Sonntag, 22. Dezember 2024

Erfahrungsbericht einer Fachärztin: Ali und das Alter

Ist es nicht das größte Verbrechen, wenn Menschen über andere Menschen entscheiden und Biographien, Leben ändern, vor allem dann, wenn nicht viel aus dem vorherigen Leben da ist außer wenigen Zahlen? Ist Geld wichtiger als die Wahrheit in Deutschland 2019? Warum soll eine Altersfeststellung nicht durchgeführt werden, wenn das in erster Linie dem Schutz der Betroffenen und ihrer Biographien, ihrer Identität dient? Ein Gastbeitrag von Dr. Ileana Vogel

Vorbemerkung (Red.): Dr. Ileana Vogel (Foto l.), gebürtige Rumänin und praktizierende Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie in Deutschland ist Teil der „Initiative an der Basis mit Flüchtlingen und Migranten“, über die wir bereits mehrfach hier berichten konnten: Engagierte, die haupt- oder ehrenamtlich mit Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten teilweise selber einen Migrationshintergrund haben. So auch Dr. Vogel, die an der Entstehung des manifestartigen, fast 50 Seiten langen “work-in-progress”- Forderungskatalog mitarbeitete. Von ihr stammt der folgende, spannende und wachrüttelnde Text, den wir mit Erlaubnis der Initiative hier veröffentlichen:

Die Geschichte eines jungen Teenies im “Medien-Alter” liest sich einfach und unkompliziert, keine großen Erfahrungen, nur Geburtstag, Geburtsort, Grundschule, Eltern, Geschwister, eine ganz normale Datensammlung, in Stein gemeißelt bzw. in der Cloud gespeichert.

Nicht bei Ali.

Ali kommt aus Syrien. Ali ist vor dem Krieg geflohen, vor der menschlichen Bosheit und Gier. Er hatte keine andere Chance. Das einzige, was er aus seinem alten Leben mitnehmen konnte, ist seine kleine Datensammlung, Erinnerungen, seine Eltern, seine Gesundheit. Das ist nicht viel und üppig, aber es reicht, und das Leben kann ja so wundervoll und leicht sein ohne die Angst und den Tod vor Augen.

Wegen einer gesundheitlichen Kleinigkeit suchte Ali mich 2013 auf. Die medizinische Lösung war einfach, wenn einfach für sowas zutrifft. Alles verlief auf Englisch, die üblichen belanglosen Fragen in die Cloud „gemeißelt“, Krankenkassenkarte sei Dank: Alter, Beschwerden, Unfälle etc. mit ebenso lustig gestalteten Antworten in Denglisch, und wenn die Sprache nicht ausreichte, dann verständigten wir uns mit Armbewegungen. Ali war ein lustiger Teenie mit den gleichen Interessen wie jeder andere 13-Jährige seines Geburtsjahres. Die Mutter war dabei, aber sprachlich musste Ali alles übersetzen, so wie viele Kinder von ausländischen Eltern, die eine zu große Verantwortung für Ihre Eltern früh übernehmen. Der Abschied war auf gebrochenem, versuchtem Deutsch, verbunden mit der Empfehlung Sport zu machen und irgendwann wieder zu kommen.

Zwei Jahre später kam Ali wieder, für mich irgendwie überraschend. Wenige Teenies in dem Alter erinnern sich an die Empfehlungen eines biederen,  fremden deutschen Arztes. Wieder die gleichen Fragen: Alter, Beschwerden, Unfälle, auf Deutsch, gebrochen, die Mutter besorgt wie schon vor 2 Jahren wieder mit dabei, der er wie beim letzten Mal immer übersetzen sollte.

Ach! Stopp! Ali war immer noch 13, gleiche Krankenkasse, andere Karte, anderes Alter, gleicher Ali.

Meine Verwirrung war komplett, aber weil ich dem Jungen Vertrauen schuldig war, 
schließlich hatte er auch Vertrauen zu mir und kam wieder, fragte ich ihn, ob er immer noch der Gleiche sei? Schließlich waren die wenigen Mitbringsel aus der Heimat nur dieses Paket an Daten, Geburtsort, Geburtsdatum und Eltern gewesen.

Ali, schaute mich mit großen braunen Augen an und erklärte mir, das hätten die vom Amt vorgeschlagen wegen Kindergeld und so… Die Mutter saß daneben und wartete geduldig auf die Übersetzung. Diese Frau wusste nicht, was mir gerade unverblümt gesagt wurde.

Diese Antwort ließ mich kurze Zeit sprachlos und ich versuchte für Ali eine tragbare Lösung zu finden. Jetzt hatte dieser Junge Krieg überstanden, und das einzige, was er mitbringen konnte, war seine Identität,  mit Geburtsort, Geburtsjahr und Eltern, und plötzlich wurde ihm das auch genommen. Von wem? Von einem anderen Menschen in einem anderen Land, der sich keineswegs über die Konsequenz seines Handelns im Klaren war. War das Alis erste Lektion in Deutschland? Für Geld ändert man alles: Biographien und Leben, einfach so auf Papier? Wie die Krankenkasse diese Änderung mit gleichen Daten durchgeführt hatte, interessierte mich erstmal gar nicht, wer weiß.

