Ein Gastbeitrag von Thomas Maul
Schon Spenglers Beschwörungsformel vom „Untergang des Abendlandes“ war zweideutig: Warnung vor Dekadenz und kaum verhohlener Wunsch, dass es mit der jüdisch-christlichen Zivilisation endgültig ein Ende haben möge. Wo heute die Sprachrohre der Zivilgesellschaft „Religionsfreiheit“ ins Feld führen, um ausgerechnet den Islam zu hofieren – die einzige „Religion“ also, die jene Verinnerlichung und Privatisierung des Glaubens, die aus dem Bekenntnis eine Konfession macht, bis heute nicht nur nicht zu leisten vermag, sondern aggressiv verweigert –, herrscht erneut Untergangsbesoffenheit Spengler’scher Art – schlecht kaschiert mit der Behauptung, ein bürgerliches Grundrecht zu verteidigen, weil gerade dieses ja dem Islam dazu dient, seine Gegengesellschaft rechtskonform zu etablieren.
Dem offenkundigen Bedürfnis nach Selbstorientalisierung des Okzidents ist entgegenzuhalten, dass keine Verteidigung des Westens ohne Verteidigung des Abendlandes auskommt, weil westlicher Säkularismus und Verinnerlichung des Glaubens zur Privatsache der Einzelnen Leistungen der großen abendländischen Religionen gewesen sind, denen der Islam, für den Glaubensbekenntnis und barbarische Tat zusammenfallen, den Kampf ansagt.
Eben deshalb ist Islamkritik keine Variante von Religionskritik, sondern Verteidigung jüdisch-christlichen Denkens und Lebens gegen eine Form des Bekenntnisses, das es bis heute nicht dazu gebracht hat, Theologie zu werden, das heißt: seine eigene Beschaffenheit zum Gegenstand von Reflexion und Kritik zu erheben.
Für das Kreuz als öffentliches Symbol
Die derzeit vom politischen Mainstream geführten Debatten zum künftigen gesellschaftlichen Umgang mit dem Islam und seinen Anhängern machen eines immer wieder deutlich: für Religionskritik im Sinne von Marx, Freud und Adorno sind Linke – und das zusehends kategorisch – nicht ansprechbar.
Die real existierende Linke spaltet sich in zwei Lager. Auf der einen Seite diejenigen, die es der islamischen Religionsausübung im Namen des Antirassismus gar nicht bequem genug machen können, wobei der zur Schau getragenen Islamophilie ein ausgeprägtes antichristliches Ressentiment korrespondiert, das auf eine gehörige Portion Selbsthass schließen lässt. Auf der anderen Seite – und zu dieser sind auch die sogenannten Linksantideutschen zu rechnen – stehen Dorfatheisten, für welche der Laizismus die fortgeschrittenste – also (zumal in Deutschland) erst noch zu verwirklichende – Form der säkularen Trennung von Staat und Religion ist. Das bedeutet eine konsequente Gleichbehandlung und damit auch Gleichsetzung aller Religionen und ihrer Symbole, ob man die abrahamitischen Religionen vor dem Hintergrund der völlig missverstandenen Lessing’schen Ringparabel eher (für was auch immer) gleichermaßen grundsätzlich wertschätzt oder eher als Zwangsneurose, Aberglaube, Ausdruck von schwarzer Pädagogik usw. gleichermaßen grundsätzlich beargwöhnt. Praktische Islamkritik – etwa Kopftuchverbote in Schulen und Behörden – wäre nach diesem Lager nur dann zu dulden oder zu begrüßen, wenn auch Kreuz und Kippa aus den entsprechenden Räumen entfernt würden, wenn der Staat mit den Resten einer Privilegierung des Christentums aufräumte, also keine Kirchensteuer mehr eintriebe, den Kirchen den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts abspräche, ihre Vertreter aus Beiräten und Gremien der Rundfunkanstalten entfernte etc.
