Ein Gastbeitrag von Jürgen Fritz
A. Vorwort
Er war ein großer Gelehrter, Zivilisationskritiker und Regierungsberater. 1949 in Stuttgart geboren, lehrte er seit 2000 an der Universität St. Gallen Geschichte, lebte in Heidelberg, wo er sich am 17. September im Alter von 67 Jahren das Leben nahm. Im Winter 2015/16 erschien sein letzter Essay „Deutschland, Schlaraffenland – Auf dem Weg in die multitribale Gesellschaft“.
Ich selbst hatte in der Oberstufe Geschichte Leistungskurs, habe in Heidelberg Geschichte im Nebenfach studiert und dann später unterrichtet. Ich kann mich nicht erinnern, je einen besseren Text eines Historikers gelesen zu haben. Bereits nach den ersten Sätzen von Rolf Peter Sieferle spürt man regelrecht: Hier schreibt ein großer Geist. Ein großer Geist, dessen Bücher und Essays aber viel zu wenig gelesen werden. Daher will ich im Folgenden versuchen, seinen letzten veröffentlichten Essay einem größeren Leserkreis ein klein wenig näher zu bringen, a) weil dieser Mann das verdient hat und b) weil er uns so viel zu sagen hat, auch über seinen Tod hinaus.
B. Rolf Peter Sieferle: Deutschland, Schlaraffenland – Auf dem Weg in die multitribale Gesellschaft (Stammes-Gesellschaft)
Europa werde derzeit von einer Migrationswelle von präzedenzlosem Umfang überschwemmt, so Sieferle. Millionen machten sich auf, um in das gelobte Land zu gelangen. Die Bevölkerung Afrikas, aktuell über eine Milliarde, wachse jährlich um etwa 3 Prozent, also um 30 Millionen Menschen. Einige Millionen davon machten sich jährlich auf den Weg in ein erhofftes besseres Leben. Selbst wenn es nur 10 Prozent des Zuwachses seien (nicht einmal 0,3 Prozent der Bevölkerung), so wären dies 3 Millionen im Jahr.
In 30 Jahren circa 100 Millionen Immigranten nur aus Afrika!
Hinzu kämen Migrationen aus den Bürgerkriegsgebieten des Nahen Ostens. Allein in Libyen sollen etwa eine Million Migranten darauf warten, einen Platz in einem der Boote zu finden, die sie auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer bringen.
Europa befinde sich in dieser Hinsicht in einer besonderen Situation, was mit seiner geographischen Lage zu tun habe. In Europa sei es im Gegensatz zu den USA physisch praktisch unmöglich, die Außengrenzen abzuschirmen, weil diese viel größer seien als die relative kurze Grenze zwischen USA und Mexiko. (Persönliche Anmerkung: Dies sehe ich anders. Ich halte es für durchaus möglich, Europas Außengrenzen weitgehend zu sichern. Eventuell müssen auf lange Sicht die vielen kleinen griechischen Inseln aufgegeben werden. jf) Hinzu komme, dass sich gerade in den Grenzgebieten in Nordafrika und im Nahen Osten immer mehr unberechenbare Staaten fänden, auf deren Kooperation nicht gebaut werden könne.
Andere Industrieländer wie Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland befänden sich so weit von möglichen Herkunftsorten entfernt, dass die Anreise von boat people sehr riskant und relativ leicht zu kontrollieren sei. Länder wie China oder Rußland seien schwer zu erreichen und bildeten (noch) keine attraktiven Ziele. Es bleibe also Europa als der Raum, in dem der stärkste Einwanderungsdruck zu erwarten sei. Die Europäer stünden daher vor einer Völkerwanderung vergleichbar der in der Spätantike. Weshalb aber wollen so viele Menschen in Länder wie Deutschland einwandern? Die Gründe dafür lägen auf der Hand:
In Deutschland herrschten 1. Wohlstand und 2. Sicherheit. Es gebe einen funktionierenden Rechtsstaat, es drohten keine Kriege oder Bürgerkriege, keine Seuchen, das Gesundheitssystem sei exzellent und gratis, die Arbeitslosigkeit gering, die sozialen Netze seien üppig ausgebaut. Im Grunde handele es sich um eine Art Schlaraffenland.
