Donnerstag, 19. Dezember 2024

Niemals ins Gesicht sagen

Marko Wild

III

Im Erdgeschoss in der Nowosibirskaja saßen wieder alle in der Küche und unterhielten sich – Dunja, Tanja, Gernot und Nastja. Ich berichtete, dass das Auto repariert sei und hoffte insgeheim auf eine erfreute Reaktion. Doch es schien keinen groß zu interessieren; man nahm es recht selbstverständlich, dass ich nun wieder da war. Tanja kochte Kaffe – Abschiedskaffe – denn es war Zeit. Ich brannte darauf, endlich aus Tomsk weg zu kommen, zurück nach Nowosibirsk, wo die Hälfte meines Gepäcks inklusive dem Großteil meiner Finanzen und einiger Wertsachen in einer Wohnung lag, in der Dunjas Sohn nach Lust und Laune ein- und ausgehen konnte. Doch an Aufbruch sollte noch nicht zu denken sein. Während Gernot und ich unsere Sachen längst gepackt hatten, fertig angezogen waren und abmarschbereit zur Küchentür hereinschauten, saß Dunja in aller Seelenruhe mit ihrer Freundin am Ecktisch und erzählte und erzählte, als wäre sie eben erst angekommen. Uns beide – Gernot und mich – schien es überhaupt nicht zu geben.

Nach zwanzig Minuten meinte Gernot in ungekannter Langmut, sanft brummig: „Dunja.“

Dunja stand auf, ging ins Schlafzimmer und packte ihre Reisetasche. Kam aber schon nach kurzer Zeit wieder in die Küche, ein paar Kleidungsstücke in der Hand, die sie gerade zusammen legen wollte, und musste Tanja unbedingt etwas mitteilen. Wieder setzten sich die beiden Frauen an den Tisch. Und ratschten, wie man in Bayern sagt. Die Minuten verstrichen. Ich wurde unruhig.

„Was soll denn das“, fragte ich Gernot?

„So ist das halt“, meinte er, „russische Frauen brauchen immer ewig. Das wirst du schon noch lernen. Da kann man nichts machen.“ Und dann, im selben, geduldigen Ton, wie ein Vater zu einem Kinde: „Dunja…“

Dunja stand auf und verschwand wieder im Schlafzimmer. Endlich, dachte ich. Doch weit gefehlt! Als bestünde ein unsichtbarer Sog in die Küche, kam Dunja kurz darauf erneut zurück, stellte sich in den Türrahmen und setzte ihre Unterhaltung von da aus fort. Will sie uns auf den Arm nehmen, dachte ich? Ich wollte endlich weg. Drei Tage waren wir jetzt hier – zwei länger, als angenommen. In Nowosibirsk lagen meine Sachen offen herum. Mir wurde anders im Bauch, als hätte ich starkes Lampenfieber. „Bitte erlöse uns und lass uns endlich loskommen!“, dachte ich

Dunja packte weiter. Und kam zum dritten Mal zurück! Unfassbar. Das zog sich nun schon über eine Stunde hin. Mir war völlig unbegreiflich, woher diese Rücksichtslosigkeit gegenüber dem deutlichen Wunsch Gernots und mir, endlich aufzubrechen, kam. Als sollte das noch nicht genug sein, setzte sie sich wieder an den Küchentisch. Tanja kochte noch einmal Tee. Wir schienen ja alle Zeit der Welt zu haben. Herrgottnochmal! Und Gernot schwieg! Wieso sagte er nichts? Er muss seine Frau doch mal ein wenig dazu anhalten, fertig zu werden. Ich kam mir vor, wie in einer Show, in der man den Kandidaten mit den unmöglichsten Situationen konfrontiert, um ihn zu irgendwelchen Reaktionen zu reizen.

Gegen halb Sechs, fast zwei Stunden, nachdem ich angekommen war, hielt ich es nicht mehr aus und sagte beherrscht, aber mit vibrierendem Unterton, auf Englisch:

„Dunja, wir müssen jetzt wirklich aufbrechen. Bis Nowosibirsk sind es über drei Stunden zu fahren. Ich weiß nicht, wie gut mein Auto funktioniert. Ich weiß nicht, ob unterwegs Stau ist oder etwas anderes. Wenn irgendetwas sein sollte und wir festhängen, oder wenn das Auto nicht durchhalten sollte, dann wird es dunkel und wir stehen irgendwo herum. Ich möchte heute Abend gerne noch in Nowosibirsk ankommen. Wir müssen wirklich aufbrechen. Jetzt. Verstehst du das?“

