Freitag, 19. April 2024

Denken ohne Geländer – „Die Freiheit, frei zu sein“ von Hannah Arendt

Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Solche Erkenntnisse, wie dieses von Mark Twain, legen uns den Schlüssel für die Zukunft in die Hand. Interessanterweise helfen die Zukunftsverhinderer in ihrer mangelnden Weisheit manchmal beim Austeilen der Schlüssel. Gerade wurde eine Schrift der jüdischen Philosophin Hannah Arendt neu aufgelegt und vom SPIEGEL als Bestseller gelistet. Seltsam, in einem zeitgeistigen Klima des erstarkenden Antisemitismus. Aber lesen Sie selbst! Eine Rezension von Vera Dahlkamp

Freiheit, dieser Begriff wird in unserer so genannten neoliberal-offenen westlichen Gesellschaft inflationär wie eine unverzichtbare Top-Marke gebraucht, deren Hauptmerkmal es ist, keinem mehr wirklich von Nutzen zu sein. Aber gut, dass sie anscheinend da ist. Was verstehen wir unter Freiheit wirklich, was können wir tun, um frei zu sein?

Die 1906 in Deutschland geborene jüdische Philosophin Hannah Arendt geht in ihrem Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ genau dieser Frage nach. In enger Anlehnung an geschichtliche Ereignisse, vornehmlich der französischen und amerikanischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, macht sie die enge Verknüpfung zwischen den Ereignissen deutlich:

„Keine Revolution war jemals das Ergebnis von Verschwörungen, Geheimgesellschaften oder offen revolutionären Parteien. Allgemein gesprochen ist eine Revolution gar nicht möglich, wenn die Autorität des Staatswesens intakt ist.“

Ziel von solchen Umstürzen ist Befreiung von „Regimen, die ihre Befugnisse überschritten und bestehende Rechte verletzt hatten.“ Dabei bezieht sich Arendt auf einen klaren Begriff von Freiheit. Alle revolutionären Umwälzungen wurden sämtlich in ihrem Namen geführt, wobei, wie im Zeichen der französischen Revolution von 1789 nicht nur der herrschende Absolutismus sondern auch der gesamte geistige Überbau unters Fallbeil kam, wie das später auch auf die russische Oktoberrevolution zutraf. „Für die Freiheit!“ bedeutet „in dieser neuen und revolutionären Ausweitung auf die gesamte Menschheit (…) nicht mehr als die Freiheit von ungerechtfertigten Zwängen, also im Grunde etwas Negatives. Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten sind das Ergebnis von Befreiungen, aber sie sind keineswegs der tatsächliche Inhalt von Freiheit, deren Wesenskern der Zugang zum öffentlichen Bereich und die Beteiligung an den Regierungsgeschäften sind.“

Hannah Arendts saubere Begriffsbestimmung sollte uns heute helfen zu entscheiden,

„wo der Wunsch nach Befreiung, also frei zu sein von Unterdrückung, endet und der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen, beginnt.“

Damit beginnt die Freiheit vor der eigenen Haustür. Arendt zitiert John Adams, der von öffentlicher Freiheit spricht:

„Wo auch immer man Männer, Frauen und Kinder findet, seien sie alt oder jung, reich oder arm, hochstehend oder niederen Ranges (…) unwissend oder gebildet, stellt man fest, dass jeder Einzelne von dem starken Wunsch bestimmt ist, von den Menschen ringsum und in seinem Bekanntenkreis gesehen, gehört, angesprochen, anerkannt und respektiert zu werden.“

Wir erfahren gerade das Gegenteil, und das in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Freiheit ist zu einer grimassierenden Schimäre geworden: zwischen Bürgeramt und MediaMarkt können wir Entscheidungen treffen, die in eine Fünf-Minuten-Terrine passen. Die amorphe Not der Massengesellschaft heißt Reglementierung: vom Einkommen bis zum Recht auf umfassende Information. Die Not ist eine zutiefst innere geworden, gefolgt von Einsamkeit und Isolation. Für die Repräsentanten im Politikbetrieb ist der ‚Souverän‘ zum Wahlvieh, Stimmvieh, Mischpoke, Verbraucher, Proll, Pack, Nerd, Fan, Nazi, Rechter, Linker, Gutmensch, Dumpfbacke und Wutbürger degradiert, alles in der Masse erhältlich, von immer einheitlicheren ideologischen Einflüsterungen umspült und von der Furcht getragen, von der staatlichen Fütterung ausgeschlossen zu werden. Dieses Potential für eine neue revolutionäre Umwälzung zu gewinnen, muss nicht zwangsläufig scheitern, denn das Gefühl für Würde und Selbstbestimmung ist in jedem Menschen angelegt. Arendt schreibt:

„Nur diejenigen, die die Freiheit von Not kennen, wissen die Freiheit von Furcht in ihrer vollen Bedeutung zu schätzen, und nur diejenigen, die von beidem frei sind, von Not wie von Furcht, sind in der Lage, eine Leidenschaft für die öffentliche Freiheit zu empfinden.“

Der 1967 in den USA niedergeschriebene Essay einer großen Philosophin gibt uns ein Instrument in die Hand, unsere gegenwärtige politische Situation zu reflektieren. Welches sind unsere Rechte, wenn wir frei sein wollen, auch im Sinne uns politisch zu äußern. Haben wir nicht die Pflicht auszutreten aus dem entpolitisierten Raum? Müssen wir nicht den Wert unseres geistigen und räumlichen ‚In der Welt seins‘ selbst bemessen? Wenn uns die sogenannten politischen Eliten die Heimat entziehen, müssen wir dann nicht aus der Masse hervortreten – im Namen der Freiheit und des Rechts, sich politisch zu äußern? Im Nachwort des Essays heißt es: „Und schließlich verlässt man diesen Text, bewegt sich womöglich im Unbegangenen, muss vielleicht das Risiko eingehen, ohne Geländer zu denken – Abstürze eingeschlossen. Aber das gehört zu einer Freiheit, die als Freiheit immer gefährdet ist und zugleich immer neue Möglichkeiten erschließt.“

Die Schrift liegt seit März 2018 im Buchhandel aus. Herausgeber ist der dtv. Das Heftchen trägt die Vignette „SPIEGEL Bestseller“, was zu denken gibt. Im Klappentext ist die Autorin mit den Worten zitiert:

„Mein Thema heute ist, so fürchte ich, fast schon beschämend aktuell“.

Wie wahr!

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PP-Redaktion
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