Weshalb seien die Verhältnisse in Deutschland aber so viel besser als etwa im Irak? Das sei schließlich nicht immer so gewesen. Noch vor tausend Jahren habe dies völlig anders ausgesehen. Und vor dreitausend Jahren wären Lebensstandard und zivilisatorisches Niveau in Europa zweifellos niedriger gewesen als in Mesopotamien. Hier habe sich also in den letzten Jahrtausenden etwas drastisch geändert und es stelle sich die Frage, was es war. Wie ist es Europa gelungen, aus den agrarischen Zivilisationen auszubrechen und einen neuen Typus von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft hervorzubringen, der Wohlstand und Sicherheit für alle miteinander kombiniere?
Sieferle nennt drei Faktorenkomplexe, die den Weg Europas in die rechtsstaatlich konstituierte Industriegesellschaft, in »die Moderne« verursacht hätten: 1. technisch-industrielle, 2. kulturell-mentale und 3. politisch-institutionelle Ursachen.
Die Entwicklung zur Industriegesellschaft sei unstrittig von Europa ausgegangen, doch habe sie Nachahmer gefunden a) in den neo-europäischen Kolonien (USA, Kanada, Australien, Neuseeland), die das europäische Muster problemlos übernahmen, und b) in Asien: in Japan, Südkorea und Taiwan. Vermutlich würden früher oder später auch Festlandchina und Indien dazukommen. Diese Länder hätten keine autochthone Industrialisierung hervorgebracht, doch sei es ihnen in relativ kurzer Zeit gelungen, auf den Zug aufzuspringen.
Andere Länder wären weniger erfolgreich, obwohl sie den europäischen Sonderweg aus nächster Nähe beobachten konnten: vor allem Rußland, das seit dreihundert Jahren versuche, mit Europa Schritt zu halten, und das doch immer wieder in die alte Misere zurückfalle. Ähnlich verhalte es sich mit dem Osmanischen Reich, von dem nur eine einzige Provinz wirklich erfolgreich war, nämlich Palästina/Israel. Dies aber nur infolge der zionistischen Einwanderung aus Europa. (Hier haben wir bereits einen ersten Hinweis, dass es in erster Linie mit mentalen Gegebenheiten zu tun haben könnte. jf)
Eine erfolgreiche Industrialisierung beruhe also offenbar auf bestimmten historischen, vor allem kulturellen und institutionellen Voraussetzungen, die nicht leicht zu imitieren seien. Die Menschen lebten gerne im Schlaraffenland. Deshalb dränge es sie zur Migration in die Industrieländer, denn irgendetwas hindere sie daran, dieses Schlaraffenland bei sich zuhause zu errichten. Offenbar sei die Immigration in ein bereits existierendes Schlaraffenland leichter als der Aufbau eines solchen im eigenen Land.
Weshalb aber ist das so? Nach Sieferle war es sei ein hoch unwahrscheinlicher Prozess, der in den europäischen Ländern über Jahrhunderte hinweg Mentalitäten und Institutionen geschaffen hat, deren Ergebnisse wir heute vor uns haben. Dieses Erfolgsmuster könne nicht ohne weiteres kopiert werden.
Transfer von Technologie sei leicht, Transfer von Institutionen aber schwer. Transfer von kulturell-mentalen Mustern sei praktisch unmöglich.
(Persönliche Anmerkung: Weil die Seelen von Menschen und deren Formung sich nicht so einfach von heute auf morgen ändern lassen, was die entwicklungspyschologischen, erziehungswissenschaftlichen und anthropologischen Analphabeten in Berlin nicht begreifen. jf)
Die vielleicht wichtigste Voraussetzung der europäischen Entwicklung war die Zerschlagung von tribalen Strukturen durch die Staaten der frühen Neuzeit. Dies war eine elementare Vorbedingung des Nationalstaats, der zum institutionellen Zentrum der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde. Er zielte auf die Herstellung einer homogenen Einheit von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt, die sich von anderen Einheiten (Staaten) unterscheidet und abgrenzt. Der Nationalstaat löste die Herrschaft der Stämme, Clans, Großfamilien, Personenverbände und Klientelsysteme aller Art auf.
Nationalstaat als Rechtsstaat bedeutete: gleiches Recht für alle innerhalb des Staatsgebietes. Und es bedeutete ein staatliches Gewaltmonopol mit Polizei und Armee.
