Freitag, 26. April 2024

Tag der deutschen Einheit in einem gesellschaftlich gespaltenen Land

Ein Gastbeitrag von Herwig Schafberg

Heute haben wir den Tag der deutschen Einheit, die am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt der DDR-Länder zur Bundesrepublik Deutschland vollendet wurde. Ich war dabei, als Bundespräsident von Weizsäcker in Berlin die Einheit verkündete und die begeisterte Menschenmenge vor allem Bundeskanzler Kohl zujubelte.

Er galt als „Kanzler der Einheit“. Deren Vollendung gehört tatsächlich zu den großen Leistungen Helmut Kohls und Hans-Dietrich Geschers, der als Bundesaußenminister daran beteiligt war. Die beiden hatten ebenso wie der frühere Bundeskanzler Willy Brandt schnell erkannt, daß sich nach der Öffnung der Berliner Mauer sowie der innerdeutschen Grenzen am 9. November 1989 die Frage der Einheit – in welcher Form auch immer – stellte.

„Es wächst zusammen, was zusammengehört“, sagte Brandt nach der Maueröffnung zukunftsweisend, aber verhalten formulierend und wurde seinerzeit von den meisten Deutschen auch so verstanden.

Er sagte das auf einer Kundgebung am 10. November 1989, auf der Kohl ebenfalls sprach. Dessen Rede wurde nicht nur von Beifall begleitet, sondern auch von Pfiffen politischer Gegner aus dem rot-grünen Lager, die nicht einmal in solch einem Moment grenzen- und parteiübergreifender Freude auf Protest verzichten mochten.

Besser als die Protestierer gab Walter Momper – als Regierender Bürgermeister von Berlin Chef eines rot-grünen Senats – die Gefühle der meisten Menschen in beiden Teilen Deutschlands wieder, als er sagte: „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt!“ Er nannte das deutsche Volk beim Namen und bezeichnete es nicht – wie die heutige Kanzlerin –  vernebelnd als „Menschen, die schon länger in diesem Land leben“.

Merkel stammt aus der DDR, deren einstiger Staatschef Walter Ulbricht auf die Frage nach der deutschen Einheit geantwortet hatte, „zwischen Krupp und Krause“ gäbe es keine nationale Gemeinsamkeit.

Es war zwar schon lange her, daß die Deutschen im Westen des Landes sowie Berlins ihre Verbundenheit mit ihren „Brüdern und Schwestern jenseits von Mauer und Stacheldraht“ dadurch zu zeigen pflegten, daß sie zu Weihnachten Kerzen ins Fenster stellten; aber daß es 40 Jahre nach der Teilung Deutschlands immer noch ein grenzübergreifendes „Wir“-Gefühl zwischen den Kohls im Westen und den Krauses im Osten gab, war weit und breit zu spüren, als in den Tagen nach der Öffnung der Mauer sowie der anderen Grenzen Millionen Ostdeutsche in den Westen strömten und dort nicht als Fremde, schon gar nicht als Ausländer, sondern mit grenzenloser Freude als Landsleute willkommen waren.

Es waren nicht nur Ältere, die sich freuten, daß endlich wieder zusammenwachsen könnte, was zusammengehört, sondern auch Jüngere wie ein langhaariger, nicht etwa glatzköpfiger junger Mann, der mir an der Mauer in Berlin auffiel, als er jeden aus dem Osten kommenden Trabi – wie in den Tagen nach der Maueröffnung üblich – auf`s Dach trommelnd begrüßte und plötzlich voller Euphorie „Deutschland“ rief.

Wenn solche Begeisterung Ausdruck einer nationalistischen Stimmung war, wie mancher aus dem rot-grünen Lager argwöhnte, dann war es ein „Nationalismus“, der sich von seiner schönsten Seite zeigte.

Er hätte noch nie so viele Männer weinen gesehen, sagte der damalige US-Botschafter mit Blick auf all jene, die ihre Freudentränen nicht zurückhielten, als sie nach Jahrzehnten der Trennung endlich die Grenzen zum Westen passieren durften. Und Willy Brandt, der als Regierender Bürgermeister von Berlin (West) den Mauerbau erlebt sowie erlitten hatte, war auf die Nachricht von der Maueröffnung ebenso zu Tränen gerührt wie Richard von Weizsäcker, als der im Laufe der nächsten Tagen von DDR-Bürgern auf dem Kurfürstendamm in Berlin spontan als „Präsident aller Deutschen“ begrüßt wurde.

