Mittwoch, 1. Mai 2024

„Sprengt mit Eurem Samen den bürgerlichen Rahmen!“ – Sexuelle Revolution ´68

Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg

„Bei politischen Erschütterungen der gesamten gesellschaftlichen Organisation muß der Konflikt zwischen Sexualität und Zwangsmoral… dem einen als moralischer Untergang, dem anderen als ´sexuelle Revolution` erscheinen“ (Wilhelm Reich)

50 Jahre sind seit den politischen Erschütterungen 1968 vergangen. Das hat zu manch einem Rückblick auf die „68er Bewegung“ und deren Wirkungen inspiriert. Für revolutionäre Veränderungen der politischen Verhältnisse war die Mehrheit der Bevölkerung damals zwar ebenso wenig wie heute zu gewinnen; doch für eine Befreiung von moralischen Zwängen und entsprechende Änderungen der Gesetze gab es Ende der sechziger Jahre einen breiten gesellschaftlichen Konsens, auf den auch der deutsche Gesetzgeber reagierte: So wurde Werbung für Verhütungsmittel erlaubt. „Kuppelei“ sollte nicht länger strafrechtlich verfolgt werden und demgemäß war es nun nicht mehr verboten, unverheirateten Paaren Räume zu überlassen, in denen sie „Unzucht“ treiben konnten. Das Verbot von Abtreibungen wurde gelockert und mit der Liberalisierung des § 175 des Strafgesetzbuches wurden  homosexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Männern erlaubt – zwischen Frauen war es ohnehin nicht verboten.

Der Bauch, die Blechtrommel und das Schweigen

Es war erst wenige Jahrzehnte her, daß die Philosophische Gesellschaft in Wien Sigmund Freud eingeladen hatte, einen Vortrag zu halten, ihn jedoch gebeten hatte, auf anzügliche Beispiele zu verzichten oder sie vorher anzukündigen und dann eine Pause einzulegen, damit die anwesenden Damen rechtzeitig den Raum verlassen konnten. Und es war noch gar nicht so lange her, daß J. H. Schulz das „autogene Training“ erfunden und in seiner Anleitung das Wort „Bauch“ durch „Sonnengeflecht“ ersetzt hatte, weil es unschicklich war, in Gegenwart von Damen den Bauch beim Namen zu nennen.

Unter solchen soziokulturellen Konditionen wurde es als moralischer Affront empfunden, daß Günter Grass in seinem Roman „die Blechtrommel“ (1959) menschliches Treiben unverblümt darstellte.

Das sorgte einerseits für große Empörung, führte jedoch andererseits dazu, dass viele Menschen, die sonst wenig Interesse an Literatur hatten, sich dieses von manchen Kritikern als pornographisch geschmähte Buch besorgten. Soweit mir menschliche Paarung in der Literatur bis dahin begegnet war, hatte deren Darstellung sich im allgemeinen recht unscharf darauf beschränkt, dass ein Mann sich zu einer Frau gesellte, ihr beiwohnte oder – wenn es hoch kam – Beischlaf mit ihr hatte. Was aber dabei heraus kam, war meines Wissens nie ausdrücklich zur Sprache gekommen, bis Günter Grass in seiner „Blechtrommel“ einen coitus interruptus mit den deutlichen Worten umschrieb, dass Alfred Matzerath seinen „Rotz“ auf`s Bettlaken „klatschte“. Das kann man doch nicht schreiben, dachte ich pikiert, las jedoch weiter interessiert, was kundige Freunde an Frivolitäten herausgefunden und mir – einem frisch Pubertierenden zu Beginn der sechziger Jahre – zum Lesen empfohlen hatten.

Wenige Jahre, nachdem „die Blechtrommel“ für Aufsehen gesorgt hatte, kam „das Schweigen ins Kino (1963) – ein Film von Ingmar Bergman, der ebenfalls wegen einer anstößigen Szene für Empörung sorgte.