Dieser Nationalstaat vereinheitlichte die Infrastruktur: Geld, Recht (Zivilprozeß statt Fehde), Sprache, Verwaltung, Verkehrswesen, Staatsangehörigkeit. Um diese Leistungen erbringen zu können, musste eine zentrale, von oben nach unten durchstrukturierte Verwaltung errichtet werden, die den Ansprüchen bürokratischer Rationalität genügte (gegen Korruption und Klientelwesen).
Der Nationalstaat definierte als Identitätseinheit des Staates das Staatsvolk. Im 18. Jahrhundert gab es zwar kaum ethnisch homogene »Nationen«. Dennoch gewann dieses Konzept eine erstaunliche Anziehungskraft. Diese Ideologie tendierte dazu, dem Nationalstaat quasitribale Züge zuzuschreiben. Der nationalistisch geprägte Nationalstaat verstand sich als Vertreter einer Abstammungseinheit, und er forderte von seinen Mitgliedern eine umfassende Loyalität, wie man sie sonst nur in Stammesgesellschaften kannte. Der Konflikt mit anderen Nationalstaaten nahm daher leicht totale Züge an. Die daraus resultierenden Exzesse fanden vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei aufgrund dieser Exzesse die Ideologie des Nationalismus unter den Eliten der fortgeschrittenen Länder anrüchig geworden. Hier habe daher eine ideologische Verschiebung vom völkischen zum demokratischen Akzent des Volkes stattgefunden. Damit aber sei der Volksbegriff zunehmend universalistisch begründet worden, obschon die Völker de facto nach wie vor innerhalb exklusiver (ausschließender), nichtuniversalistischer Nationalstaaten organisiert seien. Der Nationalstaat stehe daher heute vor dem Problem, dass seine primäre Legitimation, der Nationalismus, obsolet geworden sei, seine sekundäre Legitimation, der demokratische, humanitäre Universalismus, aber mit seiner exklusiven Organisationsform nicht kompatibel sei. Wenn Volk A, B und C alle gleich sein sollen, weshalb soll es dann noch Grenzen zwischen ihnen geben?
Besonders brisant werde diese Problematik, wenn es um den Sozialstaat gehe. In den europäischen Agrargesellschaften hatten die Gemeinden bestimmte Aufgaben der Daseinsvorsorge für ihre Mitglieder übernommen, die von den Familien nicht erbracht werden konnten, vor allem Armenpflege und Unterstützung in Notfällen. Mit der Industrialisierung sei die Mitgliedschaft in einer Gemeinde zum Mobilitätshindernis und damit obsolet geworden. Die Gemeindebürgerschaft sei so zur Staatsbürgerschaft ausgeweitet worden. Der Nationalstaat sei aber in größerem Maßstab ebenso exklusiv gewesen wie die Bürgergemeinde. Die Leistungen des Sozialstaates seien seit dem späten 19. Jahrhundert immer weiter ausgedehnt worden, kamen aber immer nur den eigenen Staatsbürgern zugute.
In diesem Sinne war der Sozialstaat immer exklusiv nach außen, aber inklusiv (alle einschließend) nach innen.
Eben diese Relation von Ausschließung und Einschließung definiere aber das problematische Wesen des (nationalen) Sozialstaats. Dieser stehe heute nach dem Plausibilitätsverlust des Nationalismus vor dem Problem, dass er praktisch nur als Nationalstaat möglich ist, dass seine daseinsvorsorgende Inklusivität also de facto auf Exklusion, auf Ausschließung beruhe. Die offizielle Ideologie, mit deren Hilfe die Umverteilung im Sozialstaat begründet wird (aus Motiven der Gleichheit und Gerechtigkeit), sei jedoch universalistisch angelegt.
Wenn der Sozialstaat seine Programme der sogenannten „sozialen Gerechtigkeit“ aber aus dem humanitären Universalismus begründet (Menschenrechte), kann der Verwirklichungsraum dieser Gerechtigkeitsprogramme schwerlich der ausschließende Nationalstaat sein. Der Umverteilungssozialismus müsste sich nach dieser Logik als universalistische Ideologie auf den Weltstaat beziehen. Dieser existiere aber in der Realität nicht. Ergo müsse der Sozialstaat sich nach dieser Logik für jede Zuwanderung in die Sozialsysteme öffnen. Das Ergebnis wäre natürlich die Zerstörung des Sozialstaats, nicht aber dessen Universalisierung. Ein Ausbau des Sozialstaats bei gleichzeitiger Öffnung der Grenzen für Immigranten wäre zweifellos nicht nachhaltig.
