Mittwoch, 25. Dezember 2024

Der Westen liegt im Abendland

Ein Gastbeitrag von Thomas Maul

Schon Speng­lers Be­schwö­rungs­for­mel vom „Un­ter­gang des Abend­lan­des“ war zwei­deu­tig: War­nung vor De­ka­denz und kaum ver­hoh­le­ner Wunsch, dass es mit der jü­disch-christ­li­chen Zi­vi­li­sa­ti­on end­gül­tig ein Ende haben möge. Wo heute die Sprach­roh­re der Zi­vil­ge­sell­schaft „Re­li­gi­ons­frei­heit“ ins Feld füh­ren, um aus­ge­rech­net den Islam zu ho­fie­ren – die ein­zi­ge „Re­li­gi­on“ also, die jene Ver­in­ner­li­chung und Pri­va­ti­sie­rung des Glau­bens, die aus dem Be­kennt­nis eine Kon­fes­si­on macht, bis heute nicht nur nicht zu leis­ten ver­mag, son­dern ag­gres­siv ver­wei­gert –, herrscht er­neut Un­ter­gangs­be­sof­fen­heit Speng­ler’scher Art – schlecht ka­schiert mit der Be­haup­tung, ein bür­ger­li­ches Grund­recht zu ver­tei­di­gen, weil ge­ra­de die­ses ja dem Islam dazu dient, seine Ge­gen­ge­sell­schaft rechts­kon­form zu eta­blie­ren.

Dem of­fen­kun­di­gen Be­dürf­nis nach Selbstori­en­ta­li­sie­rung des Ok­zi­dents ist ent­ge­gen­zu­hal­ten, dass keine Ver­tei­di­gung des Wes­tens ohne Ver­tei­di­gung des Abend­lan­des aus­kommt, weil west­li­cher Sä­ku­la­ris­mus und Ver­in­ner­li­chung des Glau­bens zur Pri­vat­sa­che der Ein­zel­nen Leis­tun­gen der gro­ßen abend­län­di­schen Re­li­gio­nen ge­we­sen sind, denen der Islam, für den Glau­bens­be­kennt­nis und bar­ba­ri­sche Tat zu­sam­men­fal­len, den Kampf an­sagt.

Eben des­halb ist Is­lam­kri­tik keine Va­ri­an­te von Re­li­gi­ons­kri­tik, son­dern Ver­tei­di­gung jü­disch-christ­li­chen Den­kens und Le­bens gegen eine Form des Be­kennt­nis­ses, das es bis heute nicht dazu ge­bracht hat, Theo­lo­gie zu wer­den, das heißt: seine ei­ge­ne Be­schaf­fen­heit zum Ge­gen­stand von Re­fle­xi­on und Kri­tik zu er­he­ben.

Für das Kreuz als öffentliches Symbol

Die der­zeit vom po­li­ti­schen Main­stream ge­führ­ten De­bat­ten zum künf­ti­gen ge­sell­schaft­li­chen Um­gang mit dem Islam und sei­nen An­hän­gern ma­chen eines immer wie­der deut­lich: für Re­li­gi­ons­kri­tik im Sinne von Marx, Freud und Ador­no sind Linke – und das zu­se­hends ka­te­go­risch – nicht an­sprech­bar.