Im Dezember 1989 grüßte Kohl auf einer Massenkundgebung in Dresden die Einheimischen herzlich „von allen Ihren Landsleuten in der Bundesrepublik“ und erntete dafür brausenden Beifall der Menschenmenge, die ihm immer wieder erwartungsvoll zurief: „Deutschland einig Vaterland!“ In dieser Situation soll der Kanzler den festen Eindruck gewonnen haben, daß die Zeit gekommen wäre, um eine konkrete Antwort auf die Frage der Einheit zu geben, und stellte wenige Tage später sein Konzept für eine Konföderation der beiden deutschen Staaten vor.

Dieses Konzept war jedoch spätestens überholt, als die neue Volkskammer der DDR sich 1990 für den Beitritt ihres Staates zur Bundesrepublik entschied und dann in den „Zwei-plus-Vier- Verhandlungen“ der Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands frei gemacht wurde.

An den „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ waren die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte des 2. Weltkriegs – UdSSR, USA, Großbritannien sowie Frankreich – beteiligt. Daß diese ebenso wie andere Staaten in Europa nach all ihren Kriegserfahrungen mit den Deutschen den staatlichen Einheitsprozeß mehr oder weniger wohlwollend hinnahmen, bewegte Helmut Kohl so tief, daß er auf einer Tagung der EU-Regierungschefs zu schluchzen anfing, als die Rede darauf kam. Zur Zerstreuung etwaiger Sorgen vor einer deutschen Übermacht in Europa stimmte Kohl einer Währungsunion in der Europäischen Union zu, die allerdings in seiner Zeit als Kanzler noch nicht realisiert wurde.

In seiner Regierungszeit mußte er sich erst einmal auf die Einführung der D-Mark im Juli 1990 in der damals noch existierenden DDR einlassen. Die allermeisten DDR-Bürger begrüßten diese Währungsumstellung fast so euphorisch wie zuvor die Öffnung der Grenzen und ahnten nicht, daß diese zum Ruin ihrer großenteils kaum konkurrenzfähigen Wirtschaft beitragen würde.

Was kam, war nicht die Verwandlung in „blühende Landschaften“, die Kohl in Aussicht gestellt hatte, sondern die Treuhand-Anstalt und mit ihr die massenhafte Abwicklung von Wirtschaftsbetrieben.

Die Treuhand-Anstalt war allerdings keine westdeutsche Erfindung, wie viele vermuten, sondern eine Einrichtung der letzten DDR-Volkskammer, die mit Hilfe dieser Kontrollinstanz verhindern wollte, daß Bonzen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ die Wende von der Plan- zur Marktwirtschaft nutzen und sich  „volkseigene“ Industriebetriebe, die zur Privatisierung anstanden, aneignen. Stattdessen waren es vorwiegend Unternehmer aus dem Westen, an die in der Wendezeit solche Betriebe von der Treuhand-Anstalt zu günstigen Konditionen verkauft wurden.

Die Veränderungen der Besitz- und Produktionsverhältnisse hatte in zahlreichen Betrieben eine kostensparende Reduzierung der Belegschaft zur Folge. Und zu den Industriebetrieben, die ohnehin schon geschlossen waren, kamen weitere hinzu, weil die neuen Eigentümer es von vorn herein darauf abgesehen hatten, mit dem Erwerb Konkurrenz aus dem Weg zu schaffen und von ihren Firmen im Westen aus die Märkte im Osten zu beherrschen.

Durch die „Marktbereinigungen“ wurden  Millionen Menschen in der ehemaligen DDR arbeitslos. Viele von ihnen blieben es auf Dauer, viele andere ließen sich notgedrungen umschulen, weil die erworbenen Qualifikationen den neuen Anforderungen nicht gerecht wurden, fühlten sich teilweise um ihre bisherigen Arbeitsleistungen betrogen und durch die Entwertung ihres beruflichen Werdegangs gedemütigt.