Es wäre so, als drehte man die Heizung auf und öffnete gleichzeitig die Fenster.
Eine Reaktion auf diese Unmöglichkeit könne darin bestehen, dass man dies als Anlass nehme, den Sozialstaat abzubauen. Dies wäre eine konsequente liberale Lösung. Der Staat müsste sich auf seinen rechtsstaatlichen Kern zurückziehen und soziale Interventionen völlig unterlassen, wie dies etwa in den USA im 19. Jahrhundert während der Masseneinwanderung aus Europa der Fall war. Dies läge allerdings nicht im Interesse der Unterschichten in den Sozialstaaten, die gegen eine solche Entwicklung populistischen Widerstand leisten würden.
Somit stelle sich also die generelle Frage, was die Immigration von Menschen aus gescheiterten bzw. nicht entwicklungsfähigen Staaten in den Zielländern anrichten. Importieren sie ihr Scheitern in diese Gesellschaften? Zerstören sie dort die kulturellen und institutionellen Voraussetzungen der Industrialisierung, die sie in ihren Herkunftsländern nicht besaßen und nicht hervorbringen konnten?
Diejenigen, die heute von bunter Vielfalt sprechen, meinen, dass die Frage nach der historischen Entstehung der Industriegesellschaft nicht identisch sei mit der Frage nach den Bedingungen, unter denen eine Industriegesellschaft, die bereits existiert, weiterhin existieren kann. Das Schlaraffenland sei kulturell strapazierbar und eben darauf setzen sie.
Aus schlichter ökonomischer Perspektive werde die Einwanderung nach Deutschland heute ebenfalls begrüßt, da man sich von ihr eine Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials verspreche. Damit könne man die extrem negative demographische Entwicklung ausgleichen, so die Hoffnung. Sieferle macht aber deutlich, dass dies eine stark verkürzte vulgärökonomische Argumentation ist, für die nur Kapitalressourcen und Arbeitskräfte eine Rolle spielen. Betrachte man das Ganze umfassender und nehme auch soziales und kulturelles Kapital ins Visier, also immaterielle Faktoren, die zum Wohlstand beitragen, sehe die Sache völlig anders aus.
Dieses kulturelle Kapital beruhe auf Überlieferung sowie auf der Eindeutigkeit der Gruppenzugehörigkeit. In das Paket des kulturellen Kapitals, das für eine funktionierende demokratische, aufgeklärte und wirtschaftlich erfolgreiche Gesellschaft charakteristisch ist, gehörten etwa die folgenden Elemente:
Rechtsstaatlichkeit, Fairplay, Rechte des Individuums, Beschränkung der Staatsgewalt, Verbindung von Individualismus und Gemeinwohlorientierung, Meinungsfreiheit (inklusive Religionsfreiheit), Arbeitsethos, Orientierung am Fortschritt, Ausbildung von Vertrauen, Wertschätzung von Bildung und Erziehung. Diese Kombination bilde das kulturelle Erfolgsgeheimnis der erfolgreichen Länder.
Ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Element des kulturellen Kapitals sei aber das Vertrauen. Es gebe, wie empirische Vergleiche verschiedener Länder zeigen, eine enge Korrelation zwischen dem Ausmaß von Vertrauen und der ökonomischen Effizienz.
Das Maß des Vertrauens ist ein Maß der Zivilisiertheit und Leistungsfähigkeit.
Im Jahr 2000 beantworteten 67 Prozent der Dänen und 66 Prozent der Schweden die Frage, ob man den meisten Menschen vertrauen könne, mit ja, aber nur 3 Prozent der Brasilianer.