Konservativen und Rechten bzw. „Rechtpopulisten“ dagegen werden von eben jenen Linken und insbesondere Linksantideutschen zwei einander konträre Tendenzen unterschoben, die hier aber in Wirklichkeit marginal und stattdessen vor allem bei wiederum derzeit marginalisierten Nazis anzutreffen sind: die äußerliche Indienstnahme von aufklärerischer Islamkritik für schnöden ausländerfeindlichen Rassismus und eine Hassliebe in Bezug auf den Islam, die sich aus Islamneid speise: d.h. aus der Unterstellung, im Islam herrsche überhaupt noch authentische Religiosität oder ein intaktes als konservativ verniedlichtes Geschlechterverhältnis, Moslems verfügten noch über so etwas wie eine gesunde kulturelle Identität und überhaupt handele es sich bei ihnen – wie schon Nietzsche im Antichrist irrte, der ihren Penisneid nicht erkannte – um echte Männer, ungehemmt von einem christlichen Gewissen, das verweichlicht. Oder in Hitlers Worten: „Hätte bei Poitiers nicht Karl Martell gesiegt: Haben wir schon die jüdische Welt auf uns genommen – das Christentum ist so etwas Fades –, so hätten wir viel eher noch den Mohammedanismus übernommen, diese Lehre der Belohnung des Heldentums: Der Kämpfer allein hat den siebenten Himmel! Die Germanen hätten die Welt damit erobert, nur durch das Christentum sind wir davon abgehalten worden.“ (1)
Mit beiden Tendenzen hat die derzeit hegemoniale konservative Islamkritik von CSU und offizieller AfD in den von ihnen jüngst angestoßenen Debatten – „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, „Kopftuchverbot für Schülerinnen“ und verpflichtende Kreuze in bayerischen Amtsstuben – nichts zu tun. Das praktische Ergebnis, der Effekt solcher Maßnahmen wäre – wie auch immer begründet und motiviert – zunächst erst mal nur eine selbstbewusste und unmissverständliche staatliche Privilegierung des Christentums (nebenbei auch des Judentums) gegen den Islam. Eine Ungleichbehandlung der Religionen also, die den islamischen Patriarchalismus, die Menschenverachtung und Lebensfeindlichkeit schlicht nicht als einen Ausdruck von Religiosität, die in den Genuss von Religionsfreiheit kommen könnte, durchgehen lässt. Objektiv wären solche Maßnahmen eine Verteidigung des Westens und seiner Errungenschaften, die sich als Verteidigung des Abendlandes wenigstens ahnt.
So wurde der Beschluss des bayerischen Landeskabinetts, wonach ab Juni 2018 in jeder Behörde des Bundeslandes ein Kreuz hängen muss, damit begründet, dass dies die „geschichtliche und kulturelle Prägung“ Bayerns zum Ausdruck bringen und „sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung“ sein soll. (2) Man kann angesichts bestimmter Formulierungen natürlich über den bayerischen Lokalpatriotismus schmunzeln; und natürlich ist der affirmative Bezug auf „Heimat“, ohne den islamkritische Vorstöße aus dem konservativen Lager im Allgemeinen selten auskommen, kritikwürdig. Allerdings ist es nicht Aufgabe von Kritik, an einer prinzipiell vernünftigen Sicht der Dinge selbstgefällig und kleinlich herumzunörgeln, die das linke Establishment ohnehin und erwartungsgemäß mit Häme überzieht. Dabei war beispielsweise Söder ja nicht nur gefundenes Fressen für den linken individualistisch-hedonistischen Vulgäratheismus. Selbst von der anderen Seite, also der dezidiert christlichen, wurde ihm von Liberalen wie Lindner und Kirchenvertretern wie Kardinal Marx der Vorwurf gemacht, das christliche Kreuz zu profanisieren.
Wenn Kardinal Marx sich zu der Behauptung versteigt, Söders Erlass – und nicht etwa der Islam, auf den der Erlass reagiert – habe „Spaltung, Unruhe, Gegeneinander“ ausgelöst, zeigt sich darin nur, wie sehr selbst die katholische Kirche – aller vorgeschobenen Warnung vor einer „Politisierung der Religion“ zum Trotz und in Selbstverrat – bereits konstruktiver Teil des politischen Linkskartells geworden ist, das sich in Sachen Ablehnung des Kreuzes mit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung laut Emnid-Umfrage einig weiß. Einig nämlich ist man sich in der Verdrängung sowohl der profanen Bedeutungsdimension des Kreuzes als auch der sakralen Bedeutungsdimension der bürgerlichen Rechtsordnung.