Zweifelten viele Menschen im Westen erst während der Bankenkrise 2008 am kapitalistischen System, war es für die meisten Ostdeutschen zu Beginn der neunziger Jahre das Wirken der Treuhand-Anstalt, die ihre Hoffnungen auf die Marktwirtschaft tief enttäuschte und sie nachhaltig verunsicherte.

Zu den westdeutschen Unternehmern, die in großer Zahl auf „Schnäppchenjagd“ in Ostdeutschland unterwegs waren und Betriebe für billiges Geld kauften, gesellten sich in noch größerer Zahl Vertreter, die unerfahrenen Ostdeutschen überteuerte Gebrauchtwagen, überflüssige Versicherungen, unseriöse Geldanlagen sowie andere unnütze Dinge verkauften. Als viele dieser Käufer merkten, daß man sie über den Tisch gezogen hatte, waren sie um eine weitere kränkende Erfahrung reicher und um viel Geld ärmer, teilweise sogar hoch verschuldet.

Hatten DDR-Bürger gehofft, mit der D-Mark bald zum gleichen Wohlstand wie  Westdeutsche kommen zu können, ohne auf ihre „sozialistischen  Errungenschaften“ in der Daseinsvorsorge verzichten zu müssen, erwies sich auch das als Illusion, weil die sozialen Netze ebenfalls abgewickelt wurden. Die Umstrukturierung der Gesundheits-, Sozial- und Bildungsinfrastruktur stellte die Bürger in den Beitrittsländern vor weitere schwere Herausforderungen.

Dabei ging es insbesondere um die Beachtung von neuen Gesetze und Vorschriften aus der Bundesrepublik. Es war ja nicht mit der Einführung neuer Ausweise, Postleitzahlen und Kfz-Kennzeichen getan. Aufwendiger und folgenreicher war die Anpassung an veränderte Bedingungen in der gesundheitlichen sowie sozialen Vor- und Fürsorge und neue Anforderungen in den Bildungsgängen einschließlich Anerkennung von Schul-, Berufs- und Hochschulabschlüssen.

Zu den Herausforderungen gehörte ferner der Umgang mit all denen, die zuhauf aus dem Westen kamen und leitende Positionen in Behörden, Schulen sowie Hochschulschulen, Justiz- und anderen Anstalten übernahmen. Sie führten sich tendenziell auf wie Kolonialherren, die den „Eingeborenen“ beibringen wollten, was diese zu tun oder zu lassen hätten, und kassierten dazu passend eine „Buschzulage“, wie die Bonuszahlungen für ihren Entwicklungsdienst im Osten genannt wurde. Während sie die Karriereleiter hinaufstiegen, kamen altgediente Kollegen aus der DDR beruflich nicht weiter voran und hatten den kränkenden Eindruck, daß an ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer politischen Einstellung gezweifelt wurde.

Daß viele Ostdeutsche sich durch „Besserwessis“ bevormundet und benachteiligt fühlten, viele Westdeutsche dagegen kaum verstanden, was die „Jammerossis“ vermißten, bewirkte Ressentiments, die bis heute nicht völlig beseitigt sind.

Es waren nicht alle Ostdeutschen, denen die Wende schwer zusetzte; viele wurden gut damit fertig. Auf der einen Seite gab es viele Ältere, die an den Rand gedrängt wurden und denen teilweise nichts anderes übrig blieb als dauerhafte Arbeitslosigkeit, auf der anderen Seite eine Menge junger Leute, die ihr Glück im Westen suchten, weil sie dort bessere berufliche Chancen hatten. Mit 1,4 Millionen Ostdeutschen, die bis 1993 in den Westen übersiedelten, war es die größte Migrationsbewegung, die es seit dem 2. Weltkrieg in Europa gegeben hatte.

Während die einen zur Arbeit nach Stuttgart gingen, wenn sie keine in Stralsund fanden, zogen andere von Böblingen nach Berlin und verdrängten dort teilweise Einheimische. Daß nun Schwaben die Lebensverhältnisse im Prenzlauer Berg veränderten, war nicht nur für den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ein Grund zur Sorge, sondern auch für andere. Hatten schon frühere Hauseigentümer mit Restitutionsansprüchen Bewohner der dafür in Frage kommenden Häuser in Stadt und Land verunsichert, gewannen immer mehr alte Mieter in der Berliner Innenstadt den Eindruck, daß sie die nach der Wende steigenden Mieten nicht mehr lange bezahlen könnten und neuen zahlungskräftigen Mietern Platz machen müßten.