Die real exis­tie­ren­de Linke spal­tet sich in zwei Lager. Auf der einen Seite die­je­ni­gen, die es der is­la­mi­schen Re­li­gi­ons­aus­übung im Namen des An­ti­ras­sis­mus gar nicht be­quem genug ma­chen kön­nen, wobei der zur Schau ge­tra­ge­nen Is­la­mo­phi­lie ein aus­ge­präg­tes an­ti­christ­li­ches Res­sen­ti­ment kor­re­spon­diert, das auf eine ge­hö­ri­ge Por­ti­on Selbst­hass schlie­ßen lässt. Auf der an­de­ren Seite – und zu die­ser sind auch die so­ge­nann­ten Links­an­ti­deut­schen zu rech­nen – ste­hen Dorfat­he­is­ten, für wel­che der Lai­zis­mus die fort­ge­schrit­tens­te – also (zumal in Deutsch­land) erst noch zu ver­wirk­li­chen­de – Form der sä­ku­la­ren Tren­nung von Staat und Re­li­gi­on ist. Das be­deu­tet eine kon­se­quen­te Gleich­be­hand­lung und damit auch Gleich­set­zung aller Re­li­gio­nen und ihrer Sym­bo­le, ob man die abra­ha­mi­ti­schen Re­li­gio­nen vor dem Hin­ter­grund der völ­lig miss­ver­stan­de­nen Les­sing’schen Ring­pa­ra­bel eher (für was auch immer) glei­cher­ma­ßen grund­sätz­lich wert­schätzt oder eher als Zwangs­neu­ro­se, Aber­glau­be, Aus­druck von schwar­zer Päd­ago­gik usw. glei­cher­ma­ßen grund­sätz­lich be­arg­wöhnt. Prak­ti­sche Is­lam­kri­tik – etwa Kopf­tuch­ver­bo­te in Schu­len und Be­hör­den – wäre nach die­sem Lager nur dann zu dul­den oder zu be­grü­ßen, wenn auch Kreuz und Kippa aus den ent­spre­chen­den Räu­men ent­fernt wür­den, wenn der Staat mit den Res­ten einer Pri­vi­le­gie­rung des Chris­ten­tums auf­räum­te, also keine Kir­chen­steu­er mehr ein­trie­be, den Kir­chen den Sta­tus von Kör­per­schaf­ten des öf­fent­li­chen Rechts ab­sprä­che, ihre Ver­tre­ter aus Bei­rä­ten und Gre­mi­en der Rund­funk­an­stal­ten ent­fern­te etc.

Kon­ser­va­ti­ven und Rech­ten bzw. „Recht­po­pu­lis­ten“ da­ge­gen wer­den von eben jenen Lin­ken und ins­be­son­de­re Links­an­ti­deut­schen zwei ein­an­der kon­trä­re Ten­den­zen un­ter­scho­ben, die hier aber in Wirk­lich­keit mar­gi­nal und statt­des­sen vor allem bei wie­der­um der­zeit mar­gi­na­li­sier­ten Nazis an­zu­tref­fen sind: die äu­ßer­li­che In­dienst­nah­me von auf­klä­re­ri­scher Is­lam­kri­tik für schnö­den aus­län­der­feind­li­chen Ras­sis­mus und eine Hass­lie­be in Bezug auf den Islam, die sich aus Is­lam­neid spei­se: d.h. aus der Un­ter­stel­lung, im Islam herr­sche über­haupt noch au­then­ti­sche Re­li­gio­si­tät oder ein in­tak­tes als kon­ser­va­tiv ver­nied­lich­tes Ge­schlech­ter­ver­hält­nis, Mos­lems ver­füg­ten noch über so etwas wie eine ge­sun­de kul­tu­rel­le Iden­ti­tät und über­haupt han­de­le es sich bei ihnen – wie schon Nietz­sche im An­ti­christ irrte, der ihren Pe­nis­neid nicht er­kann­te – um echte Män­ner, un­ge­hemmt von einem christ­li­chen Ge­wis­sen, das ver­weich­licht. Oder in Hit­lers Wor­ten: „Hätte bei Poi­tiers nicht Karl Mar­tell ge­siegt: Haben wir schon die jü­di­sche Welt auf uns ge­nom­men – das Chris­ten­tum ist so etwas Fades –, so hät­ten wir viel eher noch den Mo­ham­me­da­nis­mus über­nom­men, diese Lehre der Be­loh­nung des Hel­den­tums: Der Kämp­fer al­lein hat den sie­ben­ten Him­mel! Die Ger­ma­nen hät­ten die Welt damit er­obert, nur durch das Chris­ten­tum sind wir davon ab­ge­hal­ten wor­den.“ (1)