Dunja nickte. Gernot schwieg. Wie Julia, der es schwerfällt, von der Balkonbrüstung zu lassen, konnte Dunja sich nur mit Mühe vom Küchentisch lösen, Tanja zurücklassen und ihre Sachen zu Ende packen. Dann kam sie, reisefertig, mit Jäckchen und Sommerhut, im Hausflur an und musste eigentlich nur noch in die Schuhe schlüpfen. Aber welch eine Aufgabe! Zehn Minuten dauerte das Schuheanziehen noch einmal. Die beiden Frauen erzählten und erzählten und ich begann jetzt, wütend zu werden. Wie konnte man andere Menschen so brüskieren! Aber gut – letztlich taten die Frauen doch, was keiner mehr zu hoffen gewagt hatte: Sie umarmten sich. Der Wirklichkeit werdende Abschied veränderte von einem Moment auf den anderen alles. Meine Seele bekamen wieder Raum und atmete ihn gierig ein. Die Bande wurden gekappt, das Türchen geöffnet … flieg, Vögelchen, flieg! Plötzlich erschien alles positiv. Gernot durfte endlich den liebenswürdigsten Freund und Gentleman spielen und Tanja und Nastja zum Abschied küssen, als hätte er in der Nacht zuvor nicht mit seiner Brachialpädagogik allen die Stimmung verdorben und sich selbst zum Außenseiter gemacht. Auch ich fühlte mich sonderbar frei und dankbar – und verabschiedete mich voll ungeteilter Freundschaft.

Im Auto übernahm Gernot die Rolle des Führers und lotste mich durch die Stadt. Der Verkehr wurde schwerer und dichter, je näher wir dem Zentrum kamen. An einer Ampel, an der ich vom Gefühl her eigentlich nach links abgebogen wäre, weil wir am ersten Tag meiner Meinung nach von da gekommen waren, sagte Gernot: „Ordne dich schon mal rechts ein.“

„Sicher?“

„Ja, da vorne rechts, habe ich doch gesagt. Du musst mir schon ein bisschen vertrauen.“

Nowosibirsk war rechts ausgeschildert. Eigentlich also keine Kunst, „nach rechts“ zu sagen. Ich tat es, bog rechts ab und folgte dem Straßenverlauf. Weitere Hinweisschilder kamen keine mehr. Nach etwa einem Kilometer gabelte sich die bis dahin vierspurige Straße; die linke Seite war eine Einbahnstraße, die rechte, auf der wir verblieben, wurde erst zweispurig und endete dann ebenfalls als Einbahnstraße.

„Und jetzt?“, fragte ich Gernot.

Gernot schwieg.

„Wie geht’s jetzt weiter?“

„Keine Ahnung“, antwortete er.

„Aber du hast doch gesagt, ich soll nach rechts fahren. Vom Gefühl her wäre ich an der Ampel nämlich nach links gefahren.“

„Links wäre falsch gewesen.“

„Aber rechts ist auch falsch. Wieso sollte ich denn nach rechts fahren? Ich denke du kennst dich hier aus?“

Gernot schwieg.

„Ich dreh jetzt um und fahr zurück. Das hier bringt auf alle Fälle nichts.“

Ich wendete. Doch ich musste ihn schon noch einmal fragen:

„Wieso tust du, als würdest du dich auskennen? Es war ja offensichtlich falsch.“

„Weil ich sonst immer mit Navi gefahren bin!“ Gernot klang erregt.

„Wie bitte? Ist das dein Ernst? Du hast ohne Navi überhaupt keine Ahnung, wo es lang geht?“

Eine peinliche Situation für ihn. Und ich hatte ihn dahinein gebracht. Ihm war das klar, und mir auch. Und ihm war klar, dass es mir klar war. Ich nahm mir vor, nicht weiter darauf herumzureiten.

„Bitte“, sagte er schnippisch, „fahr halt da lang, wo du denkst. Du weißt ja sowieso alles besser…“

„Mach ich auch“, erwiderte ich, und fuhr zurück. Nicht lange, und wir standen im Stau.

„Da, bitte …“, meinte er süffisant.

Ein Oberlinienbus und der restliche Verkehr behinderten sich gegenseitig. Jeder quetschte sich in die erstbeste Lücke rein. So war ständig alles blockiert. Ich will hier endlich weg! dachte ich.

„Hier kommst du nicht durch“, bemerkte Gernot.

Ich hatte um solche Ratschläge nicht gebeten.

