für Holocaust-Leugner und Relativierer des NS-Terrors, wie es die DIE WELT 2002 in Bezug auf Meyers fragwürdige Neuberechnungen der Ermordeten des Konzentrationslagers Auschwitz artikulierte, eine weitere Anekdote hinzuzufügen. So beschwor Meyer in seinem Artikel, dass „die Versuche nicht [enden], eine Kollektivschuld der diktatorisch regierten Bevölkerung an den Staatsverbrechen zu behaupten, natürlich nur bei den Deutschen“. Damit einher ging für Meyer auch eine Erfindung einer deutschen „‚vast majority‘, die vom Judenmord nicht nur gewußt, ihn auch gewünscht habe und zum eigenhändigen Vollzug bereit gewesen sei“.

Schließlich habe das Hitler-Regime verschwiegen, „was mit den Juden geschah […] in der Propaganda fanden die Deportationen nicht statt und der Antisemitismus trat 1942 in den Hintergrund“. Ganz im Gegensatz dazu habe auch „das Protokoll der Wannseekonferenz […] nicht die Ermordung, sondern die Vertreibung der europäischen Juden vorgesehen“. So unternimmt Meyer in diesem Artikel den Versuch die deutsche Bevölkerung des Dritten Reiches von jeder Verantwortung frei zu sprechen. Ganz im Duktus der Thüringer AfD die „NS-Vergangenheit überhaupt als Auftrag [zu begreifen], die Nation mit ihrer Geschichte verächtlich zu machen und alles Deutsche aus der Welt zu schaffen“. So greift er hierfür auf ein Buch des Historikers Peter Longerich zurück:

Longerich meint, die Ankunft der Massentransporte in Auschwitz (wobei Hunderttausende Häftlinge auch das Lager verließen), die weithin sichtbaren hohen Flammen (die von Kremierungsexperten bestritten werden) und der Geruch verbrannter Leichen (eher der IG-Farben-Chemiefabriken) hätten beobachtet werden können […] [Longerich] kommt dennoch zu dem Schluß: ‚Angesichts der großen Zahl potentieller Quellen über den Vernichtungsprozeß muß es eigentlich erstaunen, daß die heute noch feststellbaren Gerüchte über die Verwendung von Gas und insbesondere über die Existenz von Vernichtungslagern so vage beziehungsweise so rar sind‘. Das läßt sich erklären. Auch der Gasmord in Auschwitz war eine ‚Geheime Reichssache‘, deren Verrat mit der Todesstrafe bedroht war. Das in der deutschen Geschichte unikale Verbrechen vermochten denn auch die Vollstrecker vor Ort und ihre Befehlsgeber in Berlin so total zu verhüllen, daß nur sie selbst über exakte Kenntnisse verfügten.“

So stellt Meyer schließlich auch historische Fakten und Daten in Bezug auf die Todesmaschinerie Auschwitz in Frage. Insbesondere negiert er dabei auch die Verantwortung und Schuld der deutschen Bevölkerung, indem er den Erkenntnissen Longerichs sein Narrativ gegenüberstellt, in welchem er der Clique um Hitler zuschrieb, die wahre Dimension der Judenmorde vor der deutschen Bevölkerung verheimlicht zu haben. Schlussendlich konstatiert Meyer damit, dass Longerich „es nicht hat belegen können – [vielmehr] das Gegenteil glaubhaft gemacht: Davon haben wir wirklich nichts gewußt“. Ins Bild dieser Erzählungen und Relativierungen passt auch gut eine kurze Anmerkung, die Martin Lichtmesz in seinem Artikel „‚Holocausts of Communism‘-Test“ vom April 2009 von sich gab:

Über die Verbrechen des Nationalsozialismus und jenen Genozid, für den sich der in mehrerer Hinsicht problematische Begriff ‚Holocaust‘ durchgesetzt hat, weiß jedermann bestens Bescheid. Zumindest bildet sich das jedermann ein, besonders in Deutschland, wo man sich mitunter strafbar macht, wenn man in böser Absicht sein Schulbuchwissen nicht korrekt memoriert oder ein schlechtes Zahlengedächtnis hat.“