Mit bei­den Ten­den­zen hat die der­zeit he­ge­mo­nia­le kon­ser­va­ti­ve Is­lam­kri­tik von CSU und of­fi­zi­el­ler AfD in den von ihnen jüngst an­ge­sto­ße­nen De­bat­ten – „Der Islam ge­hört nicht zu Deutsch­land“, „Kopf­tuch­ver­bot für Schü­le­rin­nen“ und ver­pflich­ten­de Kreu­ze in baye­ri­schen Amts­stu­ben – nichts zu tun. Das prak­ti­sche Er­geb­nis, der Ef­fekt sol­cher Maß­nah­men wäre – wie auch immer be­grün­det und mo­ti­viert – zu­nächst erst mal nur eine selbst­be­wuss­te und un­miss­ver­ständ­li­che staat­li­che Pri­vi­le­gie­rung des Chris­ten­tums (ne­ben­bei auch des Ju­den­tums) gegen den Islam. Eine Un­gleich­be­hand­lung der Re­li­gio­nen also, die den is­la­mi­schen Pa­tri­ar­cha­lis­mus, die Men­schen­ver­ach­tung und Le­bens­feind­lich­keit schlicht nicht als einen Aus­druck von Re­li­gio­si­tät, die in den Ge­nuss von Re­li­gi­ons­frei­heit kom­men könn­te, durch­ge­hen lässt. Ob­jek­tiv wären sol­che Maß­nah­men eine Ver­tei­di­gung des Wes­tens und sei­ner Er­run­gen­schaf­ten, die sich als Ver­tei­di­gung des Abend­lan­des we­nigs­tens ahnt.

So wurde der Be­schluss des baye­ri­schen Lan­des­ka­bi­netts, wo­nach ab Juni 2018 in jeder Be­hör­de des Bun­des­lan­des ein Kreuz hän­gen muss, damit be­grün­det, dass dies die „ge­schicht­li­che und kul­tu­rel­le Prä­gung“ Bay­erns zum Aus­druck brin­gen und „sicht­ba­res Be­kennt­nis zu den Grund­wer­ten der Rechts- und Ge­sell­schafts­ord­nung“ sein soll. (2) Man kann an­ge­sichts be­stimm­ter For­mu­lie­run­gen na­tür­lich über den baye­ri­schen Lo­kal­pa­trio­tis­mus schmun­zeln; und na­tür­lich ist der af­fir­ma­ti­ve Bezug auf „Hei­mat“, ohne den is­lam­kri­ti­sche Vor­stö­ße aus dem kon­ser­va­ti­ven Lager im All­ge­mei­nen sel­ten aus­kom­men, kri­tik­wür­dig. Al­ler­dings ist es nicht Auf­ga­be von Kri­tik, an einer prin­zi­pi­ell ver­nünf­ti­gen Sicht der Dinge selbst­ge­fäl­lig und klein­lich her­um­zu­nör­geln, die das linke Es­ta­blish­ment oh­ne­hin und er­war­tungs­ge­mäß mit Häme über­zieht. Dabei war bei­spiels­wei­se Söder ja nicht nur ge­fun­de­nes Fres­sen für den lin­ken in­di­vi­dua­lis­tisch-he­do­nis­ti­schen Vul­gärat­he­is­mus. Selbst von der an­de­ren Seite, also der de­zi­diert christ­li­chen, wurde ihm von Li­be­ra­len wie Lind­ner und Kir­chen­ver­tre­tern wie Kar­di­nal Marx der Vor­wurf ge­macht, das christ­li­che Kreuz zu pro­fa­ni­sie­ren.