Den Begriff des Abendlandes reaktivieren
Es mag einmal vernünftige Einwände gegen den Begriff des christlich-jüdischen Abendlandes gegeben haben. Zum einen unterstellt „christlich-jüdisch“ eine historische Harmonie, welche die Geschichte des christlichen Antijudaismus eskamotiert. Weshalb sich noch heute gewitzte Polemiker darin gefallen, darauf hinzuweisen, dass der Bindestrich im Grunde als Minus-Zeichen zu lesen sei (also christlich minus jüdisch). Zum anderen trage die Wendung vom Abendland der die bürgerliche Gesellschaft auszeichnenden Säkularisierung nicht angemessen Rechnung, könne „christliches Dominanzgebaren“ für bürgerliche Konfessionslose und Weihnachtsbaum-Christen nicht identitätsstiftend sein. Dagegen hatte der Begriff des „Westens“ den Vorteil, stärker auf Liberalismus und das amerikanische Streben nach individuellem Glück abzuheben, mithin den Einspruch gegen Antisemitismus und religiösen wie sonstigen Kollektivismus mitzutransportieren, weshalb er sich auch unter Ideologiekritikern einiger Beliebtheit erfreute.
Inzwischen ist „Westen“ jedoch zu einer Chiffre für das verkommen, worin sich die nachbürgerliche Gesellschaft am fortschrittlichsten und liberalsten wähnt, und worin sie zudem glaubt, die richtigen Lehren aus Auschwitz zu ziehen: Antirassismus und Religionsfreiheit. Das führt in die eigentlich paradoxe Situation, dass sich die antibürgerliche Islamisierung westeuropäischer Gesellschaften unter dem Deckmantel der Verteidigung von Bürgerlichkeit vollzieht, weshalb selbst dort, wo diese Entwicklung nicht begrüßt, sondern abgelehnt wird, so etwas wie ein paralysierter Fatalismus vorherrscht, der sich in selbstquälerischen Phrasen ausdrückt, wie etwa der, welchen Sinn eine konsequente Bekämpfung des Islam überhaupt hätte, wenn man dazu Freiheitsrechte beschneiden, sich also um die eigene westliche und liberale Identität bringen müsste…
Gemälde im Diözesanmuseum von Malta – Die Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen den Islam
In Wirklichkeit gäbe es im Verhältnis zwischen praktischer Islamkritik und konsequenter Verteidigung von Bürgerlichkeit historisch wie logisch nichts Widersprüchliches, wenn man sich des dezidiert abendländischen Charakters des Bürgerlichen endlich (wieder?) bewusst würde. Heutzutage hat marxistische Ideologiekritik daher die Aufgabe, der konservativen Kampfansage gegen den Islam, deren Vertreter sich im Unterschied zum linken Lager als prinzipiell ansprechbar erweisen, auf die Sprünge zu helfen.
In Söders Rede von den vom Kreuz symbolisierten „Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung“ hallt nämlich nur noch schwach nach, wovon der Abendlandmythos des Nachkriegskonservatismus seinerzeit eine vergleichsweise klare Vorstellung hatte. Theodor Heuss etwa erklärte 1950: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“ (3) Söder hätte sich auch – wesentlich aktueller – auf die Ansprache von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag am 22. September 2011 berufen können. Da sagte Ratzinger: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“ (4)
Zwar gehören zu jedem Mythos Verklärung und Idealisierung, die der Selbstaufklärung bedürfen. In diesem Fall scheint es jedoch eher so zu sein, dass der Zusammenhang von Bürgerlichkeit und Judentum beziehungsweise Christentum realhistorisch und begrifflich noch viel zwingender ist, als es den meisten Konservativen und sich selbst treuen Christen je bewusst war. Es gibt nämlich tatsächlich so etwas wie ein transhistorisches „kulturelles Dispositiv“ des Okzidents, dessen konkrete Bestimmungen insbesondere in Abgrenzung vom (islamischen) Orient deutlich hervortreten. Das betrifft vor allem (sowohl für sich als auch in wechselseitiger Verschränkung) die Sphäre des Rechts und die Sphäre der Triebregulation als zivilisierende Entrohung des Geschlechterverhältnisses.
