Ein Gastbeitrag von Alexander Meschnig
„Siegen oder vom Verlust der Selbstbehauptung“ heißt ein neu erschienenes Buch, das das Zeug dazu hat, in den Olymp jener Bücher aufzusteigen, die mit einer ungeheuren Erudition und Zielsicherheit die Phänomene und Ursachen der Krise Europas, besonders aber unseres Landes aufzeigen. Parviz Amoghli und Alexander Meschnig sind die Autoren des Buches – beide sind auch schon als Gastautoren auf diesem Blog aufgetreten. PP schätzt sich glücklich aus dem Buch einen Auszug veröffentlichen zu dürfen (Red.).
Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hat in Westeuropa eine historisch wohl einmalige Entwicklung ökonomischen Aufschwung als auch politische Sicherheit gebracht. Insbesondere Deutschland konzentrierte nach dem apokalyptischen Untergang des Dritten Reiches alle seine Energien in den Wiederaufbau und auf das Feld der Wirtschaft – mit beispiellosem Erfolg. Es konnte diesen Akzent umso mehr setzen, da die binäre Struktur der Nachkriegszeit die Welt in Balance hielt und man selbst militärisch unter dem Rockschoß des amerikanischen Verbündeten saß. Jede Form von Machtpolitik, jedes nationale Interesse jenseits ökonomischer Parameter war und ist seitdem verpönt. Die eigene Vergangenheit hatte ja dramatisch und schmerzhaft gezeigt, wohin der deutsche Sonderweg führen kann.
Im scheinbaren Gegensatz zur wirtschaftlichen Rationalität stand eine zunehmende Protestkultur, deren überbordende Moral in Westdeutschland zu grenzenlosen Forderungen nach Frieden, Wohlstand und Glück führten – für jeden, sofort und überall. Dieser gesinnungsethische Totalitarismus hat mit der Grenzöffnung im September 2015 seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden, steht aber in einer Kontinuität mit dem moralischen Protest, der von Anfang an „den Menschen“ an sich, jenseits aller kulturellen oder intermediären Bindungen, zum Objekt seiner Fürsorge erklärte. Wirtschaftsmacht, Entpolitisierung und ein humanitärer Universalismus machen Deutschland zu einer Art Vorreiter einer post-politischen Ära, die einen befriedeten Zustand symbolisierte, in dem das verkündete „Ende der Geschichte“ eine reale Entsprechung fand.
Bekanntlich kam aber alles anders. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, dem neuerlichen Aufstieg des radikalen Islam und dem gigantischen Youth Bulge, einem Überschuss an jungen Männern in den afrikanischen und arabischen „Failed States“, sind neue Herausforderungen entstanden, deren Tragweite alle vertrauten Muster und gängigen Imperative zur Disposition stellen. Das gilt vor allem auch im Hinblick auf gewalttätige Konflikte und veränderte Formen der Kriegführung. Eine durch und durch befriedete Welt trifft auf einen Feind, der sich nicht an die zivilisatorischen Spielregeln hält und mit dem keine Verhandlungen über irgendwelche politischen Forderungen möglich sind. Erschwerend kommt hinzu: dieser Feind ist, durch politische Entscheidungen forciert, mitten unter uns und so verwischen sich alltägliche Gewalt, Kriminalität und Terror immer mehr.
Insbesondere in Deutschland ist der „Feind“ als politische Figur diskreditiert und aus dem offiziellen Diskurs verschwunden: es darf ihn einfach nicht (mehr) geben. An einem naiven Fortschrittsparadigma orientiert, wird die historische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte als der Übergang allseitiger Feindschaft zum Freundschaftsbund der europäischen Einigung betrachtet. Diese Sichtweise wird umstandslos auf die ganze Welt übertragen. Nicht umsonst ist die hehre Anrufung der Idee von Europa für alle Parteien mit Ausnahme der AfD in Deutschland sakrosankt. Europakritiker ist geradezu zum Schimpfwort und Ausweis einer reaktionären Haltung geworden.