Wenn Kar­di­nal Marx sich zu der Be­haup­tung ver­steigt, Sö­ders Er­lass – und nicht etwa der Islam, auf den der Er­lass re­agiert – habe „Spal­tung, Un­ru­he, Ge­gen­ein­an­der“ aus­ge­löst, zeigt sich darin nur, wie sehr selbst die ka­tho­li­sche Kir­che – aller vor­ge­scho­be­nen War­nung vor einer „Po­li­ti­sie­rung der Re­li­gi­on“ zum Trotz und in Selbst­ver­rat – be­reits kon­struk­ti­ver Teil des po­li­ti­schen Links­kar­tells ge­wor­den ist, das sich in Sa­chen Ab­leh­nung des Kreu­zes mit der Mehr­heit der deut­schen Be­völ­ke­rung laut Em­nid-Um­fra­ge einig weiß. Einig näm­lich ist man sich in der Ver­drän­gung so­wohl der pro­fa­nen Be­deu­tungs­di­men­si­on des Kreu­zes als auch der sa­kra­len Be­deu­tungs­di­men­si­on der bür­ger­li­chen Rechts­ord­nung.

Den Begriff des Abendlandes reaktivieren

Es mag ein­mal ver­nünf­ti­ge Ein­wän­de gegen den Be­griff des christ­lich-jü­di­schen Abend­lan­des ge­ge­ben haben. Zum einen un­ter­stellt „christ­lich-jü­disch“ eine his­to­ri­sche Har­mo­nie, wel­che die Ge­schich­te des christ­li­chen An­ti­ju­da­is­mus es­ka­mo­tiert. Wes­halb sich noch heute ge­witz­te Po­le­mi­ker darin ge­fal­len, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Bin­de­strich im Grun­de als Mi­nus-Zei­chen zu lesen sei (also christ­lich minus jü­disch). Zum an­de­ren trage die Wen­dung vom Abend­land der die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft aus­zeich­nen­den Sä­ku­la­ri­sie­rung nicht an­ge­mes­sen Rech­nung, könne „christ­li­ches Do­mi­nanz­ge­ba­ren“ für bür­ger­li­che Kon­fes­si­ons­lo­se und Weih­nachts­baum-Chris­ten nicht iden­ti­täts­stif­tend sein. Da­ge­gen hatte der Be­griff des „Wes­tens“ den Vor­teil, stär­ker auf Li­be­ra­lis­mus und das ame­ri­ka­ni­sche Stre­ben nach in­di­vi­du­el­lem Glück ab­zu­he­ben, mit­hin den Ein­spruch gegen An­ti­se­mi­tis­mus und re­li­giö­sen wie sons­ti­gen Kol­lek­ti­vis­mus mit­zu­trans­por­tie­ren, wes­halb er sich auch unter Ideo­lo­gie­kri­ti­kern ei­ni­ger Be­liebt­heit er­freu­te.

In­zwi­schen ist „Wes­ten“ je­doch zu einer Chif­fre für das ver­kom­men, worin sich die nach­bür­ger­li­che Ge­sell­schaft am fort­schritt­lichs­ten und li­be­rals­ten wähnt, und worin sie zudem glaubt, die rich­ti­gen Leh­ren aus Ausch­witz zu zie­hen: An­ti­ras­sis­mus und Re­li­gi­ons­frei­heit. Das führt in die ei­gent­lich pa­ra­do­xe Si­tua­ti­on, dass sich die an­ti­bür­ger­li­che Is­la­mi­sie­rung west­eu­ro­päi­scher Ge­sell­schaf­ten unter dem Deck­man­tel der Ver­tei­di­gung von Bür­ger­lich­keit voll­zieht, wes­halb selbst dort, wo diese Ent­wick­lung nicht be­grüßt, son­dern ab­ge­lehnt wird, so etwas wie ein pa­ra­ly­sier­ter Fa­ta­lis­mus vor­herrscht, der sich in selbst­quä­le­ri­schen Phra­sen aus­drückt, wie etwa der, wel­chen Sinn eine kon­se­quen­te Be­kämp­fung des Islam über­haupt hätte, wenn man dazu Frei­heits­rech­te be­schnei­den, sich also um die ei­ge­ne west­li­che und li­be­ra­le Iden­ti­tät brin­gen müss­te…