Björn Höcke tritt Andenken an sechs Millionen ermordete Juden mit Füßen“

Der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Jüdische Weltkongress und die Leiter von KZ-Gedenkstätten protestierten wiederholt gegen derlei „Geschichtsleugnung“ aus dem Höcke-Flügel. Der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, nannte die AfD nach ihrem Einzug in den Bundestag im Septemer 2017, so berichtete es die WELT, eine „schändliche reaktionäre Bewegung, die an das Schlimmste an Deutschlands Vergangenheit erinnert und verboten werden sollte“. In Bezug auf Björn Höcke sprach Lauder im Interview mit der WELT vom März 2017 davon, dass dessen Aussage vom „Mahnmal der Schande“ über das Berliner Holocaust-Denkmal „eine Schande“ sei, wie „ die gesamte AfD“. Weiter ergänzte Lauder:

Diese Partei hat keinen Platz in Deutschland. Ich hoffe, dass sie bald von der politischen Bühne verschwindet […] Björn Höcke hätte nie [vom Wall Street Journal] interviewt werden dürfen. Was er in seiner Rede in Dresden und gegenüber dem Wall Street Journal sagte, war absolut schockierend und abstoßend. Er klang wie ein Fürsprecher von Hitler. Für mich ist klar, dass sich die AfD der extremen Rechten anbiedert. Sie spielt mit dem Feuer.“

Dem Zentralrat der Juden in Deutschland, in Person von dessen Zentralratspräsidenten Dr. Josef Schuster, nach seien Höckes Äußerungen „an Geschichtsklitterung kaum zu überbieten“, sie enthielten „ein solches Maß an Geschichtsleugnung, Antisemitismus und Hetze“, womit evident sei, dass „in der AfD […] Antisemitismus salonfähig“ wäre. So erscheint in Schusters Augen „eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz angebracht“. In einer Pressemitteilung des Zentralrats der Juden bezüglich Höckes Rede vom „Denkmal der Schande“ erklärte Schuster im Januar 2017:

Das Berliner Holocaust-Denkmal als ‚Denkmal der Schande‘ zu bezeichnen, wie es Björn Höcke getan hat, ist zutiefst empörend und völlig inakzeptabel. Damit tritt Björn Höcke das Andenken an die sechs Millionen ermordeten Juden mit Füßen und relativiert das schwerste und in diesem Ausmaß einzigartige Menschheitsverbrechen der Geschichte. Die AfD zeigt mit diesen antisemitischen und in höchstem Maße menschenfeindlichen Worten ihr wahres Gesicht. Dass 70 Jahre nach der Schoah solche Aussagen eines Politikers in Deutschland möglich sind, hätte ich nicht zu glauben gewagt.“

In der Folge von Höckes Dresdner Rede war für den stellvertretenden Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora im Januar 2017 die „Teilnahme von Herrn Höcke an der Kranzniederlegung im ehemaligen KZ Buchenwald nicht akzeptabel“. Der Ehrenpräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos wehrte sich „gegen das Erscheinen von Verharmlosern beim Gedenken an der Stätte unseres Martyriums“. Die Süddeutsche Zeitung berichtete im Oktober 2017 davon, dass die Leiter mehrere KZ-Gedenkstätten vor der AfD und denjenigen warnten, die eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert haben. Der Direktor der Stiftung Buchenwald-Dora warnte weiter:

Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ist ein unverzichtbarer Bestandteil des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Sie wird von maßgeblichen Funktionsträgern der AfD infrage gestellt.“