„Abwarten“, sagte ich. Als der Gegenverkehr eine Lücke bot, setzte ich zu einem langen Überholmanöver an und kam an Bus, Straßenbahn und ziemlich vielen Autos vorbei. Durchatmen! Es waren mindestens fünf Minuten, die ich dadurch gewonnen hatte. Gernot sagte nichts. Wieder quälten wir uns Meter um Meter voran. Immer wieder linste ich zur Seite raus. Bei der nächsten Gelegenheit legte ich eine zweite solche Aktion hin. Ich wurde zum Lückenspringer. Was die Russen konnten, konnte ich auch. Und dann waren wir durch. Freie Fahrt für freie Bürger! Ich lachte. „Ha, siehst du? Geschafft!“ Gernot sah durchaus. Es war ja nicht zu übersehen. Er schwieg. Und das setzten die beiden fort, bis wir weit, weit aus Tomsk heraus waren. Ich fragte gar nicht mehr, ob irgendwer eine bestimmte Musik hören wollte und drehte irgendein Gedudel ein. Erst, als Dunja nach vielen Kilometern austreten musste, fielen wieder Worte. Dunja wollte Hygiene. Das Gebüsch war nicht ihr Ding. Gernot bat mich, auf dem nächsten Rastplatz mit einer Wassertoilette zu halten. Wie bestellt, so geliefert – ich fuhr raus, kein Problem. Ich vertrat mir ein wenig die Beine und entdeckte ein Schwalbennest unter dem Dach des Rastplatz-Häuschens. Mit sechs jungen Schwalben. Wenn das meine Kinder sehen könnten, dachte ich…

Als wir weiter fahren wollten, drehte ich den Zündschlüssel um – es machte klick, und nichts passierte. Ich drehte noch einmal. Klick, keine Reaktion. Oh Gott, bitte lass diesen Alptraum nicht wahr sein! Ich drehte noch einmal um – nichts.

Ich sagte: „Jetzt haben wir ein Problem. Das Auto springt nicht an.“

Gernot und Dunja machten lange Gesichter, antworteten aber nichts.

Als hätte ich in Tomsk geahnt, dass ich noch nicht aus dem Schneider war. Wenn wir nur endlich zurück wären. Ich drehte noch einmal am Zundschlüssel und hielt ihn penetrant auf Rechtsanschlag, selbst als nichts passierte. Ich wollte es erzwingen. Da musste doch irgendein Strom fließen! Nach einer gefühlten Ewigkeit, die vielleicht nur vier Sekunden weilte, kam der Anlasser. Das Auto sprang an. In Gedanken sagte ich mindestens fünfzigtausend Hallelujah. Oder ein paar weniger.

Auf der Weiterfahrt war Gernot sehr redsam. Geradezu gesprächslustig. Als hätte es nie irgendeine Verstimmung gegeben. Alles schien in Ordnung zu sein. In Nowosibirsk-Nord tankte ich noch einmal, ließ dabei aber den Motor laufen. Zu groß war meine Furcht. Mücken stachen mich im Abenddunkel, wie zuletzt vor Kasan. Egal, alles egal – Hauptsache, das Auto ging nicht aus. Gegen 21:30 Uhr waren wir zurück in Dunjas und Gernots Wohnung im Nowosibirsker Zentrum. Den Bus parkte ich wieder im Innenhof. Im alleräußersten Notfall würde ich ihn auf der leicht bergab gehenden Straße anrollen lassen können.

IV

Dunja hatte Kopfschmerzen und zog sich bald zurück. Ich schrieb eine SMS an meinen nächsten Gastgeber und kündigte mich für den kommenden Tag an. Dann begaben Gernot und ich uns ins Wohnzimmer. Er stellte Käse, Brot und Datteln auf den Tisch. Ich steuerte Bier bei und ließ mich ausgelaugt in einem Sessel zurückfallen – einfach nur froh, dass wir heil angekommen waren, und nahm an, Gernot erginge es ebenso. Doch ihn trieb etwas ganz anderes um. Er ließ mir nur wenige Minuten, um auf seine Frage, was denn mit dem Auto eigentlich gewesen wäre, einzugehen. Dann hob er an, er müsse da schon noch einmal eine ernste Sache ansprechen. Ich dachte – immer noch fröhlich – Was kommt denn jetzt? Wie ich mich in Tomsk benommen hätte, fing er an, sei unwürdig gewesen. Ich versuchte, zu beschwichtigen, aber Gernot unterbrach mich. Was nun kam, muss lange in ihm auf diesen Moment gewartet haben. Es war die sich über mehrere Tage anbahnende Eskalation, die ich nicht hatte kommen sehen. Gernot redete sich in Rage. Er tadelte mich für die irrwitzigsten Vergehen – in seinen Augen kulturelle Schwerverbrechen – die Beweis für meine Unreife, meine soziale Naivität und meine generelle mentale Inkompatibilität waren; er habe sich leider komplett in mir getäuscht. So beschimpfte er mich unter anderem, weil ich in der Tomsker Wohnung im Türrahmen gelehnt hätte. „Man steht nicht in der Tür herum, das ist unhöflich dem Gastgeber gegenüber. Man hat auch immer ein Gastgeschenk dabei und kommt nicht – wie du – ohne alles zu Fremden. Unanständig. Einfach unanständig ist das!“

Dabei hatte ich gar nicht gewusst, dass wir irgendwo schlafen würden, weil er mir nichts davon gesagt hatte! Welch ein überzogener Vorwurf.