Gemälde im Diözesanmuseum von Malta – Die Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen den Islam

In Wirk­lich­keit gäbe es im Ver­hält­nis zwi­schen prak­ti­scher Is­lam­kri­tik und kon­se­quen­ter Ver­tei­di­gung von Bür­ger­lich­keit his­to­risch wie lo­gisch nichts Wi­der­sprüch­li­ches, wenn man sich des de­zi­diert abend­län­di­schen Cha­rak­ters des Bür­ger­li­chen end­lich (wie­der?) be­wusst würde. Heut­zu­ta­ge hat mar­xis­ti­sche Ideo­lo­gie­kri­tik daher die Auf­ga­be, der kon­ser­va­ti­ven Kampf­an­sa­ge gegen den Islam, deren Ver­tre­ter sich im Un­ter­schied zum lin­ken Lager als prin­zi­pi­ell an­sprech­bar er­wei­sen, auf die Sprün­ge zu hel­fen.

In Sö­ders Rede von den vom Kreuz sym­bo­li­sier­ten „Grund­wer­ten der Rechts- und Ge­sell­schafts­ord­nung“ hallt näm­lich nur noch schwach nach, wovon der Abend­land­my­thos des Nach­kriegs­kon­ser­va­tis­mus sei­ner­zeit eine ver­gleichs­wei­se klare Vor­stel­lung hatte. Theo­dor Heuss etwa er­klär­te 1950: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abend­land sei­nen Aus­gang ge­nom­men hat: Gol­ga­tha, die Akro­po­lis in Athen, das Ca­pi­tol in Rom. Aus allen ist das Abend­land geis­tig ge­wirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Ein­heit sehen.“ (3) Söder hätte sich auch – we­sent­lich ak­tu­el­ler – auf die An­spra­che von Papst Be­ne­dikt XVI. im Deut­schen Bun­des­tag am 22. Sep­tem­ber 2011 be­ru­fen kön­nen. Da sagte Ratz­in­ger: „Die Kul­tur Eu­ro­pas ist aus der Be­geg­nung von Je­ru­sa­lem, Athen und Rom – aus der Be­geg­nung zwi­schen dem Got­tes­glau­ben Is­ra­els, der phi­lo­so­phi­schen Ver­nunft der Grie­chen und dem Rechts­den­ken Roms ent­stan­den. Diese drei­fa­che Be­geg­nung bil­det die in­ne­re Iden­ti­tät Eu­ro­pas.“ (4)

Zwar ge­hö­ren zu jedem My­thos Ver­klä­rung und Idea­li­sie­rung, die der Selbst­auf­klä­rung be­dür­fen. In die­sem Fall scheint es je­doch eher so zu sein, dass der Zu­sam­men­hang von Bür­ger­lich­keit und Ju­den­tum be­zie­hungs­wei­se Chris­ten­tum re­al­his­to­risch und be­griff­lich noch viel zwin­gen­der ist, als es den meis­ten Kon­ser­va­ti­ven und sich selbst treu­en Chris­ten je be­wusst war. Es gibt näm­lich tat­säch­lich so etwas wie ein trans­his­to­ri­sches „kul­tu­rel­les Dis­po­si­tiv“ des Ok­zi­dents, des­sen kon­kre­te Be­stim­mun­gen ins­be­son­de­re in Ab­gren­zung vom (is­la­mi­schen) Ori­ent deut­lich her­vor­tre­ten. Das be­trifft vor allem (so­wohl für sich als auch in wech­sel­sei­ti­ger Ver­schrän­kung) die Sphä­re des Rechts und die Sphä­re der Trieb­re­gu­la­ti­on als zi­vi­li­sie­ren­de Ent­ro­hung des Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­ses.