Kurz gesagt, kennt die Scharia weder das Ideal von Rechtssicherheit und vermitteltem Gewaltmonopol noch das Konzept passiver Individualrechte (5) – womit im Grunde Islam und ein emphatischer Begriff des Rechts einander kategorisch ausschließen. Sexualpolitisch nimmt der Islam für männliche Triebversagung (Sublimierung kennt er nicht) nicht etwa wie das Abendland – Stichworte: Odysseus-Mythos und Bergpredigt – die Männer, sondern die Frauen in die Pflicht, deren übersexualisierende Desexualisierung daraus resultiert, dem Ehemann als Objekt der Triebabfuhr zu dienen und für alle anderen Männer sexuell unsichtbar zu sein. Islamische Rechtsfeindschaft und Sexualitätsdispositiv verdichten sich im Kopftuch als zugleich Herrschaftsmittel, das sich in die Frauenkörper einschreibt, und doppeltes Symbol: Zeichen des phallozentrisch-patriarchalen Geschlechterverhältnisses selbst und der islamisierenden Landnahme des öffentlichen Raumes, aggressive Kampfansage an alle noch unverschleierten Frauen und sichtbare Etablierung von Gegensouveränität.
Es ist performativ widersinnig und daher zum Scheitern verurteilt, Mädchen und Jungen autochthoner wie migrantischer Herkunft zu modernen Bürgerinnen und Bürgern in einem Raum erziehen zu wollen, in dem die Verhüllung von Mädchen geduldet wird. Eine solche Duldung ist nicht staatliche Neutralität, sondern ihr Gegenteil: die Parteinahme gegen jene Mädchen und der Verrat ihrer Bürgerrechte, somit bürgerliche Selbstdemontage.
Judaisierung ist Zivilisierung
Historisch betrachtet sind die Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaftssphäre und die Entstehung des philosophischen Monismus sowie jüdischen Monotheismus in der griechischen Antike des 5. Jahrhunderts vor Chr. Phänomene, deren gleichzeitiges Erscheinen alles andere als kontingent ist. Vieles spricht dafür, dass Letzteres seinen materiellen Grund in Ersterem hat. (6) Die Erfahrung des geldvermittelten Warentauschs – dass also alle einzelnen Warendinge, welche die Menschen zu Schöpfern haben, über ein Prinzip, ein Eines, sei es Gold, Silber oder Münzgeld, reguliert werden und zirkulieren – mag die Frage nahegelegt haben, ob nicht gewissermaßen analog auch alle Naturdinge inklusive des Menschen auf ein Prinzip rückführbar sind, dem sie Existenz und inneren Zusammenhang verdanken. Inmitten einer Welt polytheistischer Mythen kommt Aristoteles so – rein geistesgeschichtlich betrachtet – plötzlich und unvermittelt philosophisch auf den einen selbst unbewegten Beweger alles Seienden und kommen die Juden religiös auf den einen Schöpfergott. Noch die spätere christliche Trinität ist keine Aufweichung des oder Verstoß gegen den Monotheismus, sondern dürfte gerade in ihrer Rätselhaftigkeit und Mystik adäquater und plausibler Ausdruck der geahnten, aber unbegriffenen Dreiheit in der Konstitution des Tauschwerts (also Gott) sein: 1. Wertabstraktion (= Heiliger Geist), 2. Tauschrecht setzende und hoheitliche Kontrolle über die Geldware ausübende Souveränität (= Vater) und 3. die Münze selbst als sinnlich gewordene Abstraktion (= fleischgewordener Sohn, sinnlich-übersinnliches Ding).