„Und die Krönung“, fuhr er fort, „die absolute Krönung war ja, als du den Fischkopf auf den Tisch gelegt hast. Du hast vermutlich gar keine Ahnung, was dieses Geschenk bedeutet. Wie kann man nur einen Fischkopf auf den Tisch legen! Damit beleidigst du Tanja. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr du Tanja damit verletzt hast! Das war unter aller Sau von dir!“

Sein anmaßend-kalter Ton, dieser unverhohlene Hass, bereiteten mir größere Sorgen, als das, was er sagte. So redete kein Mann, der die Wahrheit sprach. Ich glaubte ihm nicht und erwiderte,„Wenn es so wäre, hätte sie mir das selbst sagen können. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie das schlimm fand.“

„Natürlich nicht, weil du von nichts eine Ahnung hast. Du denkst nur, du weißt alles. Aber die Russen werden dir niemals ins Gesicht sagen, was sie von dir halten.“

Niemals ins Gesicht sagen? Schon zum zweiten Mal sagte er das. War es die Erfahrung, die er mit Dunja und ihrer Familie gemacht hatte?

„Du benimmst dich wie ein Elefant und trampelst auf allem herum. Du bist in jedes, aber auch wirklich in jedes Fettnäpfchen getreten. Und die meisten davon hast du auch noch selber aufgestellt!“

Wie die Stille nach dem Donner hallten seine Worte aus. Ich war vor den Kopf gestoßen. Meinte Gernot das alles ernst?

„Gernot, bitte… Du solltest dich mal reden hören. Du übertreibst. Das ist ja peinlich!“

„Der, der hier peinlich ist, bist Du!“ Und er setzte zu einer weiteren Philippika an, äzte, erzählte von ungeschriebenen Gesetzen, die ich nicht kennen, von Anstand, den ich nicht besitzen würde usw. Wenn er aber die ungeschriebenen Gesetze kannte – wieso hatte er nicht gewusst, was uns im Staryj Zamok erwarten würde? Wieso hatte er nicht gewusst, dass man sich nicht einfach aus einer Gemeinschaftsrechnung ausklinken kann? Dass das Proleme geben würde? Oder hatte er einfach – trotz Einladung – die 3000 Rubel für mich nicht bezahlen wollen? War das der selbe Mann, der am ersten Abend noch gefragt hatte, ob er mir etwas mit hoch tragen sollte? Der mich auf einen Spaziergang durchs Viertel eingeladen und mir so viel über die Nachbarschaft erzählt hatte? Der mich via Skype mit meiner Familie hatte telefonieren lassen? Der mir einen Tip gegeben hatte, wo ich günstig eine Speicherkarte für meine Camera bekommen konnte? Der mir ein Mittel gegen Durchfall gegeben hatte? Der mich nach Tomsk eingeladen, mir den Diesel für die Fahrt und die Rechnung im Staryj Zamok bezahlt hatte? Der sich geweigert hatte, mehr Geld von mir anzunehmen, als ich ihm angeboten hatte noch etwas draufzulegen? Offenbar. Und ich brauchte zwar ein Stück, aber nicht allzu lange um zu verstehen, was hier gerade geschah.

Was Gernot so wütend machte, war nicht, dass ich in meinem Auto der Kapitän und er nur Beifahrer war. Es waren auch nicht meine angeblichen Vergehen wider die russische Gastfreundschaft, die er gegen mich wie eine Waffe einsetzte, um mich einzuschüchtern und mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Nein, ich hatte mich so höflich und freundlich verhalten, wie ich es überall getan hätte. Das alles war nicht der eigentliche Grund seiner Ausfälligkeiten.