Kurz ge­sagt, kennt die Scha­ria weder das Ideal von Rechts­si­cher­heit und ver­mit­tel­tem Ge­walt­mo­no­pol noch das Kon­zept pas­si­ver In­di­vi­du­al­rech­te (5) – womit im Grun­de Islam und ein em­pha­ti­scher Be­griff des Rechts ein­an­der ka­te­go­risch aus­schlie­ßen. Se­xu­al­po­li­tisch nimmt der Islam für männ­li­che Trieb­ver­sa­gung (Sub­li­mie­rung kennt er nicht) nicht etwa wie das Abend­land – Stich­wor­te: Odys­seus-My­thos und Berg­pre­digt – die Män­ner, son­dern die Frau­en in die Pflicht, deren über­se­xua­li­sie­ren­de Dese­xua­li­sie­rung dar­aus re­sul­tiert, dem Ehe­mann als Ob­jekt der Trie­b­ab­fuhr zu die­nen und für alle an­de­ren Män­ner se­xu­ell un­sicht­bar zu sein. Is­la­mi­sche Rechts­feind­schaft und Se­xua­li­täts­dis­po­si­tiv ver­dich­ten sich im Kopf­tuch als zu­gleich Herr­schafts­mit­tel, das sich in die Frau­en­kör­per ein­schreibt, und dop­pel­tes Sym­bol: Zei­chen des phal­lo­zen­trisch-pa­tri­ar­cha­len Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­ses selbst und der is­la­mi­sie­ren­den Land­nah­me des öf­fent­li­chen Rau­mes, ag­gres­si­ve Kampf­an­sa­ge an alle noch un­ver­schlei­er­ten Frau­en und sicht­ba­re Eta­blie­rung von Ge­gen­sou­ve­rä­ni­tät.

Es ist per­for­ma­tiv wi­der­sin­nig und daher zum Schei­tern ver­ur­teilt, Mäd­chen und Jun­gen au­to­chtho­ner wie mi­gran­ti­scher Her­kunft zu mo­der­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­gern in einem Raum er­zie­hen zu wol­len, in dem die Ver­hül­lung von Mäd­chen ge­dul­det wird. Eine sol­che Dul­dung ist nicht staat­li­che Neu­tra­li­tät, son­dern ihr Ge­gen­teil: die Par­tei­nah­me gegen jene Mäd­chen und der Ver­rat ihrer Bür­ger­rech­te, somit bür­ger­li­che Selbst­de­mon­ta­ge.

Judaisierung ist Zivilisierung

His­to­risch be­trach­tet sind die Her­aus­bil­dung einer bür­ger­li­chen Ge­sell­schafts­sphä­re und die Ent­ste­hung des phi­lo­so­phi­schen Mo­nis­mus sowie jü­di­schen Mo­no­the­is­mus in der grie­chi­schen An­ti­ke des 5. Jahr­hun­derts vor Chr. Phä­no­me­ne, deren gleich­zei­ti­ges Er­schei­nen alles an­de­re als kon­tin­gent ist. Vie­les spricht dafür, dass Letz­te­res sei­nen ma­te­ri­el­len Grund in Ers­te­rem hat. (6) Die Er­fah­rung des geld­ver­mit­tel­ten Wa­ren­tauschs – dass also alle ein­zel­nen Wa­ren­din­ge, wel­che die Men­schen zu Schöp­fern haben, über ein Prin­zip, ein Eines, sei es Gold, Sil­ber oder Münz­geld, re­gu­liert wer­den und zir­ku­lie­ren – mag die Frage na­he­ge­legt haben, ob nicht ge­wis­ser­ma­ßen ana­log auch alle Na­tur­din­ge in­klu­si­ve des Men­schen auf ein Prin­zip rück­führ­bar sind, dem sie Exis­tenz und in­ne­ren Zu­sam­men­hang ver­dan­ken. In­mit­ten einer Welt po­lyt­he­is­ti­scher My­then kommt Aris­to­te­les so – rein geis­tes­ge­schicht­lich be­trach­tet – plötz­lich und un­ver­mit­telt phi­lo­so­phisch auf den einen selbst un­be­weg­ten Be­we­ger alles Sei­en­den und kom­men die Juden re­li­gi­ös auf den einen Schöp­fer­gott. Noch die spä­te­re christ­li­che Tri­ni­tät ist keine Auf­wei­chung des oder Ver­stoß gegen den Mo­no­the­is­mus, son­dern dürf­te ge­ra­de in ihrer Rät­sel­haf­tig­keit und Mys­tik ad­äqua­ter und plau­si­bler Aus­druck der ge­ahn­ten, aber un­be­grif­fe­nen Drei­heit in der Kon­sti­tu­ti­on des Tausch­werts (also Gott) sein: 1. Wert­abs­trak­ti­on (= Hei­li­ger Geist), 2. Tausch­recht set­zen­de und ho­heit­li­che Kon­trol­le über die Geld­wa­re aus­üben­de Sou­ve­rä­ni­tät (= Vater) und 3. die Münze selbst als sinn­lich ge­wor­de­ne Abs­trak­ti­on (= fleisch­ge­wor­de­ner Sohn, sinn­lich-über­sinn­li­ches Ding).

