Gastbeitrag von Meinrad Müller
Der Brief der Bundeswehr liegt neben dem Nutellaglas wie eine Vorladung zum Drogentest nach einer Party, an die man sich kaum erinnert. Sven Wittlovski, gerade 18 geworden, bekommt einen Schlag auf den Hinterkopf, als wäre ein unsichtbares Schwert aus dem Nichts herabgesaust. Kein echtes natürlich, eher ein amtliches, papiernes, mit einem dieser gnadenlosen Fensterumschläge. An ihn. Schwarz auf weiß. Kein „Herzlichen Glückwunsch zur Volljährigkeit“, sondern die unmissverständliche Ansage: Sven Wittlovski, das Vaterland möchte dich als Spielfigur an der Front. So wie Deinen Großvater und Urgroßvater. Sven fühlt sich wie ein Statist in einer Krankenhaus-Serie, der eigentlich nur kurz ein Pflaster holen wollte und plötzlich am offenen Herzen operieren soll, während die Kameras laufen.
Er starrt den Brief an, als würde er gleich Beine bekommen und ihn direkt zum Appell zerren. Sven hat das Gefühl, die Hauptrolle in einem Film übernommen zu haben, in dem die Kostümabteilung ausschließlich Olivgrün führt und der Regisseur nur Befehle brüllt, die man auch drei Blocks weiter noch versteht. Ein Online-Fragebogen sei Pflicht. Wer das ignoriert oder flunkert, dem droht ein Bußgeld von bis zu 1000 Euro. Mindestens aber fünf Euro. Sven überlegt kurz: Fünf Euro wären ein fairer Preis, um den Vormittag weiter im Bett zu verbringen, quasi eine „Schlummer-Taste“ wie an seinem PC. Aber das „Bundesamt für das Personalmanagement“ entscheidet individuell. Ein Name, der so sehr nach grauen Großraumbüros und lauwarmem Automatenkaffee klingt, dass Sven schon beim Lesen trockene Haut bekommt.
Der Fragebogen will alles wissen. Körpergröße. Gewicht. Eignung. „Bereitschaftserklärung“ nennt die Bundeswehr das. Ein Wort, das so sexy klingt wie eine Einverständniserklärung zur Wurzelbehandlung ohne Narkose. Sven fühlt sich zu nichts bereit, außer dazu, den Brief im WC herunterzuspülen und zu behaupten, die Post hätte ihn beim Nachbarn mit dem bissigen Hund eingeworfen. Doch die Drohung ist real: Wer unentschuldigt bei der Musterung fehlt, wird künftig von der Polizei abgeholt. Sven stellt sich vor, wie er in Boxerschorts und T-Shirt und mit der Müslischüssel in der Hand von zwei Beamten morgens um sechs zum Arzt eskortiert wird. Die Nachbarn würden denken, er wäre der meistgesuchte Internet-Pirat des Viertels. Ein Abgang mit Blaulicht, aber ohne den coolen Soundtrack und die lässigen Sprüche.
Vor Svens Auge wird es düster: Er soll durch den Matsch robben. Freiwillig. Schlamm unter seinen zarten Fingernägeln, während ein Vorgesetzter ihm erklärt, dass damit die Demokratie verteidigt wird. Sven hat normalerweise nur eine enge Beziehung zu seiner orthopädischen Matratze. Warum sollte ein zivilisierter Mensch mit Zentralheizung und Glasfaseranschluss im feuchten Dreck kriechen wie ein Regenwurm auf der Flucht?
Dann die Märsche. 20 Kilo Gepäck auf dem Rücken. Sven bekommt schon Schnappatmung, wenn er zwei Getränkekisten in den ersten Stock tragen muss. Jetzt soll er einen vollgepackten Kleiderschrank durch den Wald schleppen. Stundenlang. Ohne Aufzug. Ohne Sitzbank. Sven fährt für 500 Meter zwei Stationen mit der Straßenbahn, weil er Gehen für eine archaische Fortbewegungsmethode aus der Vorzeit hält. Jetzt ist Laufen plötzlich eine nationale Tugend, und das auch noch vor dem Frühstück.
Der Fragebogen fragt nach der körperlichen Leistungsfähigkeit. Sven lacht kurz, ein trockenes, deprimiertes Geräusch. Sein härtester Sport war bisher das Drehen von Joints. Er kennt Kriegsabenteuer nur vom Bildschirm. Hier gibt es keinen „Ausschalt“-Knopf und keine Pause-Taste. Nur den Link zum Fragebogen, der ganz unten leuchtet wie eine digitale Abo-Falle. Er weiß, ignorieren hilft nicht, denn die Bundeswehr hat verdammt viele Männer in sehr festen Stiefeln und jetzt auch noch die Polizei als persönlichen Chauffeur-Service.
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