Was ihn so wütend machte war, dass ich ihn durchschaut hatte. Ich hatte nach zwei Tagen durchschaut, dass alles Gute, das er mir erwies, nicht wirklich von Herzen kam, sondern Teil einer Kalkulation war, nach der er mit beinahe schon ökonomischer Sachlichkeit Leistung für Gegenleistung anbot. In dieser Kalkulation wollte er erklären und ich hatte zu lauschen. Er wollte Weisheiten darbieten, ich hatte sie anzuerkennen. Er wollte großzügig erscheinen, ein Exempel für „wahre Gastfreundschaft“ statuieren – und ich hatte zu staunen und dankbar zu sein. Je mehr ich ihn durchschaute, desto mehr weigerte ich mich, ihm zu geben, was er von mir erwartete, desto weniger war ich bereit, in der Währung zu zahlen, die er als Gegenleistung für seine „Gastfreundschaft“ von mir verlangte: Ehrfurcht, Anerkennung und Gehorsam. Ein schülerhaft-unterwürfiges Aufblicken zum Meister.

Schon Sima war nur schwer damit zurecht gekommen, nicht seine gewohnt dominante Rolle spielen zu können. Doch mit Gernot war es schlimmer. Ständig war sein Zeigefinger erhoben. Pausenlos nötigte er mir seine pädagogisierende Vormundschaft auf, stur und bräsig. Dies, sowie seine Stimme – ein raspelnder Bass mit monotonem Timbre – die auf eine unumstößliche Art klang, als spräche der All-Souverän zu unreifen Kindern – kitzelte meinen Nicht-Zustimmung heraus, mein emanzipatrisches Streben nach geistiger Unabhängigkeit. Ihn störte mein eigener Kopf. Kritik an seinen Theorien duldete er nicht. Widerrede schon gar nicht. Und dass ich im alltäglichen Umgang mit Menschen Charme, Witz und Lockerheit bewies, auf eigenen Beinen stehen konnte und seiner Hilfe im Grunde nicht bedürftig war, muss ihn am meisten geärgert haben. Denn genau diese Lockerheit ging ihm ab. Oder war es etwa nicht so, war es nicht lediglich eine Rolle, in die er schlüpfte, als er zum Abschied den Gentleman gegeben und Tanja geküsst hatte? War es nicht so, dass da die wirkliche Herzlichkeit gefehlt, dass das Glück des Abschiedes auch darin gelegen hatte, sich dem anderen nun nicht länger anpassen zu müssen? Ich hatte es doch mit eigenen Augen gesehen – Tanjas künstliches Bussi-Bussi-Lächeln. Auch sie war von Gernot genervt. Im Tomsker Stadtverkehr war seine Maskerade gefallen: Gernot, der Allwissende, hatte keine Ahnung. Vielleicht nahm er mir das übel. Vielleicht musste ich dafür jetzt büßen.

Scherzhaft hatte ich ihn einmal mit einem Computer verglichen, der nur definitive Regeln kenne und ausschließlich definitive Entscheidungen treffe. Vielleicht nagte auch das an ihm. Weil er aber als solcher keine Graustufen kannte, weil er nicht biegsam und anpassungsfähig war, lösten meine „Übertretungen“ in seinem System Error aus. Wodurch vielleicht bei Gernot, dem IT-Experten im Ruhestand, am Ende sind ein paar Schaltkreise durchbrannten. Bis er exakt das konterkarrierte, was er mir über „Gastfreundschaft“ nahezubringen versucht hatte.

Seine Tirade endete mit folgendem Satz:

„Kein Russe wird dir je wieder seine Tür öffnen!“

Wortlos stand er auf und ging.

Ich spürte seinen Hass, kalt und unversöhnlich. Erschüttert starrte ich vor mich hin. Plötzlich war ich froh, ohnehin geplant zu haben, morgen weiter zu ziehen. Hier wollte ich keine Sekunde länger als nötig bleiben. Sollte ich vielleicht sofort gehen? Doch wohin? Nein, das war schwer möglich. Diese eine Nacht musste ich noch überstehen.

Lange konnte ich nicht einschlafen, wälzte mich mit unheilvollen Gedanken hin und her. Was, wenn morgen der Bus nicht anspringen würde? Was, wenn Gernot irgendeinen „Bekannten“ beauftragte, an meinem Auto in der Dunkelheit einen „Eingriff“ vorzunehmen? Oder Dunjas Sohn, der mich auch schon scheel angesehen hatte, weil ich sein Zimmer besetzte? Nach der letzten Stunde war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, was ich Gernot eigentlich nicht zutrauen würde. Ich fühlte mich sehr allein. Allein in einem fremden Land, 6000 Kilometer weit weg von zu Hause und noch für eine ganze Nacht einem unberechenbar launischen Menschen ausgeliefert – einem, dem ich vertraut und der mir soeben unmissverständlich mitgeteilt hatte, dass er mich als Feind betrachtete. In mir stieg eine Sorge auf – die Sorge, bei einem Psychopathen gelandet zu sein.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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