Donnerstag, 21. November 2024

Der schutzlose Mensch – über die Engel erhoben?

Ein Buch, broschiert, bescheiden. Darauf eine stilisierte Zeichnung eines Kindes, völlig schutzlos, im Mutterleib. Gewaltig der Widerspruch beim Titel: „Über die Engel erhoben“ – das läßt aufhorchen. Es ist der Titel eines neuen Buches von Hartmut Sommer, und der Autor verspricht eine philosophisch-theologische Annäherung. Das klingt spannend, zumal gleich in der Einleitung die Mystikerin Mechthild von Magdeburg mit einer provokanten Frage zitiert wird: „Was kümmert’s mich, was die Engel erleben?“

Sommer befasst sich gleich ersten Kapitel er sich mit der naturalistischen Sichtweise auf unser Leben – vereinfacht gesprochen mit dem Menschsein ohne Gott. Die Summe dieses Kapitel zieht er auf nur anderthalb Seiten, die es in sich haben, unter dem Titel: „Die naturalistische Entmenschlichung des Menschen“. Demnach ist die Moral nicht etwas, das uns als Konstrukt übergestülpt wird, sondern eine zwangsläufige Folge davon, daß der Mensch Leib und Geist vereint. Kein Anhänger der naturalistischen Theorie kann bezweifeln, daß unser Denken durchgeistigt ist, denn wir sind uns unserer Selbst bewusst. Allerdings ist im Naturalismus eine gleichsam entkoppelte Begrifflichkeit von „Geist“ und „Verstand“ gemeint, durch den einem „transhumanistischen“ Dualismus der Boden bereitet wird – mit verheerenden Konsequenzen.

Nicht minder spannend geht es im Kapitel zwei weiter. Unter dem Rubrum „Substantielle Eigenwirklichkeit des Seelisch-Geistigen“ wird untermauert, was zuvor mit einem Angriff auf den Naturalismus eingeleitet wurde. Als Rezensent tritt man an solch einer Stelle gerne mal einen Schritt zurück, prüft die logische Verkettung, auch innerhalb des gesamten Buches und fragt sich kritisch, ob die in diesem Werk vertretene Theorie insgesamt auf ein sinnvolles Ende hinsteuert. Und bei „Über die Engel erhoben“ ist dies der Fall. Die Einheit und das Miteinander von Leib und Seele werden sowohl aus philosophischer Sicht als auch vor dem Glaubenshorizont bündig erklärt.

Im dritten Kapitel darf dann, völlig folgerichtig, die Theodizee-Frage nicht fehlen. Denn wenn die Einheit von Leib und Seele gut ist – warum gibt es dann Not, Krieg und Krankheit auf der Welt? Sommer stützt sich auf die irenäische Theodizee und diskutiert dieses Frage ausführlich, er kommt auf den Beistand Gottes zu sprechen und fragt dann nach dem Sinn des Todes. Dem Anspruch einer „philosophisch-theologische Annäherung“ wird dies Buch mit einem sehr überzeugenden Lösungsentwurf für das Leid-Paradoxon vollauf gerecht.

Stück für Stück nähert sich Sommer sodann dem im Titel angerissenen Thema – die gedankliche Synthese zwischen Philosophie und Theologie trägt dabei inhaltlich, ein Rückgriff auf die Mystik gelingt Sommer mühelos. Denn ist nicht Gott selbst Mensch geworden durch den Leib Mariens? Nicht aus sich selbst, sondern erst durch Christus ist der Mensch über die Engel erhoben. Sehr anrührend nennt Sommer diesen Aspekt „die Zärtlichkeit Jesu als leibliches Herabneigen Gottes“ – Anklänge an das „fließende Licht der Gottheit“ der Mechthild von Magdeburg sind unverkennbar.

Nun ist der Boden bereitet für zwei abschließende Kapitel. Zunächst fragte Sommer nach der Leiblichkeit und der seelischen Existenz des Menschen, und nun antwortet er. Als „Seelenleib“ und als „Verklärungsleib der Auferstehung“ begegnet uns, was Jesus vorlebte – die Vollendung. Ganz am Schluss hat aber noch einmal die andere Seite das Wort. In spielerischer Anlehnung an den klassischen Text Jean Pauls hält der Engel, also eigentlich die Alliteration eines Engels, eine „Rede an den Menschen vom Weltgebäude herab“ – ein literarischer Kunstgriff des Autors, der die Bewunderung des himmlischen Wesens für die „Ephemeren“, die „mitten in Gottes Schöpfung gestellten“ Menschen illustriert. Zugleich aber mahnt Sommers Engel den Menschen, das sinnliche Geschöpf, die Verantwortung nicht zu vergessen, die ihm aus seiner leib-seelischen Doppelexistenz Gott gegenüber erwächst.

Ja, Engel werden für gewöhnlich als Boten Gottes verstanden, und aufgrund ihres unmittelbaren Kontaktes zu Gottes Herrlichkeit werden sie von uns Menschen als „höherstehend“ gesehen. Aber der Autor dreht den Spieß um: Es geht bei Gott nicht darum, wer höher zu ihm erhoben ist, sondern wer zu ihm findet. Das leibliche Dasein mit all seinen beglückenden, aber immer auch leidvollen Dimensionen ist das unabdingbare Mittel dazu.

Dieses handliche, broschierte Buch, farblich zurückhaltend, graphisch sehr sparsam gestaltet, hat es gleichwohl in sich, nur 160 Seiten genügen. Es ist geeignet, um als Lektüre an inspirierende Orte mitzureisen. Das lohnt, denn sie ist geglückt, die im Titel angekündigte Annäherung, und zwar sowohl philosophisch wie theologisch. Engel gehören zwar zur Sphäre Gottes, soweit wir das wissen, aber es geht nicht darum, wer höher erhoben ist. Sondern, zu wem sich Gott herabneigt. Damit wird in diesem Buch eine Thematik angerissen, zu der ganz aktuell eine heftige, fundamentale und gefährliche Debatte entbrannt ist. Dieses Buch erweitert unseren Horizont, lenkt unsere Schritte aus einer drohenden Wüste des Nichts hin zu Gott. Es ist ihm und den hier entwickelten Gedanken eine weite Verbreitung zu wünschen.

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Über den Autor: Hartmut Sommer ist promovierter Erziehungswissenschaftler. Neben philosophisch-theologischen und didaktischen Veröffentlichungen gehören Übersetzungen aus dem Niederländischen und Französischen zu seinem Œuvre. Als Essayist hat er sich insbesondere mit anthropologischen Fragen befaßt, hier und andernorts hat er sich kritisch mit dem naturalistisch-atheistischen Menschenbild auseinandergesetzt. In der Reihe Bedenken und Besinnen bei Lepanto erschien bereits seine Übersetzung von Louis Lavelles Traktat „Das Übel und das Leid“.

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Hartmut Sommer: Über die Engel erhoben – Wesen und Sinn unserer Leiblichkeit. Eine philosophisch-theologische Annäherung (Reihe „Bedenken und Besinnen“) 160 S., 140 x 205 mm, Klappenbroschur, 18,00 € (D) ISBN 978-3-942605-29-8, erschienen am 22. Dezember 2022. Hier bestellen.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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