Es waren nicht bloß deutsche Landsleute aus dem Westen, die den Osten der Hauptstadt und des Landes heim suchten, sondern auch Türken sowie andere Einwanderer aus der Fremde. Und dann mußten ab 2015 auch noch in großen Massen Flüchtlinge aufgenommen werden: Teilweise mehrere Hundert oder Tausend in  kleinen Städten, aus denen junge Deutsche wegen der dortigen Perspektivlosigkeit abgewandert waren. Hatte schon der Beitritt zur Bundesrepublik die Lebensverhältnisse nicht so verändert, wie viele Ostdeutsche es sich erhofft hatten, wuchs unter den Einheimischen die von „Besserwessis“ nicht verstandene Sorge, daß nach den westdeutschen „Kolonialherren“ und „Goldsuchern“  nun mit den Flüchtlingen weitere Beutejäger und Streuner ins Land kämen, mit denen eine noch schwerer erträgliche „Überfremdung“ ihrer Begegnungszonen drohte und am Ende nicht einmal die Nischen unversehrt bleiben würden, in denen sie sich zu DDR-Zeiten den gesellschaftlichen Kräften entzogen hatten.

Hatten DDR-Bürger von monoethnischer Einheit der Deutschen durch den Beitritt zur Bundesrepublik geträumt, veränderte diese sich zum Kummer vieler Ost-, aber auch Westdeutscher in wachsendem Maße zu einer „bunten“ Republik mit multiethnischer Vielfalt.

Zu den größten Versäumnissen Helmut Kohls gehört, daß er die demografische Entwicklung falsch einschätzte: Den Geburtenrückgang in den Reihen der Einheimischen sowie den Bevölkerungszuwachs in den Milieus der Einwanderer. Statt Migration zu steuern und zugleich auf einen Ausgleich der Geburtendefizite hinzuwirken, wollte Kohl die Zahl der Türken in Deutschland auf die Hälfte reduzieren, hatte damit aber ebenso wenig Erfolg wie sein Vorgänger Helmut Schmidt, der geschnauzt hatte: „Es kommt mir kein Türke mehr über die Grenze!“

Hatte Kohl noch an der Fiktion festgehalten, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland wäre, wurde nach seinem Rücktritt 1998 mit dem noch längst nicht abgeschlossenen Versuch begonnen, die deutsche in eine multiethnische beziehungsweise multikulturelle Gesellschaft umzuwandeln. Dieses Experiment mit seinen Maßnahmen zur Integration von Ausländern lag den Grünen, mit denen Helmut Kohls Nachfolger Gerhard Schröder eine Koalition einging, mehr am Herzen als das zusammen wachsen zu lassen, was in den Augen Willy Brandts und der meisten Deutschen zusammengehörte.

„Integriert doch erst mal uns“, mahnte ein von der Wende enttäuschter „Ossi“ die sächsische Integrationsministerin Köpping, die diese Mahnung  zum Titel ihres Buches machte. 1)

„30 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben bereits einen Migrationshintergrund und dabei habe ich die Ossis jetzt noch nicht mitgerechnet,“ äußerte die Grünen-Politikerin Kathrin-Göring-Eckardt und sorgte damit für Aufregung in den sozialen Medien des Internet. Ob sie jetzt etwa mit türkischen sowie arabischen Einwanderern verglichen und nicht einmal mitgerechnet würden, fragten manche Ostdeutsche verbittert und fühlten sich durch diese Äußerung einmal mehr als deutsche Mitbürger mißachtet.

Kathrin-Göring-Eckardt ist ostdeutscher Herkunft wie das Bündnis 90, das sich im vereinten Deutschland mit den Grünen zusammengeschlossen hatte. Es hatte zuvor für die Eigenstaatlichkeit der DDR geworben und war sich darin mit den Grünen der Bundesrepublik einig gewesen. Daß die Grünen ebenso wenig von der Einheit hielten, hatten sie im Bundestagswahlkampf 1990 deutlich mit dem Slogan dokumentiert: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter!“  Und manche standen hinter einem Plakat mit der Aufschrift: „Nie wieder Deutschland!“

Zu denen gehörte anscheinend auch Claudia Roth, die es mittlerweile als stellvertretende Bundestagspräsidentin zu einer hohen Repräsentantin jenes Deutschlands gebracht hat, das sie „nie wieder“ haben wollte. Und es ist noch nicht lange her, daß die hohe Frau zusammen mit anderen Grünen, Sozialdemokraten und Linken an einer Kundgebung teilnahm, auf der einige plakatierten: „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“.