Soweit der geldvermittelte Äquivalententausch – die Vergleichung des Ungleichen – nicht nur indirekt den Erfahrungshintergrund Aristotelischer Überlegungen gibt, sondern als solcher den Gegenstand der Analyse bildet, reflektiert Aristoteles auf die notwendige rechtliche Gleichheit der Tauschenden als Tauschende, also eine Gleichheit, die als Absehung vom gesellschaftlichen Rang der Personen zugleich aber auf den Tauschakt selbst beschränkt bleibt. Demgegenüber bildet das Judentum eine die unmittelbare Realität des Äquivalententauschs transzendierende Idee heraus. So wie das Geld (als Geldware oder Münze) im auswärtigen Handel im Grunde ein universales Prinzip der „Völkerverständigung“ – im Unterschied zum Raubkrieg – darstellt, fungiert der jüdische monotheistisch gedachte Gott eben nicht mehr als partikularer Stammesgott der Juden, sondern als Gott aller Menschen, vor dem und dessen Gesetz alle Menschen prinzipiell gleich sind, gleichbedeutend mit der Idee einer ungeteilten Menschheit und der Gottesebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen, dessen Leben darum heilig ist. So verweisen eben auch Gesetz, Bund, Vertragswerk – vermittelt über den Auszug der Hebräer aus Ägypten – immer auch auf einen grundsätzlichen Einspruch gegen die Institution der Sklaverei, ja der Herrschaft des Menschen über den Menschen überhaupt.
Unabhängig von den konkreten Inhalten des jüdischen Gesetzes, das in wesentlichen Fragen spätere bürgerliche Rechtsgrundsätze der Moderne vorwegnimmt, ist das Verhältnis zu Souveränität, Recht und Ordnung in eine Theorie des Messianischen eingelassen, wodurch es affirmativ und kritisch zugleich ist. Das Gesetz ist einerseits als solches und in seinen Inhalten Ausdruck des unversöhnten Standes der Menschheit (mit sich selbst, Gott und der Natur) und garantiert, quasi als Kompromiss, das bestmögliche Leben eingedenk eben jener allgemeinen Unversöhntheit. Im versöhnten Stand dagegen wäre das Gesetz als verwirklichtes, seinem Geist nach von den Menschen verinnerlichtes, als äußeres und buchstäbliches überflüssig beziehungsweise aufgehoben.
Nach diesem Muster übrigens denkt Marx die durch einen revolutionären Akt herzustellende Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in der unter neuen Eigentumsverhältnissen, also auf der Basis vergesellschafteter Produktionsmittel die bürgerliche Rechtsform zunächst genauso fortexistiert, wie die Produkte vermittels des geldähnlichen Arbeitsgeldes distribuiert werden – bis Rechts-, Waren- und Geldform vollends überflüssig geworden sind.
Während das frühe Ur-Christentum mit dem ersten Erscheinen Jesu die messianische Zeit für gekommen hielt und darum Heiden missionierte und das jüdische Gesetz in seiner sakramentalen Einheit aufgeweicht, weil für bereits verwirklicht erklärt hatte, blieb dem späteren, gesellschaftlich siegreichen Christentum angesichts der Parusieverzögerung – also: des offensichtlichen Ausbleibens des zweiten Erscheinens Jesu – und damit der doch nicht vollkommen erlösten Welt nichts anderes übrig, als das Gesetz in Form des Kirchenrechts wieder aufzurichten, das historisch vermittelt nun einen Synkretismus aus jüdischem und republikanisch-römischem Recht darstellt. Rein theologisch mag es einen, sich dann in antijüdisches Ressentiment übersetzenden, Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Ursprungsreligion begünstigen, aufs zweite Erscheinen des Messias zu warten, statt wie das religiöse Original aufs Erste – und damit die Bedeutung des Kreuzestodes abzuschwächen, gar in der Rechtsnotwendigkeit zu profanisieren. Menschheitshistorisch ist es aber diese theologische Konstruktion, die den Irrtum der Naherwartung des Heils kompensiert, mit der das Christentum zunächst die griechischen und römischen Heiden, dann die europäischen Barbaren judaisierte, d.h. zivilisierte, woraus ein Ressentimentfreiheit ermöglichendes christliches Selbstbewusstsein gegenüber den Juden hätte gezogen werden können.
