Ein Gastbeitrag von Naomi Seibt
Am 30. Mai 2017 stellte meine Mutter Karoline Seibt auf Facebook die folgende Frage:
„Wenn ihr euer Leben zurückdrehen könntet, was würdet ihr in vorausschauender Kenntnis der heutigen Situation anders machen?“
Ich war überrascht, festzustellen, dass die meisten Antwortenden es bereuen, Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Nicht etwa, weil sie sich durch ihre Kinder an einem sorgenfreieren Leben gehindert fühlten, sondern aus Angst, ihnen womöglich eine unglückliche Zukunft aufgebürdet zu haben, besonders aus wirtschaftlichen und politischen Gründen.
Obwohl ich diese Sorge nachvollziehen kann, teile ich sie als sechzehnjährige Tochter einer politisch engagierten und oftmals zu Unrecht als „rechtsextrem“ denunzierten Mutter nicht.
Ich schäme mich nicht für meine unpopuläre Meinung und äußere sie klar und deutlich, wenn danach gefragt wird. Auch keine Autoritätspersonen – seien es Politiker, fremde Eltern, Lehrer – können mich mit bloßen Einschüchterungstaktiken überzeugen und mir die geistige Freiheit nehmen. Natürlich habe ich mich damit in einigen Kreisen unbeliebt gemacht. Natürlich habe ich negative Kommentare geerntet und mich in meiner eigenen Stufe gewissermaßen isoliert.
Darüber hinaus bin ich mir der Instabilität des gesamtweltlichen wirtschaftlichen Systems und unseres inzwischen von Kriminalität strotzenden Deutschlands bewusst. Um ehrlich zu sein habe ich die Hoffnung in dieses Land weitestgehend verloren.
Wäre ich deswegen lieber gar nicht geboren worden?
Die Frage erinnerte mich an die Kernfrage des Buches „Das Orangenmädchen“ von Jostein Gaarder, welche der an Krebs verstorbene Vater seinem Sohn Georg in einem letzten Brief stellt:
„Stell dir vor, du stündest irgendwann, vor vielen Jahrmilliarden, als alles erschaffen wurde, auf der Schwelle zu diesem Märchen. Und du hättest die Wahl, ob du irgendwann einmal zu einem Leben auf diesem Planeten geboren werden wolltest. Du wüsstest nicht, wann du leben würdest, und du wüsstest nicht, wie lange du hier bleiben könntest, doch es wäre jedenfalls nur die Rede von wenigen Jahren. Du wüsstest nur, wenn du dich dafür entscheiden würdest, irgendwann auf die Welt zu kommen, dass du, wenn die Zeit reif wäre, wie wir sagen, oder ‚wenn die Zeit sich rundet‘, sie und alles darauf auch wieder verlassen müsstest. Vielleicht würde dir das großen Kummer machen, denn viele Menschen finden das Leben in diesem großen Märchen so wunderschön, dass ihnen die Tränen in die Augen treten, wenn sie nur daran denken, dass irgendwann einmal keine weiteren Tage kommen. […] Wofür hättest du dich entschieden, Georg, wenn eine höhere Macht dich vor diese Entscheidung gestellt hätte? […] Hättest du dich für ein Leben auf dieser Erde entschieden, kurz oder lang, in hunderttausend oder hundert Millionen Jahren?“
Meine persönliche Antwort auf diese Frage lautet: Ja, ich möchte leben. Es mag nur ein kurzer Einblick in die Welt; vielleicht sogar einen komplizierten, unsicheren Ausschnitt der Welt sein, aber letztendlich liegt es an mir, mir meine Realität zu gestalten, etwas Wertvolles zu lernen und lebenswerte Erfahrungen zu sammeln.
Obgleich mein menschliches Umfeld mir heute zu einem großen Teil mit Missbilligung begegnet, weil ich die geächtete Meinung vertrete, die „Arme und kranke Flüchtlinge sind mir egal“-Meinung, so geschieht dies doch wenigstens nicht hinter meinem Rücken.
Ich kann ehrliche Konversationen führen, denn die meisten Menschen – besonders die, die Teil des Meinungs-Mainstreams sind – stehen selbstbewusst zu ihren Ansichten. Ich erkenne schnell die moralischen Werte meines Gegenübers und welche Rolle mein persönlicher Höchstwert Freiheit in dessen Prioritätenliste spielt. Trotz des noblen, aber irreführenden Etiketts des Linken, welches fälschlicherweise häufig mit dem Liberalen gleichgesetzt wird, treten moralische Werte in politischen Diskussionen zu aktuellen Themen sehr schnell hervor. Ich erkenne für mich darin zwei Vorteile:
1. Ich kann Menschen, deren Werte mit meinen vollkommen inkompatibel sind, aus meinem Leben aussortieren, bevor ich meine Zeit mit ihnen verschwende.
2. Sollte sich dennoch eine fruchtbare Diskussion ergeben, so bin ich gerne bereit, meine eigenen Ansichten auf die Probe zu stellen.
Frustration erfasst mich nur selten, denn ich kann mich gegen diese Frustration entscheiden, indem ich mich daran erinnere, dass sich Gleichgesinnte überall auf der Welt finden, wenn auch oft auf Umwegen. Ich lasse mir meine Stimmung nicht vom Staat oder Menschen diktieren, die mir von vorne herein nur schaden oder mich auf ihre Seite zwingen wollen.
Mein Schicksal ist nicht zum Scheitern verurteilt, solange ich selbstbewusst an meinen Prinzipien festhalten kann und mich nicht von anderen verformen lasse.
Allerdings, und dieser Faktor ist nicht zu vernachlässigen: Ich profitiere immens von der Unterstützung meiner Mutter und wäre ohne diese vielleicht unglücklich angepasst im Mainstream untergegangen. Mein Rat an alle Eltern ist also, dass sie den Individualismus ihrer Kinder fördern und sie dazu ermutigen, alles zu hinterfragen, was ihnen von anderen Autoritätspersonen als die einzig richtige und „humanistische“ Antwort präsentiert wird.
Nur ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und die Überzeugung von der eigenen Meinung bewahren einen davor, den unrechten Verurteilungen zum „rechtsextremen Unmensch“ standzuhalten.
Es sind die Beziehungen zu den Menschen, die meine Ansichten teilen, aber auch denen, die trotz einiger Meinungsunterschiede an meiner Seite bleiben, die mir das Leben mit all seinen Hindernissen und seiner Endlichkeit wert sind.