Ein Gastbeitrag von Meinrad Müller
Endlich Heiligabend! Doch „Heilig Morgen“ hätte es heißen müssen, denn etwas Heiliges lag in der Luft. Seltenes Bohnenkaffeearoma zog durch das Haus und die letzte Ladung Weihnachtsplätzchen verströmte ihren lieblichen Duft. Es ging irgendwie ruhiger zu im Haus, die Erwachsenen flüsterten nur und gaben sich Mühe, die Geschenke heimlich zu verpacken, damit die Kinder es nicht mitbekommen sollten. Wir taten einfach so, als hätten wir nicht gesehen, dass die Päckchen in der Waschküche hinter der aufgespannten Bettwäsche gestapelt waren.
Der Krippenbau mit Phantasie
Die alte, schwere Holzkiste stand auf dem Speicherboden. In ihr lagen vielleicht dreißig Wurzelteile, aus denen jährlich die Krippe im Wohnzimmer neu zusammengesetzt wurde. Wer wann diese Wurzeln im Wald – nach dem Fällen eines Baumes – auch noch ausgegraben und zusammengesucht hatte, das wusste niemand mehr. Großvater meinte, dass es sein Großvater damals auch schon nicht mehr wusste. Die ungefähr Holzscheit-großen Teile wurden der Kiste entnommen, mit einem Handfeger abgestaubt und auf dem Wohnzimmerboden ausgelegt. So wie ein Puzzle. Es existierte kein Bauplan, niemand konnte genau sagen, welches Wurzelteil zuerst auf den Krippenboden gelegt werden sollte. In einer Ecke des Wohnzimmers, genau über der hölzernen Eckbank, dort wo auch das große Kruzifix hing, wurde das große, dreieckige Brett mit Schrauben angebracht. Und so konnte jedes Jahr darauf eine etwas andere „Felsengrotte“ gebaut werden, je nachdem wie die Wurzelstücke kreativ ineinander verhakt wurden. Wir spielten auch mit den Keramikkrippenfiguren, bei denen schon manches Ohr oder Bein fehlte. Gut das es UHU gab und Legoteile angeklebt werden konnten.
Moos für die Krippe
Weder Ochs, Esel, die Heilige Familie, noch die vielen Schäflein und die Hunde, durften einfach so auf das große Fichtenbrett gestellt werden. Rund einen halben Quadratmeter frisches Moos hatten wir an den Tagen zuvor schon am Waldrand unter den Tannen geholt. Das war schwierig, wenn schon Schnee darauf lag. Der wurde dann vorsichtig abgekratzt, um an das weiche Moos über den Fichtenwurzeln zu kommen.
Wie eine Wiese sah das grüne Moos in der Krippe aus, auf die dann die weißen und bemalten Keramikfigürchen gestellt wurden. Die Beine der Schafe wurden einfach in das Moos gesteckt. Weil der Schäfer mit seinem Stab immer wieder umfiel, wurde er mit einer kleinen Schraube stabilisiert. Die Krippe mit dem Jesukind, Maria, Josef, Ochs und Esel bekamen den Ehrenplatz in der „Höhle“, die sich aus der geschickten Schichtung der Wurzeln ergab. Hinter die Felsen wurden die Tannenzweige gesteckt, die beim Christbaumaufstellen übrig geblieben waren.
Lebendige Krippe
Ja, wir durften mit den Krippenfiguren spielen bis Heilig Drei König, dann wurde alles wieder abgebaut. Doch bis dahin war noch viel Zeit. Wir setzten die Schafe und die Hunde ständig um oder platzierten den Schäfer auf einen Felsen und lehnten den Ochsen über den Gartenzaun. Ein kleiner, weißer Lattenzaun verhinderte, dass die Figürchen auf den Tisch fielen. Niemand hatte etwas dagegen, wenn mit kindlicher Phantasie ein Traktor das Moos mähte. Auch holten wir in der Scheune Heu, schnitten es mit der Schere klein, denn Ochs und Esel sollten es auch gut haben. An den Stab des Schäfers klebten wir ein Lämpchen, die Batterie versteckten wir unter dem Moos.
Eine Lichterkette mit „echten“ kleinen Glühbirnchen legten wir über die „Felsen“ und die passende handtellergroße große Batterie lag versteckt auf dem Fenstersims. War das Wohnzimmer dunkel, wenn weder Deckenlampe noch Christbaumkerzen brannten und nur das Kaminfeuer knisterte, erstrahlte unsere Weihnachtskrippe in geheimnisvollem Licht. Dann strahlten auch wir alle, die Erwachsenen und die Kinder, die Großeltern und eine Tante, die aus ihrer schlesischen Heimat vertrieben und bei uns einquartiert war.
Der heiligste Moment des Jahres
Wir alle, Kinder, Vater, Großeltern und die Tante saßen in der Küche, bis im Flur das Glöckchen klingelte. Vermutlich steckte Mutter dahinter, doch das übersahen wir großzügig. „Das Christkind war da“, riefen alle und rannten ins Wohnzimmer. Nur die Krippe war beleuchtet, wir wurden still und sangen – stehend, die Hände gefaltet – in größter emotionaler Anspannung „Stille Nacht, heilige Nacht“.
Wie oft in unserem Leben schlugen wir nicht schon Wurzeln? Wir waren verwurzelt in unserer Familie, in der Gemeinde und in der Schule. Wir schlugen Wurzeln in unserer Ausbildung, wir fassten Fuß im Beruf, wechselten den Beruf vielleicht mehrfach und investierten stets auch emotional, um erneut Wurzeln zu schlagen.
Um uns sicherer zu fühlen. Und oft war das Wurzelschlagen vergebens. Die Lebensumstände änderten sich und wir begannen wieder bei Null. Doch wir hatten gelernt, wie man Wurzeln schlägt. Das kann und konnte uns niemand nehmen.
In unserer neuen Familie sind unsere Kinder die Wurzeln, die weiterwachsen, wenn wir einmal nicht mehr sind. Das, was wir in die Gesellschaft einbrachten, wirkt vielfach weiter, es schlug Wurzeln. Bauen wir in Gedanken einfach mit den bisherigen Wurzelstücken unseres Lebens eine kleine geistige Weihnachtskrippe.
Unsere Zuversicht, dass aus Einzelteilen unserer Vergangenheit etwas Neues und Schönes entstehen wird, tröstet und stärkt uns.
Es wäre zu schade, wenn unsere historischen Einzelteile einsam und grollend in der (Foto)-Kiste blieben. Sie sind das Baumaterial, aus dem wir unsere bessere Zukunft gestalten. Frohe Weihnachten! Denn Hoffnung ist der Samen des Frohseins.