Kooperationsbereitschaft und Vertrauen erleichterten den gesellschaftlichen Umgang. Kulturelles Kapital werde durch Tradierung übertragen. Eine Kultur sei zwar niemals homogen. Nicht alle Menschen, die einem Volk angehören, teilten sämtliche kulturellen Merkmale. Umgekehrt sei es immer in einem gewissen Umfang möglich, fremde Menschen zu assimilieren, d. h. mit dem kulturellen Kapital ihrer neuen Gesellschaft auszustatten, was auch als Integration verstanden werden könne. Allerdings gebe es hierfür Grenzen. Je größer die Zahl von Immigranten und je rascher sie immigrieren, desto geringer sei die Chance der Assimilation. Es besteht dann die Gefahr, dass die durch Immigration entstehende multikulturelle Gesellschaft kulturelles Kapital vernichtet, mit dem Effekt, dass sich die ethnisch und kulturell recht homogenen Industrieländer in multitribale Gesellschaften transformieren.
In solchen Gesellschaften würden mit hoher Wahrscheinlichkeit wichtige institutionelle und mental-kulturelle Voraussetzungen einer funktionierenden Industriestruktur zerstört. Die Basis, die alles zusammenhalte, das gegenseitige Vertrauen verschwände. An die Stelle des Rechtsstaats mit seinem Gewaltmonopol trete dann wieder das Fehderecht. Wenn Konflikte auftreten, versuche man zunächst, diese innerhalb des eigenen Stammes-Rahmens zu lösen, eventuell durch Mobilisierung durchsetzungsstarker Verbündeter. Wenn dieser Prozess einmal in Gang gekommen sei (und erste Ansätze dazu ließen sich in zahlreichen europäischen Großstädten beobachten), könne er sich leicht selbst verstärken und eine Eigendynamik entwickeln. Dann könnten sich immer mehr tribale Gruppen bilden, mit eigenem Steuersystem (Schutzgeld) und eigener Entscheidungskompetenz.
Diese Gruppen träten zunächst in Konkurrenz zu dem überkommenen Rechtsstaat und seinen Polizeikräften. Am Ende werde dem Staat aber nichts übrigbleiben, als sich selbst nur noch als Stamm unter Stämmen zu verhalten. Für diejenigen Bürger, die keinem spezifischen Stamm mehr angehören, sondern auf den Rechtsstaat gesetzt hatten, werde dies fatal.
Wenn eine solche Bewegung in Gang kommen sollte, so hätten wir einen evolutionären Prozess der Selbstzerstörung einer Industriegesellschaft vor uns: Eine bestimmte kulturelle Konstellation habe historisch erfolgreich die Industrialisierung und Moderne erzeugt, habe dabei aber normative Merkmale des humanitären Universalismus entwickelt, so dass es nicht mehr möglich sei, den Zuzug von Angehörigen fremder Kulturen zu regeln bzw. zu unterbinden.
Eine solche Gesellschaft, die nicht mehr zur Unterscheidung zwischen sich selbst und sie auflösenden Kräften fähig ist, lebe moralisch über ihre Verhältnisse. Sie sei in normativem Sinne nicht nachhaltig. Durch Relativierung zerstöre sie schließlich ihre kulturelle Identität, die Voraussetzung ihrer Leistungsfähigkeit. Damit setze sie sich selbst ein Ende.
Die europäischen Gesellschaften seien von dem Grundgedanken des Egalitarismus (der wie ein Fetisch angebetet wird und der von der tief internalisierten Christenmoral herrühren dürfte, jf) regelrecht besessen. Diese Ideologie produziere die Utopie der totalen materiellen Gleichheit. Ungleichheiten würden dagegen als unnatürlich empfunden. Aus dieser Perspektive eines universalistisch-egalitären Programms sei jede reale Ungleichheit schlechthin unerträglich. Die Konfrontation mit Leid, Armut, Unterdrückung, Elend und enttäuschten Hoffnungen löse daher Hilfsreflexe aus, von denen der einfachste (und gesinnungsethischste) laute: refugees welcome, also Aufnahme von jedem und allen in Europa, mit Zugang zum gesamten Leistungspaket des Sozialstaats. Dieser Reflex durchdringe große Teile der Gesellschaft in den Wohlstandszonen.