Die Grüne Roth und ihre rot-grünen Mitläufer wollen diese zur Schau getragene Deutschlandfeindlichkeit nicht bemerkt haben, werfen Teilnehmern anderer Demonstrationen aber Sympathisierung mit Nazis vor, falls unter den Demonstranten jemand den Hitlergruß zeigt.

Wenn in Chemnitz kürzlich ein Restaurant angegriffen und dessen Besitzer als „Judensau“ beschimpft wurde, ist das scharf zu verurteilen. Und wenn dort einige Demonstranten hinter zwei Männern herliefen und irgendjemand „Kanacken“ rief, war das vermutlich nicht nett gemeint. Es wäre allerdings erst einmal zu prüfen, wie es dazu gekommen war, bevor man den unzulänglich dokumentierten Vorgang beurteilt, mahnte Hans-Georg Maaßen, der inzwischen abgesetzte Chef des Verfassungsschutzes, zur Entrüstung vieler Politiker und Medien.

Anders als nach der Silvesternacht 2015 in Köln, in der Streuner aus Nordafrika zu Hunderten Jagd auf Frauen gemacht und Politiker sowie Medien  mehrere Tage gebraucht hatten, ehe sie sich zu den Übergriffen äußerten, mochten die Bundeskanzlerin und andere Politiker nicht eine Prüfung der Auseinandersetzungen zwischen ein paar Männern in Chemnitz abwarten und prangerten vorlaut eine „Hetzjagd“ auf Ausländer an, als ob sie rasch von politischen Versäumnissen ablenken wollten. Solche Versäumnisse hatten nicht zuletzt in Köln und anderswo für Entsetzen gesorgt, sondern jetzt auch in Chemnitz, nachdem dort ein abgelehnter, aber nicht abgeschobener Asylbewerber in Verdacht geraten war, Schuld an der Tötung eines Deutschen zu sein.

Die Trauer um den Toten blieb leider auf der Strecke, als in Chemitz Demonstranten und Gegendemonstranten aufeinander stießen.

Da hatten wir in Chemnitz auf der einen Seite massenhaft Bürger, die nach der Tötung ihres Mitbürgers um ihre Sicherheit durch Asylbewerber bedroht sahen und in ihrer Wut über Auswüchse der Migrationsbewegungen  besorgt waren, daß im vereinten Deutschland vieles zusammenkommt, das nicht in dem Sinne zusammengehört, in dem Willy Brandt, Helmut Kohl sowie Richard von Weizsäcker sich das Zusammenwachsen vorgestellt hatten.  Manche in den Reihen der Besorgten waren vielleicht schon 1989/1990 dabei gewesen, als Bürger der DDR die Einheit mit dem Ruf gefordert hatten: „Wir sind EIN Volk!“

Ihnen gesellten sich nun Vertreter rechts orientierter Parteien zur Verfolgung ihrer politischen Agenda ebenso bei wie ein paar Strolche, denen beim Anblick eines Fremden der Kamm schwillt und leicht die Hand zum Faustschlag oder zum Hitlergruß in die Höhe fährt.

Anstatt auf eine Beruhigung der Lage hinzuwirken, trugen nicht nur auf der einen, sondern auch auf der anderen Seite Vertreter der politischen Verantwortungslosigkeit zur Massenmobilisierung bei.

Auf der anderen Seite ließen sich ebenfalls massenhaft Bürger in Bewegung setzen – nicht etwa zur Anteilnahme am  gewaltsamen Tod des Chemnitzers, sondern zum  Protest gegen „Rechts“–  und wissen sich im Unterschied zu ihren Mitbürgern auf der Gegenseitig einig mit Claudia Roth, Kathrin Göring-Eckart und Angela Merkel, für die zum „Volk jeder“ gehört, „der in diesem Land lebt.,“ wie sie ihren Parteifreunden einreden wollte.