Das Judentum als Bedrohung für die deutsche Identität“

Um zu einer weiteren publizistischen Einschätzung der Thüringer AfD im Allgemeinen und Björn Höcke wie der Sezession im Besonderen zu kommen, kann man sich die Arbeit von Andreas Kemper, so beispielsweise in dessen Artikel „Muss die AfD Thüringen verboten werden?“ vom Januar 2017, Thomasz Konicz, in dessen telepolis-Beitrag Eine ganz normale (Nazi-) Partei? vom Mai 2018, Jonas Fedders, in dessen Artikel „Antisemitismus in der Neuen Rechten“ über Kubitscheks Sezession vom August 2019, oder Jan Riebe, in dessen allgemeiner gehaltenem Artikel „Die AfD und der Antisemitismus“ vom Juli 2017, vergegenwärtigen, die sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Höcke zugetanen Teilen der AfD hervortun; dies mit einem Blick von Außen. So schreiben Kemper und Fedders in den referenzierten Artikel über Höcke beziehungsweise Kubitscheks Theorieblatt Sezession:

[Es] zeigt sich, dass Höcke alle Bestandteile des Volksgemeinschaftskonzeptes vertritt. Darüber hinaus bedient auch Höcke sich der nationalsozialistischen Rhetorik […] Wenn Höcke aufgrund seines Konzeptes der Volksgemeinschaft und aufgrund des Rückgriffs auf NS-Rhetorik ähnlich verfassungsfeindlich ist wie die NPD, wenn er und die Partei AfD (er wurde Ende des Jahres 2016 mit 94% als Parteivorsitzender in Thüringen bestätigt) aber sehr viel erfolgreicher ist als die NPD, müsste dann nicht zumindest der Thüringer Landesverband der AfD verboten werden?“ (aus Andreas Kemper: Muss die AfD Thüringen verboten werden?)

Das Judentum steht in der Sezession für Universalismus, Kosmopolitismus und Modernität und wird deshalb von der intellektuellen Neuen Rechten als Bedrohung für die deutsche Identität wahrgenommen – nicht, weil Jüdinnen und Juden eine andere, konkurrierende Identität hätten, sondern weil ihre Nicht-Identität das Konzept ethnischer Identität schlechthin aufzulösen drohe. Der Kampf um die Wahrung der ethnokulturellen Identität wendet sich so gegen Jüdinnen und Juden.“ (aus Jonas Fedders: Antisemitismus in der Neuen Rechten)

Im Magazin Novo veröffentlichte Nico Hoppe Mitte September 2019 einen Artikel über Rechte Gräben“, der sich unter Anderem einer Sektion der „Illiberalen um Götz Kubitschek“ und dessen „Antaios-Verlags aus Schnellroda“ widmete. Dieser Beitrag korrespondiert mit Jonas Fedders Einschätzung. Besonders im Blick behielt Hoppe dabei „das Verhältnis der Schnellrodaer zu Israel und den USA“, welches er als „mindestens ambivalent, in vielen Fällen von einer tiefen Aversion geprägt“ klassifizierte. So äußere man sich dort „abfällig über das ‚USA- und Israel-Partisanentum‘ Liberalkonservativer“. Weiter schreibt Hoppe über das Verhältnis zum Antisemitismus und Israel:

Im Gegensatz zum prowestlichen Teil findet man in den Verlautbarungen und Texten des Schnellrodaer-Umfelds statt eines konsequenten Eintretens gegen Antisemitismus vages Geschwätz von einer Antisemitismuskeule; statt Solidarität mit der einzigen Demokratie im Nahen Osten Verständnis für Antizionismus, das sich auch noch als differenziert aufspielt; statt einer weithin normalisierten Erinnerungskultur beschwörendes Geraune vom alles umfassenden Schuldkult.“

Beschweigt Höcke die Verbrechen des Dritten Reichs?

Interessant ist auch der Innenblick, das heißt die Stimmen aus der konservativen Publizistik Deutschlands. Hierbei tun sich insbesondere Dieter Stein, der Chefredakteur der jungen Freiheit – einer Wochenzeitung, die gemeinhin als Sprachrohr der AfD gilt –, sowie David Berger, ehemaliger Professor am Vatikan und bis Juli 2019 Mitglied des Kuratoriums der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, mit mannigfaltiger wie detaillierter Kritik an Höcke, Kubitschek und ihres Umfelds hervor. Die Worte Steins und Bergers haben ein nicht zu unterschätzendes Gewicht in der politischen Rechte, gerade in deren national- wie liberalkonservativen Ausprägung.

