Freitag, 29. März 2024

Wer bekommt in Brüssel welchen Top-Job und warum?

Donald Tusk (EU-Ratspräsident) ist um seinen Spezialauftrag, den er von den europäischen Regierungschefs erhalten hat, nicht zu beneiden. Er gleicht der Quadratur des Kreises. Er sucht die Kandidaten für die vier Top-Jobs, die in diesem Jahr zur Wahl stehen werden. Da gibt es gegensätzliche Ambitionen zwischen den einzelnen Positionen der Interessen und der Mitgliedstaaten. Ein Gastbeitrag von Dieter Farwick.

Tusks Aufgabe wird auch dadurch erschwert, dass die Europäische Volkspartei (Weber) und die Sozialdemokraten (Timmermans) die gemeinsame aktuelle absolute Mehrheit verloren haben und damit auf die Unterstützung von Koalitionspartnern angewiesen sind – auch auf kleinere.

Über der Frage der neuen Koalitionsparteien liegt noch dichter Nebel. Mit der Niederlage ihrer Parteien haben Weber und Timmermans ihr Trumpfass verloren: Das vermeintliche Zugriffsrecht der ehemaligen Spitzenkandidaten. Die europäischen Regierungschefs werden am Ende entscheiden.

Die Lage der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ist schlecht. Im Grunde sind die EU und die Eurozone im Weltvergleich bereits gescheitert. Die bisherigen wirtschaftlichen Erfolge haben Problembereiche verdeckt. In nahezu allen High-tech-Bereichen befinden sich Europa, EU und Eurozone in der unteren Tabellenhälfte. China, Indien, Südkorea und die Vereinigten Staaten bilden die elitäre Spitzengruppe.

Die Aufgaben der vier Spitzenpolitiker werden immer schwieriger zu bewältigen. Sie bewegen sich nicht auf einem freundlichen Osterspaziergang, sondern in einem Minenfeld.

Als Skeptiker der Eurozone und der EU – nicht Gesamteuropas – stellt sich mir die Frage, ob neues Spitzenpersonal bei der grundsätzlichen Misere Erfolg haben kann. Es kommt hinzu, dass die größere Zersplitterung der Parteien die Entscheidungsfindung im Parlament und die Zusammenarbeit mit der EU-Kommission erschweren wird.

Die Kür der Kandidaten

Das Anforderungsprofil für die vier Top-Jobs – EU-Präsident (Juncker), Ratspräsident (Tusk), Präsident der EZB (Draghi) und für die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (Mogherini) ist sehr umfassend.

Folgende Kriterien müssen u.a. von Tusk berücksichtigt werden:

# Führungsfähigkeiten

# Positive Erscheinung und Charisma sowie Empathie

# Persönliche Integrität

# Verantwortungsbewusstsein

# Qualifikation für Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft (nachgewiesen)

# Strategisches Denken und Handeln

# Erfahrungen in politischen Spitzenpositionen (Präsident oder Minister )

# Verhandlungsgeschick

# Ein geopolitisches Gleichgewicht von Nord und Süd sowie West und Ost innerhalb der EU

# Die finanzielle und wirtschaftliche Stabilität des Heimatlandes sowie dessen Willen und Fähigkeit zur Anwendung von „smart power“ – die Kombination von „hard“ und „soft power“. Beide Säulen begründen das Ansehen und das Gewicht des jeweiligen Landes

# Frage des Geschlechts – zwei gegen zwei?

# Psychische und physische Belastbarkeit

# Familiäres Umfeld

# geistig-moralische und finanzielle Unabhängigkeit

# kein Mandat des Heimatlandes; er/sie muss das Ganze vor seinen Teilen sehen (Beispiel falsch: Draghi)

# frühere Tätigkeiten und frühere Auftraggeber

# Beziehungsgeflecht/Netzwerke

# Neutralität gegenüber Einflüssen des Kapitals

# Gute Sprachkenntnisse (Deutsch, Englisch und Französisch)

# Transparenz des eigenen Vermögens und das der Familie

# Sexuelle Orientierung

# Ehe/Familie/Partnerschaft

Welche Kandidaten/– innen erfüllen diese Kriterien ?

Der Korb der Früchte hängt hoch. Die finanzielle Vergütung und die personell und materiell großzügige Besetzung des Stabes sind sehr attraktiv. So verdient der EU-Präsident mehr als die deutsche Kanzlerin. In Schwaben wird die Treppe von oben gekehrt. Ein Blick in die Glaskugel

EU-Präsident oder Präsidentin?