Die Folge waren scharfe Einlaßkontrollen an den Kinos, damit kein Jugendlicher die Obszönität sah, die dort gezeigt wurde. Hinzu kam, daß unter dem nachhaltigen Eindruck des Films die „Aktion Saubere Leinwand“  ins Leben gerufen wurde (1965). Das war eine Bürgerinitiative unter Leitung eines CDU-Bundestagsabgeordneten, die sich dafür stark machte, daß die Jugend vor „Schmutz und Schund“ in den Medien bewahrt werden sollte, und dafür sogar das Grundgesetz ändern lassen wollte.

Im Vergleich zu dem, was heute nicht nur in Pornokinos, sondern auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wird, war es harmlos, daß in der heftig kritisierten Filmszene eine Frau ihre Hand in die Pyjamahose schob. Man konnte gar nicht sehen, wohin sie fasste und was sie dort anstellte; aber eine Hand gehörte nach den strengen Moralvorstellungen der damaligen Zeit allenfalls in eine Hosentasche und nicht unter den Hosenbund.

Ein Geschenk für den Pan und der Frevel des Onan

Der Intimbereich sollte von einem braven Christen am besten gar nicht berührt werden. So wurde jungen Amerikanern in einer kirchlichen Handlungsanleitung empfohlen, eiskalt zu duschen, wenn sich bei ihnen sexuelle Triebe bemerkbar machten. Falls das zur Triebdämpfung nicht reichte, sollten sie beten und – falls auch das nicht half – an ihre Mutter denken. Ich weiß nicht, inwieweit Jungen beim Gedanken an ihre Mutter vor Schreck enthaltsam wurden, glaube aber, dass die meisten Jungen in Amerika wie bei uns in solchen Situationen lieber an ein Mädchen als an ihre Mutter dachten und sich auch nicht durch Gerüchte über Rückenmarkschwund oder Wahnsinn als Folge von Selbstbefriedigung davon abschrecken ließen, einem traditionsreichen Handwerk zu frönen, das der Sage nach griechische Hirtenknaben erfunden hatten.

Im Unterschied zu Alfred Matherath aus der „Blechtrommel“ wollten besagte Hirtenknaben ihren „Rotz“ nicht sinnentlernt irgendwohin „klatschen“, sondern ihn euphemisch dem Hirtengott Pan schenken.

Das taten sie im Schatten einer Korkeiche beim Leeren eines Weinkrugs: Als in der Runde erzählt wurde, wie der junge Daphnis von Lykainion in die Praxis der Liebe eingeführt worden wäre, richtete sich die „Männlichkeit“ der lauschenden Knaben auf – und während sie den Pangesang anstimmten, umschloß einer nach dem anderen sein Glied mit der Faust und bewegte diese, bis jeder dem Pan einen Samenerguß bescherte.

Daphnis von Lykainion und Chloé

Ich weiß nicht, ob der göttliche Pan sich über die liebevollen Geschenke freute. Ich weiß aber, daß viele Jungen bei uns im christlichen Abendland nicht erfreut waren, wenn sie es den Hirtenknaben gleich taten und ihnen im Taumel ihrer Sinnlichkeit plötzlich einfiel, was ihr Gott von solch einer Bescherung hielt; denn wie in der Bibel zu lesen ist, hatte ein Mann namens Onan den göttlichen Auftrag erhalten, die Frau seines verstorbenen Bruders zu schwängern. „Gehe zu Deines Bruders Weib und nimm sie zur Ehe, daß du deinem Bruder Samen erweckest,“ heißt es in Luthers Bibel: „Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sein sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib, ließ er` s auf die Erde fallen und verderbte es… Da gefiel dem Herrn übel, das er that, und tötete ihn (1. Buch Mose 38.8-10)

Mit dem auftragswidrigen Samenerguß Onans außerhalb der weiblichen Scheide war also die „Onanie“ in die sündige Welt gekommen.

Die war nach christlichem Verständnis nicht bloß im Falle von Onan, sondern generell ein Frevel; denn ein Samenerguß sollte nach dem von Geistlichen so gedeuteten Willen Gottes ausschließlich der Kindeszeugung dienen. Demgemäß sollten Masturbation, coitus interruptus, andere Methoden der Schwangerschaftsverhütung sowie Abtreibungen verboten und Geschlechtsverkehr ausschließlich im „heiligen Stand“ der Ehe erlaubt sein. Mit Warnungen vor „frevelhaftem“ Treiben und Verteufelung der genannten Praktiken sowie des außerehelichen Geschlechtsverkehrs konnten die Kirchen nicht bloß sexuelle Scham- und Schuldgefühle erzeugen, sondern die Menschen auch mit der Aussicht auf Bewahrung vor „sündhaftem“ Trieben durch Beichte und Gebete an sich binden.