Stein hat sich in seinen beiden jF-Artikeln „Das Höcke-Problem“ (von 2017) beziehungsweise „Bescheidener Weltenlenker“ (von 2019) dezidiert mit Höckes „Mischung aus schwülstigem Pathos und großspurigem Auftreten“ auseinandergesetzt, mit der dieser „die Debatte [befeure], die AfD könne zu einer rechtsradikalen bis rechtsextremen Formation mutieren“. So sprach er im 2017er Artikel davon, dass Höckes bekannte Dresdner Rede über das „Denkmal der Schande“ (gemeint ist das Berliner Holocaust-Denkmal, Anm. des Autors) und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ nunmehr „kein Versehen, sondern Beleg […] für seine einschlägige politische Positionierung“ sei. Weiter schrieb Stein im 2019er Artikel hierzu:

Was soll eine 180-Grad-Wende bedeuten? Völliges Beschweigen der Verbrechen des Dritten Reiches? […] [Höcke meldet] sich grundsätzlich nicht kritisch öffentlich zu Wort […], wenn sich AfD-Politiker eindeutig antisemitisch oder rechtsextrem äußern? Keinen Mucks hörte man von ihm zum baden-württembergischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon oder zu Doris von Sayn-Wittgenstein […] Sein Plädoyer [ist], mit der Linken zusammenzuarbeiten, um zu einer ‚kapitalismusüberwindenden Position‘ zu gelangen und einen nationalen Sozialismus zu schaffen, den er […] ‚solidarischen Patriotismus‘ [nennt]

Die „intellektuell parfümierten Nazis“ vom Schnellroda

Berger sieht in Höcke keinen Konservativen und argumentiert anhand dessen mangelhafter christlich-theologischer Fundierung, so sei „Höcke mit seiner bibelfremden, skurrilen Germanentümelei und seiner unklaren und daher ausufernden Mentalität gerade nicht [konservativ]“. Berger selbst machte die Erfahrung, dass er bei seiner Kritik an Höcke „regelmäßig Hassmails [bekäme], die fast vermuten lassen, um Höcke habe sich eine kleine sektiererische Gruppe gebildet […] und [diese Mails] dann auch alles an Antisemitismus und Homohass“ rausließen.

SeinenRücktritt aus der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung begründete Berger anhand der „problematische Tendenzen am extrem rechten Rande der AfD (Björn Höcke, Wolfgang Gedeon, Doris von Sayn-Wittgenstein usw.) und bei der vom Verfassungsschutz überwachten ‚Identitären Bewegung‘ und den ‚Neurechten‘ von ‚Schnellroda‘ [gemeint ist das Rittergut Schnellroda von Götz Kubitschek und dessen Verein für Staatspolitik, Anm. des Autors] sowie die gefährliche Hetze und Hassreden im Zusammenhang mit dem Mord an Regierungspräsident Lübcke“. Über die neuen Kuratoriumsmitglieder aus dem Umfeld von Kubitschek kommt Berger zu folgender Einschätzung, über die auchDIE WELT berichtete:

Die AfD sinkt immer tiefer in den braunen Morast: Die Erasmusstiftung holt die ‚intellektuell parfümierten Nazis‘ vom Schnellroda in ihren Vorstand. Martin E. Renner [AfD-Bundestagsabgeordneter und bis 2017 Landesvorsitzender der AfD-NRW, Anm. des Autors] pflegt eifrig eine Kolumne auf einer Seite, die die Schuld der Deutschen am Beginn des Zweiten Weltkriegs und in den Kommentaren darauf den Holocaust leugnen lässt. Alice Weidel, die Frau ohne Überzeugung, aber voller Machtgeilheit, kriecht dem Neurechten Kubitschek bei einem Auftritt in Schnellroda in den Hintern“