Zu ihnen stießen  Straßenschlachtenbummler aus der „antifaschistischen“ Szene. Die sind immer gerne dabei, wenn es zum Kampf gegen „Faschismus“ im weiten Sinne geht, sofern die Betroffenen nicht Türken mit faschistoider Gesinnung sind, die sich manchmal zu Tausenden im Ruhrgebiet unbehelligt versammeln. „Deutschland verrecke!“ Das ist eine Parole von „Antifaschisten“, von denen aber vermutlich kaum einer Nietzsches Satz gelesen – geschweige denn verstanden hätte: „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“.

In den Augen von „Antifaschisten“  hätte bei fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz „der häßliche Deutsche sein Gesicht“ gezeigt. Ebenso undifferenziert könnte man der Ansicht sein, daß „der häßliche Araber sein Gesicht“ gezeigt hätte, als er in Chemnitz tötete und fast zeitgleich in Frankfurt zuhauf einen Club mit der Drohung angriff: „Allahu akbar, wir töten Euch alle!“ Doch DER Deutsche ist ebenso wenig häßlich wie DER Araber! Es gibt allenfalls Deutsche, Araber und andere Menschen, die je nach Temperament und Sentiment, Tradition und Situation häßlich werden, wenn sie sich in der Masse aufgehetzt zu Ausschreitungen, Übergriffen und Anschlägen hinreißen lassen.

Eine „Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel“, schrieb Canetti. 2) Einen „Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse“ sah er in der „Gefahrlosigkeit des Unternehmens…, denn die Überlegenheit auf seiten der Masse ist enorm. Das Opfer kann ihnen nichts anhaben.“

Umso wichtiger ist es, daß amtlich bestellte Hüter von Recht und Ordnung zur rechten Zeit voll einsatzfähig vor Ort erscheinen und die Kanaille auseinander knüppeln, wenn diese sonst nicht zur Räson zu bringen ist – einerlei, ob es sich in einer Hetzmasse um häßliche Antifaschisten, islamische oder andere Faschisten handelt.

Für manche Menschen in Westdeutschland war der Osten in den neunziger Jahren„Dunkeldeutschland.“  und ist es vielleicht noch immer. Wenn ein pharisäerhafter Wessi ausschließlich solche „häßlichen Deutschen“ im Visier hat, die sich in ostdeutschen Städten – von Rostock-Lichtenhagen 1992 bis Chemnitz 2018 – zur „Hetzjagd“ auf Fremde zusammenrotten, dann halte man ihm einen Spiegel aus dem Jahre 1990 – dem Jahr der deutschen Einheit – vor Augen. Dort könnte er nachlesen, wie es seinerzeit in einigen westdeutschen Städten zuging, die ostdeutsche Übersiedler in Auffanglagern untergebracht hatten.

Waren erst wenige Monate zuvor – nach der Öffnung der Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten sowie der Mauer in Berlin – Ostdeutsche im Westen des Landes und Berlins herzlich willkommen gewesen, fürchteten inzwischen viele Westdeutsche, „daß diejenigen, die nun Woche für Woche zu Tausenden mühelos die Grenzen passieren, das westdeutsche Sozialsystem  sprengen und den Wohnungs- und Arbeitsmarkt zum Kollabieren bringen… Die feindseligen Gefühle sind bei manchen zur offenen Ablehnung geworden, seit Massen von Neuankömmlingen spürbar den Arbeitsmarkt belasten“, heißt es im Spiegel.“ Vor allem bei den Ärmeren im Lande, die sich durch die Konkurrenz aus dem Osten noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen, kocht nun Haß hoch… Immer häufiger reagierten ortsansässige Wohnungssuchende mit ´nackter Wut` auf die DDR-Konkurrenz.“3)

Zu lesen ist dort auch von Steinewerfern, brennenden Übergangsquartieren in Köln sowie Stuttgart und Bürgermeistern, die sich Mauer und Stacheldraht zurück wünschten. Doch zu Solidaritätskundgebungen für die verfolgten Landsleute kam es meines Wissens nicht; die gab es erst später für Türken, Vietnamesen und andere Ausländer.

Quellen:

  1. Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten.
  2. Elias Canetti: Masse und Macht
  3. Spiegel 8/1990: Wieso kommen die noch?

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