Der hochgewachsene Junge hätte schon längst im Fitnessstudio sein können, aber mit 13 ging das nicht. Dadurch wurde seine Gesundheit nicht besser, sondern schlechter, weil er jünger gemacht worden war. Wusste er, dass sein Arbeitsleben um 2 Jahre verlängert wurde, vielleicht seine Schulzeit und seine Biographie geändert wurden, war ihm das klar? Wollte er sich mit viel Jüngeren sein Wissen in der Schule langsamer aneignen, war ihm das nicht langweilig?

Er selbst flehte mich an, ihm ein Attest zu schreiben, so dass er sich im Fitnessstudio anmelden kann, er sei schließlich schon 15. Die Mutter war passiver Zuschauer und ich konnte nur die Sorgen aus den Augen ablesen. Das Dilemma hatte nun ich, Vertrauen gegen Wahrheit – ein ziemlich harter “Währungstausch“. Mir war nichts klar: Was soll ich tun?

Plötzlich kamen die Erinnerungen wieder, an die Flüchtlinge im Jahr 2000. Damals, als junge Assistenzärztin noch in einem anderen Bundesland, musste ich Altersfeststellungen an jungen Asylbewerbern durchführen. Diese waren Pflicht und wurden dementsprechend durchgeführt. Es waren meistens junge Südosteuropäer, mit denen ich einen Teil der Biographie – ich bin nur unter Flüchtlingen groß geworden – gemeinsam hatte. Diese jungen Menschen nahmen die Untersuchung traurig, aber gelassen hin, keiner fragte warum, und die meisten hatten vieles mit meinem Ali heute gemeinsam.

Geflohen vor dem Kommunismus und den Folgen, das war wie Krieg über Jahrzehnte, suchten sie die Sicherheit und das Leben und das Glück in einem fremden Land, mit nichts anderem im Gepäck als Geburtsort, Geburtsjahr und ohne Eltern. Keiner kam mit Eltern an, das war ein großer Unterschied. Die Altersfeststellung war damals keine alltägliche Untersuchung und es war interessant, die Biographien dieser Jugendlichen wiederherzustellen. Klar, war auch da oft Geld im Spiel, Kindergeld, damals war das deutsche Kindergeld mehr, als 2 Erwachsene an Lohn bekommen haben für einen Monat in Bulgarien oder Rumänien. Die Entscheidung  wurde immer zugunsten des niedrigeren Alters getroffen, so zumindest laut wissenschaftlichen Arbeiten.

Die Untersuchung zur Altersfeststellung wurde damals 2000 vom Land angeordnet und durchgeführt, und keiner dieser Jungs hatte etwas dagegen, so war es halt in einem Rechtsstaat.

Und nun? Könnte ich das Ali 13 Jahre später vorschlagen?

War das die Lösung?

Nein, das ging gar nicht, was müsste ich mir anhören, wenn ich das getan hätte? Die Zeitungen waren voll von Kommentaren, Altersfeststellung ist nicht möglich, die Ärzteschaft ist dagegen, die gleiche Ärzteschaft, die vor 13 Jahren diese Altersfeststellung durchgeführt hatte, erinnerte sich nicht mehr daran, die gleiche Gesellschaft wie vor 13 Jahren anders darüber dachte ?

Wirklich?
 Immer und immer wieder stellte ich mir die gleiche Frage, warum diese sonderbare Änderung? Lag es an den Jungs? Lag es an der Politik?  Schließlich fasste ich schweren Herzens den Entschluss, Ali die Wahrheit zu sagen.  Ich sagte ihm, dass jemand das Einzige, was er noch mitgebracht hatte, verändert hat: Seine Biographie, und das für ein paar Groschen mehr vielleicht.  Ich klärte ihn auf, was das für ihn bedeutet: Rente, Schule, Arbeit und die Möglichkeit, das Alter zu überprüfen.  Langsam begann er Angst zu haben, und die Mutter war nicht wirklich eine Hilfe, die Übersetzung wurde weniger.  Die Augen waren ängstlicher und trauriger, das wollte ich nicht. Ich habe Ali das Attest gegeben, ich weiß nicht, ob er es jemals benutzt hat. Er war froh, sehr froh und erleichtert, er bedankte sich herzlich für meine Erklärungen. Das hatte keiner so zu ihm gesagt und seine Mutter konnte ihm nicht helfen. Ich versprach, ihm die Entscheidung zu überlassen, wie alt er sein wollte oder sollte.

Einige Fragen sind geblieben: Ist es nicht das größte Verbrechen, wenn Menschen über andere Menschen entscheiden und Biographien, Leben ändern, vor allem dann, wenn nicht viel aus dem vorherigen Leben da ist außer wenigen Zahlen? Ist Geld wichtiger als die Wahrheit in Deutschland 2019? Warum soll eine Altersfeststellung nicht durchgeführt werden, wenn das in erster Linie dem Schutz der Betroffenen und ihrer Biographien, ihrer Identität dient?

Warum war das vor 13 Jahren in Deutschland möglich und menschlich – und jetzt nicht?

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Der Beitrag erschien zuerst auf der Internetseite der „Initiative an der Basis mit Flüchtlingen und Migranten“

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