Mit des Mannes Samen gegen bürgerlichen Rahmen

Anfang der sechziger Jahre war mit der Erfindung der Antibabypille eine materielle Voraussetzung für jene „sexuelle Revolution“ geschaffen worden, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die Betten diesseits sowie jenseits des Atlantiks erschütterte und den christlichen Beischlaf aus ihnen verdrängte. Immer mehr junge Menschen verloren mit der Pille ihre Angst vor Schwangerschaft, wollten die Tabuisierung der Sexualität sowie des vorehelichen Geschlechtsverkehrs im besonderen nicht mehr hinnehmen und frei von Schuld- und Schamgefühlen sein; sie revoltierten gegen die lustfeindliche Zwangsmoral ihrer Eltern, Pfarrer sowie amtlich bestellter Hosenstallschnüffler, provozierten diese mit der Forderung nach selbstbestimmter Sexualität und schockierten mit sexueller Freizügigkeit.

„Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“

So hieß es in einer der frivolen Parolen, mit denen aufsässige Studenten für Abwechslung im Bett sorgen wollten, aber auch mehr und weniger ernsthaft die bürgerliche Gesellschaft in Frage stellten. „Sprengt mit Eurem Samen den bürgerlichen Rahmen!“ Das war eine andere von den Parolen, mit denen freilich nur Männer angesprochen wurden. Frauen kamen in solchen revolutionären Macho-Parolen allenfalls als Objekte männlicher Lust vor, als ob sie keine eigenen Gelüste hätten.

Es war ja noch nicht lange her, daß Mütter ihre frisch verheirateten Töchter kurz vor der Hochzeitsnacht zur Seite nahmen und späte Aufklärung mit den nicht gerade aufmunternden Worten leisteten: „Was Dein Mann gleich mit Dir macht, ist eine Schweinerei; aber das mußt Du über Dich ergehen lassen!“ Zu der Zeit nahm ein Mann noch unangefochten die Missionarsstellung ein und dachte, es wäre aus Lust – dabei stöhnte sie oft nur unter der Last, die sie mit seiner Leibesfülle zu tragen hatte.

Viele wußten es nicht besser, bis Oswald Kolle die Stellungen im Bett „durcheinander“ brachte, wie einer von der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) der Filmbranche ihm vorhielt und schmunzelnd hinzufügte: „Nun sollen die Frauen auch noch oben liegen!“

Kolle drehte Ende der sechziger Jahre Aufklärungsfilme wie etwa über „die Frau, das unbekannte Wesen“ sowie über den anscheinend genauso unbekannten Mann. Das waren Filme, in denen es schnell zur Sache ging und Zuschauer manches sahen, was sie weder aus eigener Erfahrung noch aus Filmvorführungen gekannt hatten. Und in anderen Filmen ging es ebenfalls „zur Sache, Schätzchen“, wie es in einem Filmtitel hieß.

Es sollte nicht nur im öffentlichen Leben „der Muff von tausend Jahren“ beseitigt, sondern auch die Hose je nach Lust und Laune herunter gelassen werden. Mit Sex wollte man nicht länger bis zur Ehe warten und demgemäß die Jungfräulichkeit nicht mehr bis dahin hüten, soweit die Ehe überhaupt noch auf der Agenda junger Leute stand. Bezeichnend für die Wertminderung des lange gut gehüteten Jungfernhäutchens war ein Film mit dem Titel: „Willst Du ewig Jungfrau bleiben?“ Man ahnte schon beim Eintritt ins Kino, daß die Gefragte es spätestens am Ende des Films nicht mehr sein würde. Insofern ging es eigentlich nur um die Beantwortung von Fragen, die zum Standardrepertoire von Journalisten zählen: Wer, was, wann, wo und wie zu ihrer Defloration tun würde. Nach 90 Minuten Filmlänge wollte man schlauer und entspannter sein.

