Ein Gastbeitrag von Marko Wild
Im August meldete sich die Band Kettcar aus Hamburg nach längerer Pause mit einer Single zurück, die in diversen Medien schon kurz nach Veröffentlichung als das wichtigste Lied des Jahres bezeichnet wurde.
Der Titel „Sommer 89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ erzählt die Geschichte eines jungen Hamburger Mannes, der sich rund 3 Monate vor der Öffnung der Mauer allein auf den Weg nach Österreich macht, einen Bolzenschneider kauft, in einer Nacht-und-Nebelaktion den Eisernen Vorhang durchtrennt und damit drei sächsischen Familien den Weg in den Westen ermöglicht. Er gibt den DDR-lern einen Wiener Stadtplan, worin er die Deutsche Botschaft markiert hat und überlässt ihnen seine letzten Schillinge. Zurück in seiner Hamburger WG erntet er Unverständnis. Die Abschaffung der Grenze sei der Anfang zu einem wiedervereinigten Deutschland. Ein solcher Machtblock dürfe nie wieder entstehen. Der Zaundurchschneider indes beharrt auf der moralischen Richtigkeit seiner Tat. Anstatt sich jedoch weiter zu rechtfertigen, steht er irgendwann schweigend auf, verlässt die WG – und ward nie mehr gesehen.
Warum das Lied (und das dazugehörende Video) so gepriesen werden, liegt auf der Hand. Der intellektuell völlig ausgebluteten Linken wird damit nach Monaten der Frustration über das Erstarken des politischen Feindbildes endlich ein audiovisuelles Argument gegeben, nach dem sie offenbar ebensosehr lechzte, wie der Hirsch im geflügelten Wort nach frischem Wasser. Entsprechend euphorisch fällt nun die Rezeption aus: Seht her, ihr Flüchtlingskritiker (aus dem Osten), damit halten wir Euch den Spiegel vor!
Denn natürlich geht es nicht um damals, sondern um heute. Was damals richtig war, so die Botschaft, kann heute nicht in Frage gestellt werden. Und schon gleich gar nicht von jenen, die damals selbst befreit wurden.
Wie allerdings stets in der linken Ideologie, so klaffen auch hier Anspruch, Logik und Wirklichkeit unvereinbar auseinander. Einmal von solchen Kalauern abgesehen wie dem, dass der prophetisch begabten Hambruger WG schon im August 1989 die kommende Wiedervereinigung klar war, ist die Story nicht nur auf der sachlichen Ebene falsch. Womit sie zunächst einmal ähnlich phantastisch wie etwa die Indiana-Jones-Filme (und deshalb unterhaltsam und verzeihlich) wäre. Doch das berührt nur die Oberfläche.
Im Kern betreibt die Story Geschichtsrevisionismus nach bester linker Manier.
Die Wahrheit ist: im Sommer 1989 verhielten sich die Bundesbürger passiv und in großen Teilen sogar desinteressiert gegenüber den Ereignissen im anderen deutschen Staat. Auch war der Zaun bereits im August ’89 „löcherig“, nachdem Gyula Horn und Alois Mock ihn am 27. Juni symbolisch durchtrennt hatten. Und das Tor nach Österreich wurde den DDR-lern nicht von Westen aus geöffnet, sondern sie erstürmten es kurzerhand am 19. August.
DDR-Bürger waren auch keine kulturfremden Asylbewerber, die tausende Kilometer über zahlreiche sichere Drittstaaten auf der Wanderschaft ins beste Sozialsystem der Welt waren, sondern Deutsche, die innerhalb Deutschlands bleiben wollten.
Vermutlich jedoch kümmern derlei nebensächliche Details einen deutschen Indierockpoeten nicht, solange die Message passt.
Nun einen (exemplarisch) zäunedurchschneidenden Helden zu erfinden und diesem damit eine entscheidend aktive Rolle beim Fall des Ostblocks anzudichten, kehrt die Verhältnisse ins Gegenteil. Aus dem abwartend-passiven Bundesbürger, dem die Deutschen im Osten zunächst relativ egal waren, wird nachträglich jener, der aus moralischem Imperativ aktiv deren „Befreiung“ herbeiführte. Nichts könnte ferner liegen. Gleichzeitig werden aus den aktiv handelnden DDR-Bürgern im Grunde passive Menschen, die von sich aus kaum mehr tun konnten, als die ihnen von anderen verschaffte „Freiheit“ anzunehmen.
Damit wird den DDR-lern nicht nur nachträglich aberkannt, sich die Freiheit selbst errungen zu haben. Nein, es geht hier um mehr: wer sich selbst nie befreit hat, sondern befreit wurde, besitzt auch kein Recht, heute in einer angeblich ähnlichen Frage mitzureden.
Das Lied ist also ein Versuch, den kritischen Ostdeutschen die Legitimation am politischen Diskurs abzusprechen.
Zu befürchten ist, dass die Story mit aller Anstrengung in den erinnerungspolitischen Kanon der jungen Generation eingepflanzt wird. Je nachdem, wie das Stück in Zukunft rezipiert wird, könnte es eine Evolution von „historisch möglich“ über „historisch wahrscheinlich“ bis hin zu „nach einer wahren Begebenheit“ erfahren. Auf dass in zwanzig Jahren auf die Frage, wie das denn „damals“ gewesen sei bei der Grenzöffnung, der Lehrer den Achtklässlern empfehlen kann, sich ergänzend zum vorhandenen Material auch einmal den Song „Sommer ’89“ von der deutschen Band Kettcar anzuhören. Vor allem das Video dazu sei sehr gut gemacht.
Von den schon früh im Jahre 1990 abgehaltenen Versammlungen beispielsweise im Oberfränkischen und in anderen westdeutschen Gebieten wird er dann sicher schweigen. Dort wurde mit besitzstandswahrender Eindringlichkeit für den Wiederaufbau der Mauer und die erneute Ausgrenzung der „Ossis“ demonstriert. Nicht von allen, versteht sich.
Aber so beliebt, wie Schwarzafrikaner, Paschtunen und Araber waren insbesondere die Sachsen bei vielen im Westen nie.