Politik und Publizistik sind sich in Deutschland fast unisono darin einig, dass die Bedrohung heute nicht von einem realen Feind ausgeht, sondern von denjenigen, die diesen Begriff verwenden, sozusagen „HateSpeech“ im eigenen Land betreiben. Wer heute noch von Feinden spricht, zeigt nur, dass er in alten und reaktionären Mustern gefangen, ein Mensch von gestern ist. Die Verwendung der Kategorie des Feindes ist lediglich Ausdruck einer inneren Pathologie, letztendlich ein primitives Vorurteil und moralisches Defizit von Modernisierungsverlierern in einer globalisierten Welt.
Die Desorientierung hat ihren Hauptgrund im Verschwinden einer eindeutigen Ordnung. Der Kalte Krieg war eine Ära der fixierten Feindbilder: westlicher Antikommunismus traf auf sozialistischen Antiimperialismus. Bipolare Ordnungen scheinen den Feindbegriff zu verstärken. Nach dem Zerfall des kommunistischen Blocks begann eine Zeit der Auflösung vertrauter Muster. Mit dem Verschwinden oder zumindest der Diskreditierung kollektiver Identitäten wie Volk, Nation, Rasse oder Klasse hat ein postpolitisches Zeitalter begonnen, das auf Inklusion und einen universalen/globalen Anspruch auf die Überlegenheit seiner abstrakten Werte setzt. Der Begriff des Feindes hat hier keinen Platz mehr. Niemand soll besiegt, vielmehr sollen alle inkludiert werden.
Diese Verschiebung zeigt sich am deutlichsten in der üblichen Reaktion auf den islamistischen Terror, dessen Ursachen immer noch in rationalen Gründen oder im eigenen Verhalten gesucht werden, das nur zu ändern ist, damit die Gegenseite besänftigt wird. Dafür schreckt man vor keinem Kotau zurück, auch im eigenen Land, das Radikale durch Erziehungsprogramme wieder in die Gesellschaft zu „integrieren“ versucht oder zumindest präventiv eine Radikalisierung verhindern soll. Gemäß dem Dogma der inklusiven Politik kann der (potenzielle) islamistische Gewalttäter durch mehr Bildung, Überzeugungs- und Integrationsarbeit befriedet und am Ende sogar rehabilitiert werden. Dafür müssen nur genügend Geld, Sozialarbeiter, Pädagogen, Psychologen und Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden. Im Prinzip ist der Terror ein soziales Problem, die eigentlichen Ursachen sind Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung und Rassismus. Die Lösung liegt daher in einer Art Universalisierung des Sozialstaats, entweder in Form von Entwicklungshilfe oder in der großzügigen Alimentierung und Versorgung einwandernder Migranten.
Die amerikanischen Regierungen deuten den Terror, im Gegensatz zur deutschen Sichtweise, weniger „sozial“ bedingt, als politisch. Es ist der Mangel an Demokratie in den betroffenen Ländern, der ihre Instabilität und die Radikalisierung junger Männer und ihre Hinwendung zum Islam erklärt. Die politische Konsequenz daraus ist die militärische Intervention und der Sturz diktatorischer Regime, also „Demokratieexport“, damit die Ursachen und die Basis des Terrorismus beseitigt werden. Wie wir heute wissen, ist diese Strategie, ebenso wie die Integrationsbemühungen der westeuropäischen Länder, nicht gerade von Erfolg gekrönt (…).
In beiden oben genannten Fällen folgt die Erklärung für den Terror den vertrauten Mustern unserer eigenen Welt, es sind Projektionen von Überzeugungen, die nicht sehen können oder wollen, dass der Andere um seine kulturelle Identität kämpft, die er gerade in Abgrenzung gegen das Wertesystem des Westens konstituiert, das ihm in seinen Augen feindlich gegenübersteht. Deshalb gehen alle (linken) Vorstellungen von Integration am eigentlichen Problem weit vorbei: es existiert in der Regel kein Wunsch nach Integration, sondern nach Differenz, da diese Identität verspricht. Nur darf es eine Differenz in den Augen der humanitaristischen Ideologie, die die deutsche Politik bestimmt, einfach nicht geben, da das die Anerkennung von Partikularismen (ethnisch, religiös, kulturell) zur Folge hätte, die ein friedliches Zusammenleben gefährden. (…)
Bis spätestens zum September 2001 hatten wir es, wenn wir dem amerikanischen Zivilisationshistoriker Lee Harris folgen, mit drei unterschiedlichen Ausprägungen von Feinden zu tun:
- Der Feind als wirtschaftlicher Konkurrent, der, falls notwendig, bereit ist, Gewalt anzuwenden, um sich bestimmte Güter anzueignen.