Frauen und ihre Libido

Zu den „Errungenschaften“ der „sexuellen Revolution“ gehörte ein größeres Maß an sexueller Verfügbarkeit. Dadurch fühlten sich viele Frauen unter hohen Erwartungs- sowie Leistungsdruck gesetzt, dem sie oft nur nachgaben, weil sie nicht als spießig gelten wollten. Aber man hatte es auch mit einer Menge Frauen zu tun, die sich nun nicht mehr mit verschämten Blicken auf einen Mann begnügen mochten und züchtig darauf warten wollten, daß der klammheimlich Angehimmelte sich mit ihnen einließ, sondern selber die Initiative ergriffen und mit solchem Rollentausch manch einen Mann in Verlegenheit brachten.

In Mode kam der Antityp des soldatischen Mannes, der mit langen Haaren, bunten Klamotten, frivoler Musik, lasziven Tanzbewegungen und zur Schau gestellter Sexualität  brave Bürger schockierte.

Zu einer Galionsfigur der rebellischen Jugend wurde Jim Morrison, Generalssohn und Leadsänger der „Doors“, der im Drogenrausch auf offener Bühne sein Geschlechtsteil entblößte und zur Freude seiner Fans masturbierte. Das führte ebenso zu Ärger mit Polizei- und Justizbehörden in den USA wie seine verbalen Obszönitäten. So sang er „Father, I wanna kill you – mother, I wanna…,“ begann an der Stelle aber zu schreien und brachte nicht über die schönen Lippen, was in Erinnerung an Ödipus weiter im Text zu erwarten gewesen wäre. Als singender „Motherfucker“ wollte selbst ein hoch begabter Provokateur wie er nicht von der Bühne abtreten.

Janice Joplin war  zwar nicht so hübsch anzusehen wie Jim Morrison, mit ihrer mörderischen Röhre jedoch genauso sexy wie dieser und wollte anders als Millionen amerikanischer Mädchen nicht darauf warten, daß ein netter Junge von nebenan sie zum Abschlußball der Schule einlud und sie anschließend auf dem Rücksitz des Wagens seiner Eltern entjungferte, wie es üblich war, sondern sie wollte – mit oder ohne Drogen – Sex mit allen Männern haben, die ihr gefielen.

„Mütter, haltet Eure Söhne fest, Janice kommt!“ Mit diesen Worten kündigte eine britische Zeitung ein Konzert an, das Janice Joplin in London geben wollte.

Ich weiß nicht, ob Janice auf „Softies“ des oben skizzierten neuartigenTpys stand oder auf stramme junge Männer der alten Machart. Doch wie ich gut in Erinnerung habe, gehörte es zu den Erkenntnissen der „sexuellen Revolution“, daß nicht bloß Männer gewisse Vorlieben im Hinblick auf weibliche Formen haben, sondern daß umgekehrt auch Frauen bestimmte Attribute an Männern zu schätzen wissen und daraus keinen Hehl machen, seitdem sie sich nicht mehr den christlichen Keuschheitsgeboten verpflichtet fühlen.

Seitdem bekannt ist, wie gut ihnen ein muskulöser Männerpo gefällt, wird in Filmen nicht bloß wie gewohnt weibliche Haut recht unverhüllt gezeigt, sondern es entblößen auch manche Darsteller – von Jean-Claude Van Damme bis Channing Tatum – den Frauen, aber nicht nur denen zur Freude zumindest für ein paar Sekunden ihr wohlgeformtes Hinterteil. Mit solchen Mannsbildern hätten „Softies“ aus der Zeit des „Kulturbruchs ´68“ nicht mithalten können und wurden längst verdrängt von Männern, die ihren Körper durch Kraftsport in Höchstform bringen und diesen in formbetonende T-Shirts sowie Jeans zwängen, wenn es sie samstags zur ungenierten Balz in die Disco treibt.

Daß Frauen sexuelle Wünsche haben und einen muskulösen Männerpo reizvoll finden, ist eine neue Erkenntnis, aber ein uraltes Phänomen; denn der Anblick signalisiert ihnen intuitiv, daß ein Mann mit solchen Formen ein guter Rammler und – Pille hin oder her – gut für die Fortpflanzung ist.

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