Bis vor den Wahlen waren Wolfgang Weber und Frans Timmermans (NL) die Favoriten. Beide sind Verlierer. Beide sind Vertreter einer tiefen Integration – eines Bundesstaates Europa. Timmermans hat mehrfach betont, dass die „Nationalstaaten ausradiert werden müssen.“ Weber kann keine Erfolge und Erfahrung in einem Spitzenamt nachweisen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich bereits gegen Weber ausgesprochen. Er hat bereits Partner gefunden. Sein Favorit Barnier wird aber wenige Chancen haben. Er wird als Vollstrecker französischer Interessen gesehen und abgelehnt.

Timmermans hat sich als schlechter Verlierer erwiesen. Er hat sich unmittelbar nach den Wahlen gegen Weber ausgesprochen, weil dieser zu wenig innovativ und dynamisch sei. Damit hat er auch Frau Merkel einen Seitenhieb versetzt.

Wenn zwei sich streiten, freut sich vielleicht die Dritte: Die Dänin Margarethe Verstager, die erfolgreiche und respektierte Wettbewerbskommissarin, die den Kampf gegen die Mediengiganten furchtlos geführt hat. Sie war keine Spitzenkandidatin. Sie erfüllt jedoch viele der o.a. Kriterien – besonders als Frau, was heute von großer Bedeutung ist – und als Vertreterin des Nordens sowie eines kleineren Mitgliedsstaates, was die kleineren Mitgliedstaaten begrüßen werden, denen die Dominanz der Großen nie gefallen hat.

Es ist offiziell noch nichts entschieden.

Mein Tipp: Margarethe Verstager

Wer wird Präsident der EZB?

Wenn Manfred Weber nicht EU- Präsident wird, steigen die Chance von Jens Weidmann, Nachfolger von Draghi zu werden, obwohl es im Direktorium der EZB Widerstand gegen den   deutschen „Falken“ Weidmann gibt. Er wird versuchen, die lockere Finanzpolitik seines Vorgängers zu beenden. Das gilt – hoffentlich – auch für die Null- und Strafzinsen.

Seine Wahl wird sehr stark davon abhängen, welchen Druck Deutschland noch ausüben kann – und will. Es muss starke Partner gewinnen. Er muss auch auf die Zusammensetzung des Direktoriums Einfluss nehmen.

Trotz aller Widerstände hoffe ich, dass Jens Weidemann den auch für Deutschland wichtigen Posten bekommt.

Wer wird neuer Ratspräsident?

Favorit scheint Antonio da Costa zu sein, der auch die meisten wichtigen Kriterien erfüllt. Dazu gehören seine Erfolge und Erfahrungen als portugiesischer Finanzminister und Präsident. Er erfüllt zwei besonders wichtige Kriterien: Er hat in politischen Spitzenämtern Erfolge und Erfahrungen aufzuweisen. Darüber hinaus vertritt er den Süden der EU.

Bisher hat sich kein Konkurrent hervorgetan.

Wer besetzt die vierte Spitzenposition ?

Die Balance der Geschlechter spricht für eine Frau. Bisher haben zwei Frauen den Posten der Außenbeauftragten besetzt – mit bescheidenem Erfolg. Für die Nachfolge gilt die ehemalige litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite als Favoritin. Sie war zehn Jahre Präsidentin von Litauen. Sie ist Vertreterin der Ostseeregion, die an Bedeutung gewonnen hat. Mit ihrem forschen Auftreten hat sie sich den Ruf einer „Iron Lady“ erworben.

Ausblick

Ich habe bereits am Anfang erwähnt, ich sei skeptisch, dass die neuen Spitzenpolitiker eine reelle Chance haben werden, die Misere der EU zu mildern oder gar zu beenden. Der Handelsstreit mit den USA, die Auswirkungen eines möglichen Brexit, die schwächelnde Konjunktur in der EU sowie die internen Probleme mit dem hoch verschuldeten Italien und das stärker zersplitterte EU-Parlament sind hohe Hürden.

Die Besetzung der vier Spitzenpositionen ist das Ergebnis eines politischen Kompromisses – hoffentlich kein fauler. Ausgerechnet in dieser schwierigen politischen Situation fällt Deutschland als integrierender Machtfaktor aus. Deutschland wird auch nicht mehr in der Lage sein, seine Beiträge für die EU und die Eurozone zu steigern.

Die Aussichten, dass Europa in absehbarer Zeit mit einer Stimme sprechen wird, sind düster.

*

Zum Autor: Brig.General a.D. Dieter Farwick Jg. 1949. Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war in den 90er Jahren über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch. Sein Beitrag erschien zuerst bei CONSERVO.

PP-Redaktion
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