Folgenlos blieb diese dezidierte Kritik an Höcke und dessen „Flügel“ für beide nicht. Sie gelten in den Kreisen um Höcke und dessen Vordenker Kubitschek seitdem als Nestbeschmutzer oder in Kubitscheks Worten: als „antifaschistische Stellen-Markierer“. Höcke selbst nennt sie „Feindzeugen“, die „sich bei öffentlichen Auftritten zu einem Kammerjäger-Jargon hinreißen“ lassen, um „Zwietracht in unsere Reihen zu tragen und schwelende Konflikte zu schüren“ (Seitenausdruck liegt Philosophia Perennis vor). Mehr noch attestiert Höcke Stein im Interview mit Kubitscheks Sezession Artikel „im schlechten Stile eines Antifa-Pamphlets oder VS-Gutachtens“, die mit „mit Hygienemaßnahmen und vorbildlichem Verhalten“ das „Establishment“ beeindrucken wollen.

Höcke und Kubitschek stellen Gründungsmythos in Frage

So kann man abschließend festhalten, dass Björn Höcke, die Thüringer AfD wie auch Höckes Spiritus Rector Götz Kubitschek und dessen Schnellrodaer-Umfeld rund um sein Theorieblatt Sezession den Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland in Wort und Schrift in Frage stellen und sich damit, in der Lesart des Lüth-Urteils, der Wunsiedel-Entscheidung wie des NPD-Verbotsantrag von 2013, mehr als eindeutig außerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung bewegen. Obwohl die genannten Akteure allesamt einen Kult um Mythen zur deutschen Identitätsstiftung konstituieren, mehr noch reklamieren, werden NS-Zeit sowie der Holocaust hieraus ausgeschlossen. So sei die „deutsche Geschichte weitaus mehr […] als die Geschichte der Jahre zwischen 1933 und 1945“, wie es das Positionspapier „Leitkultur, Identität, Patriotismus“ der Thüringer AfD postuliert.

Die öffentliche und offenkundige Auseinandersetzung hiermit, wie es Lüth-Urteil und Wunsiedel-Entscheidung anmahnen, habe vielmehr „den Charakter quasi unantastbarer, absoluter und nicht in Frage zu stellender Tabus“, die letztlich nur dem „Establishment“ dazu diene die „NS-Vergangenheit überhaupt als Auftrag [zu begreifen], die Nation mit ihrer Geschichte verächtlich zu machen und alles Deutsche aus der Welt zu schaffen“. Diese Verdrehung der deutschen Geschichte, in der faktisch wie unumstößlich nicht „alles Deutsche aus der Welt“ geschaffen werden sollte, sondern vielmehr die Nazis mit ihrer „Endlösung“ alles dafür unternahmen, „alles Jüdische aus der Welt zu schaffen“, lässt weitere Zweifel am Geschichtsverständnis der Thüringer AfD wie ihrer Lehren aus dem Holocaust aufkommen. Erklärt jedoch Höckes Tenor einer „erinnerungspolitische[n] Wende um 180 Grad“ und eines „Denkmals der Schande“.

Die Integration von NS-Zeit und Holocaust in eine spezifisch deutsche Identitätsstiftung ist der Thüringer AfD und ihrem Schnellrodaer-Umfeld nur dann zweckdienlich, wenn es der Verunglimpfung des politischen Gegners dient: so in der Gleichsetzung (beziehungsweise im Postulat von Dualitäten) von „Rassenwahn der Nationalsozialisten“ und „Rassismuswahn der Multikulturalisten“, von „Vernichtungsantisemitismus“ und „Vernichtungsantifaschismus“ oder gar von Nationalsozialismus und Zionismus. Überdies werden kritische Rezipienten aus der konservativen Publizistik Deutschlands, wie Dieter Stein oder David Berger, von Höcke und Kubitschek als „Feindzeugen“ und „antifaschistische Stellen-Markierer“ denunziert, die einen „Kammerjäger-Jargon“ pflegten und „Zwietracht in unsere Reihen“ trügen.

Ob all dies in seiner Konsequenz schließlich dazu führt, die genannten Akteure und Strukturen selbst nun auch definitiv und bestimmt als nationalsozialistisch beziehungsweise antisemitisch einzustufen, verbleibt als Arbeitsaufgabe für den Thüringer Verfassungsschutz.

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