Es wird dann jedenfalls zur Ironie der späteren bürgerlichen Revolutionen gehören, dass sie gegen die Religion, die katholische Kirche, den Klerus (als Verbündete des Adels) ins Werk gesetzt wurden und als Säkularisierung erscheinen, während sie de facto das bis dahin im Schatten des weltlichen „europäisch“-heidnischen Gewohnheitsrechts ausgebildete und praktizierte kanonische Kirchenrecht überhaupt erst praktisch als weltliches, bürgerliches Recht inthronisierten: die tauschvermittelte Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Ersetzung der auf das ius talionis zurückgehenden Körperstrafen durch Bestrafung im Sinne des Äquivalenzprinzips, die von der Trinitätslehre inspirierte Gewaltenteilung, Strafmilderung aufgrund von Geständnis (sprich Beichte) und Reue usw. usf.
Materialistische Kritik und Theologie
Wenn schon den Islam – und nicht erst den Islamismus – kritisieren, dann doch bitteschön im Sinne der materialistischen Religionskritik von Karl Marx, heißt es regelmäßig von links, wobei die Referenz schon systematisch auf plumpen Atheismus heruntergebracht wird. Marx dagegen unterscheidet in einem seiner besten Texte – Zur Judenfrage – die politische von der menschlichen Emanzipation. Gegen Bruno Bauer, der vertritt, dass die Juden sich vom Judentum emanzipieren müssten, um vollwertige Staatsbürger zu werden, definiert Marx die politische Emanzipation als Emanzipation des Staates von der Religion, was die Abschaffung des Christentums als Staatsreligion und die Degradierung jeder Religion zur Privatschrulle des einzelnen Bürgers meint, womit Judentum und Christentum dem bürgerlichen Staat im mehrfachen Wortsinn gleich-gültig werden. Die Befreiung des Einzelnen von der Religion als Privatschrulle bzw. der Gesellschaft vom Judentum – eine gern als Antisemitismus missdeutete Wendung – ist erst Sache der menschlichen Emanzipation.
Gerade in diesem Zusammenhang wäre jedoch klarzustellen, dass die gern kolportierte Rede aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, wonach die „Religionskritik“ Voraussetzung aller Kritik sei, man sich also von der „Religionskritik“ zur Kritik an Recht, Staat und Kapital vorzuarbeiten hätte, allenfalls für die politische Emanzipation zutrifft; für die menschliche Emanzipation gilt eher das Umgekehrte. Weil die Religion der „Seufzer der bedrängten Kreatur“, der „Trost trostloser Zustände“, die Illusion über Verhältnisse, die der Illusion bedürfen, zielt die Religionskritik als praktische Kritik am Kapital auf die Herstellung einer Wirklichkeit, welche die Kreatur nicht mehr bedrängt, und darum das Seufzen aus der Welt schafft. Eine atheistische Religionskritik dagegen, welche die Religion als Blume an der Kette zerpflückt, auf dass der Mensch seine Versklavung illusionsfrei ertrüge, ist nach Marx Menschenverachtung, die mit Emanzipation nichts zu tun hat. So denkt auch Adorno orthodox marxistisch, wenn er in der Negativen Dialektik gewissermaßen einen messianischen Materialismus begründet: „Mit der Theologie kommt [der Materialismus] dort überein, wo er am materialistischsten ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches […] Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er solange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert.“ (7)
Ideologiekritik, deren Fluchtpunkt immer, auch und gerade dann, wenn er – angesichts verstellter Praxis – nicht bekenntnishaft vor sich hergetragen wird, der Kommunismus darstellt, ist also Übersetzung – wenn man will: säkularisierende Übersetzung – des jüdisch-christlichen Messianismus; damit also ein Vorgehen, das in seiner Substanz abendländischer kaum sein könnte.
Menschenrechte als theologisches Naturrecht
Marx hat seinerzeit die USA ins Spiel gebracht als das Land, das die politische Emanzipation des Staates von der Religion am fortschrittlichsten verwirklicht habe. Dabei wäre etwas näher auf die „Amerikanische Unabhängigkeitserklärung“ einzugehen, weil diese in ihrer Präambel – und das ist gerade kein Widerspruch – einen expliziten theologischen Bezug enthält, der zudem doppelt konstitutiv ist: einmal, und zwar allgemein, fürs Selbstverständnis bürgerlichen Rechts überhaupt und zum zweiten, im Besonderen, für den Versuch, den Rechtsbruch des politischen Widerstands gegen das Mutterland mit dem Recht des Mutterlandes zu legitimieren, einem Recht allerdings, vor dem sich das positive Recht und dessen Auslegung in beiden Nationen selbst zu rechtfertigen hat. Die entscheidenden ersten Sätze der maßgeblich von Jefferson verfassten Gründungsurkunde der USA vom 4. Juli 1776 gehen jedenfalls so:
Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden sind, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; dass sobald eine Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu sein dünket.