Die Realpolitiker und Verwaltungen, die dann mit dem konkreten Vollzug der Hilfe zu tun haben, stünden dann ebenso vor einem Problem wie die Teile der Bevölkerung, die in der Massenimmigration die Gefahr einer Unterminierung der vertrauten sozialen und politischen Ordnung erblicken. Medial würden sie angegriffen und mit dem radikalen Gegenbegriff zum Egalitarismus, dem Rassismus, bedacht, der seit dem Nationalsozialismus natürlich extrem negativ konnotiert und völlig unzutreffend sei, da hier ja ethnisch-kulturelle und keine rassischen Differenzen angesprochen würden. Viele Zeitgenossen duckten sich daher lieber weg, hielten den Mund und hofften, dass der Kelch irgendwie an ihnen vorüberginge.
Ist es wirklich möglich, fragt Sieferle, dass eine Gesellschaft sich durch solche Prozesse der ideologischen Verwirrung selbst zerstört? Ja, meint er. Denn Kulturen und Ideologien seien enorm machtvolle Kräfte.
Menschen sprengten sich für Allah in die Luft. Warum sollten sie nicht eine Sozialordnung zerstören, die sie ebenso wenig verstehen, wie sie diese lieben?
Der Sozialstaat werde von den meisten Menschen als selbstverständlich angesehen, ebenso wie der Rechtsstaat (historische und staatstheoretische Analphabeten, jf). Dass beide dies nicht sind, sondern auf sehr fragilen und unwahrscheinlichen Grundlagen beruhen, werde man erst begreifen, wenn sie verschwunden seien, d. h. wenn eine neue multitribale Struktur sie verdrängt habe. Vielleicht sei der Untergang Europas dann ein Lehrstück für andere industrialisierte Zivilisationen (wie China), und vielleicht würden die letzten Europäer in Übersee Zuflucht suchen.
Abschließend betrachtet Sieferle diesen Vorgang aus kühler universalgeschichtlicher Perspektive. Vor mehr als 60.000 Jahren (0:00 Uhr) hätten die Menschen Afrika verlassen und sich allmählich über die ganze Erde ausgebreitet. Es bildeten sich zahlreiche separate Völker mit eigenen Kulturen, die zum Teil über sehr lange Zeiträume hinweg keinerlei Kontakt miteinander gehabt hätten. Dieser Trend habe vor etwa 5.000 Jahren (nach 22 Uhr) eine erste Umkehr erfahren, als die agrarischen Zivilisationen begannen, größere Reiche zu bilden und Fernhandel zu treiben.
Vor 500 Jahren (23:48 Uhr) sei dies durch die europäischen Seefahrer noch einmal drastisch beschleunigt worden und seit etwa 200 Jahren (23:55 Uhr) stünden im Prinzip alle Menschen miteinander in Kontakt. Der Prozess der Globalisierung, der seit wenigen Jahrzehnten in Gang sei (23:59 Uhr), habe die Mobilität von Informationen, Gütern und auch Menschen noch einmal enorm ausgeweitet.
Dieser Prozess der Universalisierung und Globalisierung sei wohl unvermeidlich, und die Völker, die die Geschichte der letzten Jahrtausende geprägt haben, würden letztlich von ihm verschlungen werden.
Viele Deutsche möchten heute gerne als Volk verschwinden, sich in Europa oder in die Menschheit auflösen. Harmonisch werde dies alles nicht abgehen, zumal einzelne Kulturen versuchen würden, bei dieser Gelegenheit ihre tradierten Muster universell durchzusetzen, sei es in Gestalt der westlichen Menschenrechte, sei es in Gestalt des islamischen Dschihad oder was auch immer. Die Immigrationskrise, in der wir uns aktuell befänden, sei daher vielleicht nur der Vorbote umfassenderer Konvulsionen, in denen alles untergehen werde, was uns heute noch selbstverständlich scheine.
Hier kann Sieferles Essay im Original nachgelesen werden:
„Deutschland, Schlaraffenland – Auf dem Weg in die multitribale Gesellschaft“
Dieser Artikel erschien auch auf dem Blog des Autors:
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Zum Autor:
Jürgen Fritz studierte Philosophie, Erziehungswissenschaft, Mathematik, Physik und Geschichte (Lehramt).
Für seine philosophische Abschlussarbeit wurde er mit dem Michael-Raubal-Preis für hervorragende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet. Inzwischen ist er als freier Autor tätig.
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Foto: Das Schlaraffenland von Pieter Brueghel dem Älteren
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