So­weit der geld­ver­mit­tel­te Äqui­va­len­ten­tausch – die Ver­glei­chung des Un­glei­chen – nicht nur in­di­rekt den Er­fah­rungs­hin­ter­grund Aris­to­te­li­scher Über­le­gun­gen gibt, son­dern als sol­cher den Ge­gen­stand der Ana­ly­se bil­det, re­flek­tiert Aris­to­te­les auf die not­wen­di­ge recht­li­che Gleich­heit der Tau­schen­den als Tau­schen­de, also eine Gleich­heit, die als Ab­se­hung vom ge­sell­schaft­li­chen Rang der Per­so­nen zu­gleich aber auf den Tausch­akt selbst be­schränkt bleibt. Dem­ge­gen­über bil­det das Ju­den­tum eine die un­mit­tel­ba­re Rea­li­tät des Äqui­va­len­ten­tauschs tran­szen­die­ren­de Idee her­aus. So wie das Geld (als Geld­wa­re oder Münze) im aus­wär­ti­gen Han­del im Grun­de ein uni­ver­sa­les Prin­zip der „Völ­ker­ver­stän­di­gung“ – im Un­ter­schied zum Raub­krieg – dar­stellt, fun­giert der jü­di­sche mo­no­the­is­tisch ge­dach­te Gott eben nicht mehr als par­ti­ku­la­rer Stam­mes­gott der Juden, son­dern als Gott aller Men­schen, vor dem und des­sen Ge­setz alle Men­schen prin­zi­pi­ell gleich sind, gleich­be­deu­tend mit der Idee einer un­ge­teil­ten Mensch­heit und der Got­tes­eben­bild­lich­keit jedes ein­zel­nen Men­schen, des­sen Leben darum hei­lig ist. So ver­wei­sen eben auch Ge­setz, Bund, Ver­trags­werk – ver­mit­telt über den Aus­zug der He­brä­er aus Ägyp­ten – immer auch auf einen grund­sätz­li­chen Ein­spruch gegen die In­sti­tu­ti­on der Skla­ve­rei, ja der Herr­schaft des Men­schen über den Men­schen über­haupt.

Un­ab­hän­gig von den kon­kre­ten In­hal­ten des jü­di­schen Ge­set­zes, das in we­sent­li­chen Fra­gen spä­te­re bür­ger­li­che Rechts­grund­sät­ze der Mo­der­ne vor­weg­nimmt, ist das Ver­hält­nis zu Sou­ve­rä­ni­tät, Recht und Ord­nung in eine Theo­rie des Mes­sia­ni­schen ein­ge­las­sen, wo­durch es af­fir­ma­tiv und kri­tisch zu­gleich ist. Das Ge­setz ist ei­ner­seits als sol­ches und in sei­nen In­hal­ten Aus­druck des un­ver­söhn­ten Stan­des der Mensch­heit (mit sich selbst, Gott und der Natur) und ga­ran­tiert, quasi als Kom­pro­miss, das best­mög­li­che Leben ein­ge­denk eben jener all­ge­mei­nen Un­ver­söhnt­heit. Im ver­söhn­ten Stand da­ge­gen wäre das Ge­setz als ver­wirk­lich­tes, sei­nem Geist nach von den Men­schen ver­in­ner­lich­tes, als äu­ße­res und buch­stäb­li­ches über­flüs­sig be­zie­hungs­wei­se auf­ge­ho­ben.