Das Selbstreflexionsniveau dieser Setzungen ist bemerkenswert. Hervorzuheben sind folgende Momente: Erstens: Es gibt so etwas wie unveräußerliche positive Grundrechte, die allen Menschen, als darin einander gleichen Individuen, zukommen: Leben, Freiheit, Streben nach Glück. Diese Rechte stammen von Gott. Zweitens: Da nun aber Gott selbst die irdische Versicherung dieser Rechte nicht leistet, ist weltliche, also staatliche Gewalt zu ihrer Durchsetzung erforderlich, was aufs Paradox beziehungsweise die freundliche Illusion der historisch später deklarierten „Menschenrechte“ verweist – von Marx in der Judenfrage, später prominent noch einmal von Hannah Arendt problematisiert –, dass nämlich die Grundrechte einerseits der Idee nach über bloße Bürgerrechte hinausgehen, weil sie für alle Menschen unabhängig von deren Staatsangehörigkeit gelten sollen, andererseits aber praktisch wertlos sind, wenn es keinen Souverän gibt, der sich für zuständig erklärt, woraus folgt: Wer Bürgerrechte hat, braucht keine Menschenrechte. Drittens: Zwar soll weltliche Gewalt ihre Legitimität von der Einwilligung der Regierten beziehen, doch hat das Widerstandsrecht dabei nichts mit einem formal gegenläufigen Mehrheitswillen beziehungsweise überhaupt Voluntarismus zu tun, weil ein widerständiger Volkswille nur dann rechtskonform ist, wenn die Regierung systematisch gegen die unveräußerlichen Grundrechte verstößt, was inhaltsindifferente Mehrheitsdiktaturen gegen Minderheiten rechtlich ausschließt und sich darin eben absetzt von jedem formalistischen Demokratie- und Wahlrechtsgefasel. Viertens: Die Idee, dass positives Recht selbst noch einmal rechtlich in einem höheren, ihm selbst sowie menschlicher Willkür transzendenten, Recht gegründet sein könnte, oder zu gründen wäre, ist recht alt und wurde unterm Begriff des Naturrechts verhandelt. Da sich soziale Rechte aber schwerlich aus der Natur als solcher ableiten lassen, bezieht sich die theologische Interpretation eben auf Gott, der ja schließlich auch die Natur selbst geschaffen habe.
Man könnte nun natürlich sagen, dass sich die Bürger mittels dieser Konstruktion Gottes bedienen und diesen zunehmend als Platzhalter und Bürgen „bürgerlicher Vernunft“ säkularisieren. Andererseits ist der jüdisch-christliche Gott eben dies potentiell immer schon gewesen, die Verbürgerlichung der Menschheit – wie unvollkommen und brüchig auch immer – daher ebenso ihre Judaisierung beziehungsweise Christianisierung.
Religionsfreiheit als protestantische Erfindung
Entfaltet sich in der Ausbildung des kanonischen Kirchenrechts (schlagwortartig ausgedrückt) eine historische Dialektik von Katholizismus, Judentum und griechisch-römischer Antike, so entspringen die rechtsphilosophischen Reflexionen moderner Verfassungsstaaten dem verwickelten Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus. Als verfolgte Minderheit brachten vor katholischer Verfolgung Schutz suchende Protestanten zum einen die grundsätzliche Bereitschaft mit, sich dem weltlichen Recht sie schützender Fürsten zu unterwerfen, was von ihnen verlangte, die im Christentum immer schon auch vorhandene Trennung von weltlicher Politik und Religion theologisch weiter zu untermauern. Zum anderen neigen sich von etablierten Institutionen herauslösende Sekten häufig zu intern vergleichsweise „demokratischen“ Strukturen, so dass insbesondere protestantische Gruppen, wo sie, wie in den USA zu den ersten gehörten, die politische Gemeinwesen aufbauten, ihre quasi innere Bürgerlichkeit in die Politik übertrugen – ein Zusammenhang also, der darüber hinausgeht, dass es sich bei den Verfassern der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung um gläubige Protestanten handelte sowie auch über die von Weber festgestellte Kompatibilität von protestantischen Glaubensinhalten und kapitalistischen Imperativen (Stichwort: Arbeitsethos).