- Der Feind als Unterdrückter, der um seine Souveränität (etwa seine nationale Unabhängigkeit, gleiche Rechte usw.) kämpft.
- Der Feind, der versucht, uns zu zwingen, seine Überlegenheit und Superiorität anzuerkennen.
Historisch tritt die erste Figur in aller Deutlichkeit im Zuge der Industrialisierung als ökonomischer Rivale auf. Der Krieg wird mehr und mehr überflüssig, da der Handel eine weit effektivere Alternative ist, Waren und Güter im Austausch zu erhalten. Schon Immanuel Kant erwartete 1793 in seiner Schrift Vom ewigen Frieden vom Ausbau internationaler Handelsbeziehungen eine Eindämmung des kriegerischen Konfliktverhaltens der Staaten:
„Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt. Weil nämlich unter allen die Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittlungen abzuwehren.“ (…)
Die zweite Figur bei Harris, der Feind als Unterdrückter, der seinen gleichwertigen Status einfordert, wird, so die allgemeine verbindliche Sichtweise der westlichen Welt, in dem Maße verschwinden, in dem wir ihm gleiche Rechte zugestehen, also mit den liberalen und demokratischen Prinzipien unserer aufgeklärten Welt ernst machen, die für alle umstandslos und überall gelten (sollen).
Eine größere Herausforderung ist die dritte Figur des Feindes, derjenige, der von uns seine Überlegenheit bestätigt kriegen will, ein Wille zur Anerkennung, der mit ökonomischen oder rationalen Gründen nicht erklärt werden kann, sondern psychologisch dem Prestige angehört, dass der Glaube an die eigene Superiorität, also die quasi natürliche Überlegenheit über alle anderen (Religionen, Ethnien, Rassen etc.) mit sich bringt. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der den viel zitierten Terminus des „Endes der Geschichte“ eingeführt hat, ist davon überzeugt, dass dieses Begehren in einer sich demokratisierenden Welt verschwinden wird, in der das Irrationale keinen Platz mehr hat (…)
Lassen wir an dieser Stelle offen, ob Fukuyamas optimistische Prognose eintreten wird und wenden wir uns einer vierten, ungleich problematischeren Kategorie des Feindes zu, den Lee Harris mit dem radikalen Islam wiederkehren sieht: The Ruthlessness, also der Schonungs- oder Gnadenlose. Faschismus und Kommunismus als historische Beispiele dieses Typus waren bereit, alles zu opfern, auch die eigene Bevölkerung, um ihre abstrakten Ziele (rassereine Gemeinschaft, Diktatur des Proletariats) zu erreichen. Es sind die unabänderlichen Gesetze der Geschichte, die sich ihren blutigen Weg bahnen. Unabhängig davon, wie der Einzelne handelte, dachte oder fühlte, als „objektiver Gegner“ (Hannah Arendt) war er der Feind, der zu vernichten war, auch wenn er in keiner Weise eine Bedrohung darstellte. Feindschaft existiert also allein deshalb, weil uns ein Anderer zum Feind erklärt hat. Wie wir auch handeln, was wir auch zugestehen, es wird die Gegenseite nicht befrieden (…). Im periodisch seit 2014 auf Englisch erscheinenden Online-Magazin des IS mit dem Titel Dabiq, in der islamischen Eschatologie der Ort, an dem die muslimischen Armeen zur Entscheidungsschlacht gegen ihre Feinde antreten, wird die Tatsache einer absoluten Feindschaft an zahlreichen Stellen unmissverständlich ausgedrückt:
„The fact is, even if you were to stop bombing us, imprisoning us, torturing us, vilifying us, and usurping our lands, we would continue to hate you because our primary reason for hating you will not cease to exist until you embrace Islam. Even if you were to pay jizyah and live under the authority of Islam in humiliation, we would continue to hate you.”
