Ein Gastbeitrag von Carsten Kimmel
Der deutsche Protestantismus feiert dieses Jahr – und vor allem in diesen Tagen beim Evangelischen Kirchentag in Berlin das 500-jährige Reformations-Jubiläum. Wir hören viel von der epochalen Leistung der Reformatoren, ihren kulturbildenden und innovativen Ansätze – auch der Antijudaismus Martin Luthers wird von der Botschafterin des Reformationsjubiläums, Landesbischöfin a. D. Margot Käsmann, immer wieder betont.
Die v. a. jungen Kirchentagsteilnehmer schwelgen in der zeitgenössischen Willkommenskultur unter dem Kirchentagsmotto „Du siehst mich“ – ist das doch aus dem Flüchtlingsdrama der jungen Hagar, deren Flucht im Buch Genesis beschrieben ist.
Was haben wir doch für ein Glück, dass das Alte Testament ausreichend Stoff über Flüchtlinge bietet! Das stimmt den jungen Kirchentagstouristen froh, kann er darüber die antijudaistische Geschichte der Kirchen vergessen. Wie irritierend ist es da, dass auch vor 85 Jahren junge deutsche Protestanten aufgebrochen waren, den deutschen Protestantismus zu reformieren.
Als zum Ende der Weimarer Republik die „Glaubensrichtung“ Deutsche Christen von einem 33-jährigen Berliner Pfarrer gegründet wurde, glaubten viele, es werde nicht nur die Einigung der vielen evangelischen Landeskirchen gelingen, sondern auch die Vereinigung des Protestantismus mit den progressiven Strömungen der Zeit, von denen der Nationalsozialismus die Ideologie schien, die dem Protestantismus am weitesten entspräche.
Der weitere Verlauf ist bekannt: die Deutschen Christen eroberten bei den Kirchenwahlen von 1933 im Sturm die deutschen Landeskirchen, ersetzten außer in den vier verbliebenen „intakten Kirchen“ Bayern, Hannover (mit Einschränkungen), Württemberg und Westfalen, die Kirchenleitungen, setzten ihren Kandidaten für das Reichsbischofsamt durch und verloren sich nach dem Aufstand der Bekennenden Kirche ab November 1933 in der Bedeutungslosigkeit. Zahllose Wiederbelebungsversuche bis 1945 blieben von lokalen Bedeutung und doch: die Bischöfe der Deutschen Christen blieben in den restlichen deutschen Landeskirchen ebenso im Amt wie Reichsbischof Müller selbst. Erst die Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 bedeutete das endgültige Ende dieser Jugendbewegung.
Sie meinen: na, das war ja ein kurzer Spuk! Erlauben Sie, dass ich widerspreche?
Sicherlich, die Extrempositionen der Deutschen Christen ernteten selbst von deutschnationalen und nationalsozialistischen Zeitgenossen massiven Widerspruch:
♦ Abschaffung des Alten Testaments als „Ansammlung von jüdischen Viehhändler- und Zuhältergeschichten“,
♦ Ausschluss der sogenannten „Judenchristen“,
♦ Reinhaltung der deutschen Rasse, Jesus Christus als arisch-germanischer Heros, der natürlich keinen jüdischen Vater namens Joseph haben konnte, sondern jungfräulich empfangen wurde in der eingewanderten arischen Maria –
All das schreckte viele konservative Protestanten damals schon ab. Diese häretische Bewegung konnte sich aber doch auf alte Tendenzen im Protestantismus stützen: vor allem auf den nicht erst von Martin Luther erfundenen Antijudaismus.
Das muss Ihnen doch jetzt aber bekannt vorkommen: es vergeht kein Tag in der Woche des politischen Berlins, in dem sich vom Bundespräsidenten über den Bundesaußenminister bis zur Fraktion der Linken nicht ein Mainstream-Politiker findet, der den Staat Israel kritisiert.
Das entspricht der Vernunft, finden Sie? Ich bitte Sie: wie oft wird parallel dazu die religiös motivierte oder rassistische Politik im Nahen Osten oder in Afrika verbal gegeißelt?
Mit welchem Recht erheben sich zeitgenössische Politiker der Berliner Politik über die Entscheidungen der einzigen liberalen Demokratie im Nahen Osten?
Wer gibt diesen Politikern das Recht, sich einen einzigen Staat der Welt herauszupicken und dort jeden Hausbau als Angriff auf den Weltfrieden zu erkennen?
Ich denke, hier gibt es Verbindungen der deutschen Politik wie auch der deutschen Medienlandschaft und dem Kirchentag dieser Tage: da sitzen Leute, die es wissen müssen!
Sie haben die Weisheit aus ihrer Überzeugung, dass sie nicht nur die besseren Menschen sind, sondern gleich auch die besseren Europäer – Bascha Mika wusste das beim Presseclub der ARD in guter Tradition Wilhelms II. bereits vor Monaten.
Und wie kann dieses Bewusstsein am besten genährt werden? Durch das Sendungsbewusstsein des Protestantismus, der anders als der traditionell übernational bis international ausgerichtete Katholizismus die nationale Befindlichkeit mit seiner jugendlich frischen Komponente anreichert.
Heute unterstützte Barak Obama den Wahlkampf Angela Merkels mit seinem Auftritt auf dem deutschen Kirchentag – und die angereiste evangelische Jugend wird es ihm mit Tränen in den Augen danken.
Der deutsche Protestantismus ist längst mit der Regierungschefin versöhnt, handelt sie doch endlich mit ihrer „Flüchtlingspolitik“ im Sinne evangelischer Gesinnungsethik. Wie gut, dass die beseelt auf dem Kirchentag oder in jüngster Vergangenheit an verschiedenen Bahnhöfen klatschenden wahren Deutschen, Europäer oder Christen nicht 85 Jahre früher geboren worden sind. Wir wissen, wie sie auf die Fragen ihrer Enkel reagieren würden.
Die Gedächtnislücken, die in historischen Ausnahmesituationen in den letzten 200 Jahren in Deutschland auftreten, machen mich ebenso sprachlos wie jedes Bild, das mich aus Berlin in diesen Tagen erreicht.
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Fotos: (c) Screenshot youtube
Zum Autor: Carsten Kimmel lebt in Paris und in der Schweiz.
Er arbeitet als Musiktexter, Kommunikationswissenschaftler und Neurolinguist.
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