Darum ist gerade das besondere, positive bürgerliche Recht der Religionsfreiheit – samt der ihm verbundenen Idee religiöser Toleranz – genuin protestantisch. Im historisch-politischen Ursprung war es ein Schutzrecht vor der katholischen Kirche, war die Toleranz zuvörderst eine, die man konkurrierenden protestantischen Sekten gewährte. Auch wenn sich Religionsfreiheit im bürgerlichen Fortgang immer weiter verallgemeinerte, so hatte der Religionsbegriff dabei selbst, also das, was überhaupt unter Religion zu verstehen war, stets eine protestantische Färbung: Religion als hauptsächlich Glaube und innere Haltung, die sich nicht wesentlich in äußeren Handlungen vollzieht, die mit bürgerlichem Recht überhaupt kollidieren könnten. Und selbst von Ritual- und Zeremonie-Religionen wie Katholizismus und Judentum konnte angenommen werden, dass Praktiken wie die Beichte oder das Einhalten von Speisegesetzen keine Herausforderungen der weltlich-bürgerlichen Souveränität darstellen.
Das heißt: Private Glaubensfreiheit, öffentliche Bekenntnisfreiheit und private wie öffentliche Religionsausübungsfreiheit sind vergleichsweise unproblematisch in einem Prozess, der sich durch alle Widersprüche und gesellschaftlichen Kämpfe hindurch als Verbürgerlichung der Religion oder Christianisierung/Judaisierung der Gesellschaft beschreiben lässt. (8) Darum hat es auch nie eine spezifisch religiös begründete zur Praxis treibende jüdisch-christliche Frauenverachtung gegeben, die im Namen der Religionsfreiheit gegen die bürgerliche Gesellschaft durchgesetzt werden sollte. In relevanten Bereichen war die alte Kirche nicht patriarchaler als die Gesamtgesellschaft, umfasste die spätere Überwindung des Patriarchats mehr oder weniger träge und reibungsvoll letztendlich auch die abendländischen Religionen.
Daher ist es schon mehr als merkwürdig, dass die Angehörigen des Linkskartells dem islamischen Patriarchalismus (der das alte abendländische Patriarchat in den Schatten stellt), wo sie ihn nicht antirassistisch rechtfertigen, mit den abendländischen Begriffen und Ideen von Religionsfreiheit, Säkularismus und Laizität begegnen, und dass der einzige gesellschaftlich wahrnehmbare bürgerliche Widerstand gegen die offenkundige Islamisierung von rechts formuliert wird, wie auch die besten Reden gegen den Antisemitismus sowie den Islam und für Israel im Deutschen Bundestag von Vertretern der AfD gehalten werden. (9) Das sowie international der Wahlerfolg und die Politik Trumps treiben denn auch die Linksantideutschen unter den Freunden Israels in eine hausgemachte Identitätskrise, deren Hauptsymptome ihr hysterisches Engagement gegen den „Rechtspopulismus“ und die denunziatorisch gemeinte Etikettierung einer unbeirrt Marx, Freud und Adorno folgenden und damit abendländischen Ideologiekritik als „rechtsantideutsch“ sind.
Gegen diesen Irrsinn bleibt festzuhalten, dass sich ohne dezidiert positiven Bezug aufs eben jüdisch-christlich konnotierte Abendland kein Begriff von Bürgerlichkeit den Selbstzerstörungstendenzen der nachbürgerlichen Gesellschaft entgegensetzen lässt, geschweige denn noch etwas irgend vernünftig Kommunistisches überhaupt nur in Ansätzen gedacht werden könnte.
Wenn die laut der politischen Klasse aus der nationalsozialistischen Orientalisierung des Abendlandes zu ziehende Lehre darin bestehen soll, ihre Wiederholung im Zeichen des Islam zu fördern, dann ist es höchste Zeit, den Kreuzzug zu führen, der 1933 versäumt wurde.
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