Der Feind braucht keinen Grund, uns zu hassen, es ist nicht unser Verhalten oder Nicht-Verhalten, das seinen Furor erzeugt. Es braucht keinen Donald Trump, der Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärt, keine Zeichnungen von Charlie Hebdo oder dänischen Karikaturisten, um eine ansonsten friedliche Umma zu schweren Gewalttaten zu provozieren.
Es scheint für zivile Gesellschaften unmöglich, insbesondere in Deutschland, dieses Faktum zu akzeptieren. Man steht der islamistischen Gewalt, genauso wie der Migrantengewalt in den eigenen Straßen und Städten, vollkommen ratlos gegenüber. Plastikarmbändchen wie Sylvester 2017 in Köln sollen Jungmänner aus tribalistischen Gemeinschaften davon abhalten, Frauen zu „begrapschen“, „Flirtkurse für Asylanten“ aus afghanischen Analphabeten „Frauenversteher“ machen, Schutzzelte für Frauen sexuelle Übergriffe verhindern. Wir stehen den importierten Formen von Gewalt hilflos gegenüber, da wir sie lange aus unserem Bewusstsein verdrängen konnten, ganz einfach deswegen, weil sie keine Rolle in unserem Leben spielten. Der Vorteil auf Seiten derjenigen, die sich durch ihre Skrupellosigkeit nicht an die zivilen Spielregeln halten, wächst dabei nicht nur in Deutschland unaufhörlich. Polizei und Justiz sind auf diese Täter nicht vorbereitet, die jedes Nachgeben des Rechtsstaates (zurecht) als Zeichen seiner Schwäche deuten.
Ziehen wir eine Linie zu den antikolonialistischen Kriegen nach 1945. Für die westlichen Mächte wurde klar, dass selbst mit überlegenen militärischen Mitteln kein Sieg mehr errungen werden konnte, da die Opferbereitschaft auf der Gegenseite keine Grenze kennt, die eigene Heimat aber weder Opfer auf der eigenen noch auf der anderen Seite ertragen kann. Das bedeutet im Endeffekt, dass unter den heutigen Bedingungen diejenigen, die „Ruthlessness“ (Harris) verkörpern, nicht mehr besiegt werden können, denn das würde voraussetzen, dass die westlichen Staaten in der Lage sein müssten, Soldaten oder Kämpfer für den Schutz ihrer Bürger zu rekrutieren, die über dieselbe Opferbereitschaft und Skrupellosigkeit in der Konfrontation verfügen. Zivilisierte Staaten agieren innerhalb des Dilemmas, sich entweder an die Regeln des (Kriegs-)Rechts zu halten, also sich dadurch zu schwächen, oder selbst so zu handeln und zu werden wie ihre erklärten Feinde. Beide Alternativen nähern sich – zu Ende gedacht – einer Art Selbstaufgabe an. Diese Aporie ist prinzipiell nicht zu lösen.
Unabhängig von der Existenz eines nicht zu besänftigenden oder zu korrumpierenden Feindes sind es mentale und strukturelle Entwicklungen seit den 60er Jahren, die die Selbstbehauptung einer durch und durch pazifizierten Gesellschaft unterlaufen. Die unbestreitbaren Vorteile einer auf Dialog, Konsens, Wissen und Kommunikation basierenden gesellschaftlichen Ordnung, einer Ordnung, für die zahlreiche und historisch nur selten auftretende Bedingungen in Kombination erfüllt sein müssen, werden in dem Moment obsolet, wo existenzielle Fragen an das eigene Überleben durch einen „Anderen“ gestellt werden, der diese Ordnung als Bedrohung seiner Identität sieht. Wir müssen wohl anerkennen, dass unsere Weise zu leben, die Entstehung von Feindschaft nicht ausschließt, selbst wenn wir glauben, alles dafür zu tun, den Anderen nicht zu diskriminieren oder zu reizen:
„And while it is true that the enemy always hates us for a reason, it is his reason and not ours. He does not hate us for our faults any more than for our virtues. He sees a different world from ours, and in the world he sees we are his enemy.”
⇒ Parviz Amoghli und Alexander Meschnig: Siegen oder vom Verlust der Selbstbehauptung, Band 5 der Werkreihe von TUMULT, Dresden 2018 S. 137-146. Hier bestellen: Amazon
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