Freitag, 29. März 2024

Ukrainisches Denken

Die Ukrainer konnten de facto bis 2014 keine Außenperspektive auf ihr Land bekommen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion mussten sie – von einigen Superreichen abgesehen – in ihrem eigenen Saft schmoren. 23 Jahre lang. Ein Gastbeitrag von Kopekenstudent

Kürzlich traf ich einen Mann, der ein T-Shirt mit geografischen Koordinaten (14 28 S, 71 18 W) trug. Ich sprach ihn darauf an und er antwortete auf Englisch, „It’s for Russians“. Die Angaben bezögen sich auf einen Ort, dessen Name auf Russisch „fuck yourself“ bedeute. Er war Ukrainer. Ich fragte ihn, ob er Russen hasse. Selbstverständlich, antwortete er.

Da er einen intelligenten Eindruck machte (später erzählte er, dass er Physik studiert habe), wollte ich herausfinden, wie es zu diesem Hass gekommen sein konnte. Er erzählte, dass er aus Donezk stamme und dort Mitte der 1980er geboren wurde. Es habe dort eine ukrainische Schule gegeben, ansonsten nur russische. Er meinte, dadurch sei ihm seine Kindheit als Ukrainer genommen worden. Ob ich das okay fände. Natürlich finde ich es nicht „okay“, wenn einem Kind die Kindheit genommen wird. Ich fragte, inwieweit denn nun aber Russland dafür verantwortlich sei, da die beiden Führer der Sowjetunion nach Stalin – Chruschtschow und Breschnew – beide Ukrainer gewesen seien und auch einen Großteil ihres Regierungsstabes aus ihren Kiewer Kreisen nach Moskau mitgenommen hätten. Die Ukraine sei also – wenn sie denn wirklich innerhalb der Sowjetunion unterdrückt worden ist – von Ukrainern selbst unterdrückt worden. Ob man das Russland anlasten könne.

„Nicht für die Armee gemacht“

Er entgegnete, dass die Ukraine immer schon von fremden Mächten unterdrückt worden sei. Zum Beispiel von den Mongolen. Ob ich das okay fände, dass die Mongolen die Ukraine unterdrückt hätten. Ich antwortete, diese Ereignisse lägen über 600 Jahre zurück… Er fragte dennoch: findest du es in Ordnung? Ich bat ihn, mir zu erklären, was denn die Ukraine vor der Sowjetunion gewesen sei. Da wäre sie doch ein Teil des zaristischen russischen Reiches gewesen – und keinesfalls unabhängig. Er meinte, nein, so ganz stimme das nicht. Dann fragte ich, weshalb er denn nicht einen ebensolchen Hass auf Polen empfinde, denn auch Polen habe früher Teile der heutigen Ukraine besessen. Er meinte, mit Polen sei das etwas anderes, weil Polen Ehre besäßen. Ich fragte, warum er dann nicht in Selenskys Armee gegen Russland kämpfe, sondern in Deutschland lebe, wenn ihm die Sache doch so wichtig sei. Er entgegnete, er sei nicht für die Armee gemacht.

Es fiel auf, dass er fast ausschließlich mit Details und Einzelbeispielen argumentierte. Ob ich es okay fände, wenn ein Nachbar mir vorschreiben würde, was ich auf meinem Grundstück zu tun habe. Ob ich es okay fände, wenn der Nachbar mir meine Frau rauben würde. Ob ich es okay fände, wenn meine Universität mir sagen würde, zu welchen politischen Demonstrationen ich zu gehen habe.

Ich versuchte, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass man das Bild nicht versteht, wenn man sich in Details verzettelt. Dass man einen Schritt zurück treten müsse, um das ganze Bild erfassen zu können. Er stimmte mir zu. Ich bat ihn, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, wer die treibende Kraft dahinter sei, dass Russland und die Ukraine heute gegeneinander kämpften. Er versprach, er wolle das tun und bedankte sich für diese interessante Anregung.

Anarchie in den 90ern

Dann erzählte er von der Anarchie in den 1990ern. Und davon, dass immer kein Geld für Kinder- und Bildungseinrichtungen dagewesen sei. Ich meinte, die Anarchie sei eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion gewesen. Und maßgeblich zu deren Zusammenbruch beigetragen habe doch die Ukraine, die als einflussreichste und wirtschaftlich stärkste Sowjetrepublik nach dem Augustputsch von 1991 als erste ihre Unabhängigkeit erklärt habe. Und dass kein Geld da gewesen sein, sei ja sicher eine Folge von Korruption und Oligarchisierung in der Ukraine gewesen. Was das denn mit Russland zu tun habe. Er meinte, die Ukrainier seien sich ihrer eigenen Probleme schon bewusst, und wären auch dabei, sie zu lösen.

Ich wies ihn darauf hin, dass die Ukraine nun über 30 Jahre lang unabhängig von der Sowjetunion ist und Russland in all den Jahren nie versucht habe (die Krim-Frage blieb außen vor), Gebiete der Ukraine zu besetzen oder gar zu erobern. Wie er denn sagen könne, Russland sei eine ständige Bedrohung für die Ukraine gewesen. Er meinte, Russland habe zwar 30 Jahre lang nichts erobert, aber sich in der ganzen Zeit auf eine Eroberung vorbereitet.

In diesem Stil ging es hin und her, und ich fand keine Antwort auf meine Frage, wo denn dieses Denken, das aus tiefster Überzeugung zu stammen schien, herrührte. Dass ein Narrativ immer zunächst durch anhaltende politisch-mediale „Begleitung“ eingepflanzt wird – und dies auch in der Ukraine so geschehen sein muss – war klar. Nur: wodurch war es möglich geworden? Dann sagte er den Satz, der mir diese Frage beantwortete. Erst seit der zweiten Revolution (er meinte den Umsturz von 2014) sei es den Ukrainern möglich, das Land etwas einfacher zu verlassen. Bis dahin wäre es immer extrem kompliziert gewesen, ein Visum zu bekommen. Erst seit 2014 hätten also auch sie als Ukrainer ein bisschen Freiheit.

Laborkaninchen

Das war mir bis dahin nicht bewusst gewesen: die Ukrainer konnten de facto bis 2014 keine Außenperspektive auf ihr Land bekommen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion mussten sie – von einigen Superreichen abgesehen – in ihrem eigenen Saft schmoren. 23 Jahre lang. Das ist fast so lange, wie die Berliner Mauer stand. Wenn nun in diesen 23 Jahren, in denen das Volk im Prinzip eingesperrt war, auch die Medien vollständig kontrolliert wurden und auch Informationen von außen nur gesteuert ins Land kamen, dann hatte man eine perfekte Laborsituation, in der man ein ganzes Volk wie Versuchskaninchen in einem Käfig konditionieren konnte. Geld kam aus dem Westen. Das war die Hand, die fütterte. Auch die Deutschen mit ihren vielen Hilfsgüter-Transporten werden den Blick der Ukrainer nach Westen gezogen haben. Wer aber „füttert“, der wird der Herr, auf dessen Handeln, auf dessen Bewegungen und Anweisungen wird das Versuchskaninchen fokussiert sein und reagieren.

Intelligenz ist dabei sekundär. Das sah man während Corona. Sie vermag nur schwer Rückschlüsse zu ziehen auf etwas, das außerhalb der Wahrnehmung geschieht. Wenigstens braucht sie Muße dazu. Wenn aber das Volk aufgrund von Korruption und Anarchie permanent unter Existenzdruck steht, hat es gerade diese Muße am wenigsten. Es wird ein langer Weg für das ukrainische Volk, aus dieser Sackgasse wieder heraus zu kommen.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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