Nach die­sem Mus­ter üb­ri­gens denkt Marx die durch einen re­vo­lu­tio­nä­ren Akt her­zu­stel­len­de Über­gangs­ge­sell­schaft zwi­schen Ka­pi­ta­lis­mus und Kom­mu­nis­mus, in der unter neuen Ei­gen­tums­ver­hält­nis­sen, also auf der Basis ver­ge­sell­schaf­te­ter Pro­duk­ti­ons­mit­tel die bür­ger­li­che Rechts­form zu­nächst ge­nau­so fort­exis­tiert, wie die Pro­duk­te ver­mit­tels des geld­ähn­li­chen Ar­beits­gel­des dis­tri­bu­iert wer­den – bis Rechts-, Wa­ren- und Geld­form voll­ends über­flüs­sig ge­wor­den sind.

Wäh­rend das frühe Ur-Chris­ten­tum mit dem ers­ten Er­schei­nen Jesu die mes­sia­ni­sche Zeit für ge­kom­men hielt und darum Hei­den mis­sio­nier­te und das jü­di­sche Ge­setz in sei­ner sa­kra­men­ta­len Ein­heit auf­ge­weicht, weil für be­reits ver­wirk­licht er­klärt hatte, blieb dem spä­te­ren, ge­sell­schaft­lich sieg­rei­chen Chris­ten­tum an­ge­sichts der Pa­ru­sie­ver­zö­ge­rung – also: des of­fen­sicht­li­chen Aus­blei­bens des zwei­ten Er­schei­nens Jesu – und damit der doch nicht voll­kom­men er­lös­ten Welt nichts an­de­res übrig, als das Ge­setz in Form des Kir­chen­rechts wie­der auf­zu­rich­ten, das his­to­risch ver­mit­telt nun einen Syn­kre­tis­mus aus jü­di­schem und re­pu­bli­ka­nisch-rö­mi­schem Recht dar­stellt. Rein theo­lo­gisch mag es einen, sich dann in an­ti­jü­di­sches Res­sen­ti­ment über­set­zen­den, Min­der­wer­tig­keits­kom­plex ge­gen­über der Ur­sprungs­re­li­gi­on be­güns­ti­gen, aufs zwei­te Er­schei­nen des Mes­sias zu war­ten, statt wie das re­li­giö­se Ori­gi­nal aufs Erste – und damit die Be­deu­tung des Kreu­zes­to­des ab­zu­schwä­chen, gar in der Rechts­not­wen­dig­keit zu pro­fa­ni­sie­ren. Mensch­heits­his­to­risch ist es aber diese theo­lo­gi­sche Kon­struk­ti­on, die den Irr­tum der Na­her­war­tung des Heils kom­pen­siert, mit der das Chris­ten­tum zu­nächst die grie­chi­schen und rö­mi­schen Hei­den, dann die eu­ro­päi­schen Bar­ba­ren ju­da­i­sier­te, d.h. zi­vi­li­sier­te, wor­aus ein Res­sen­ti­ment­frei­heit er­mög­li­chen­des christ­li­ches Selbst­be­wusst­sein ge­gen­über den Juden hätte ge­zo­gen wer­den kön­nen.

Es wird dann je­den­falls zur Iro­nie der spä­te­ren bür­ger­li­chen Re­vo­lu­tio­nen ge­hö­ren, dass sie gegen die Re­li­gi­on, die ka­tho­li­sche Kir­che, den Kle­rus (als Ver­bün­de­te des Adels) ins Werk ge­setzt wur­den und als Sä­ku­la­ri­sie­rung er­schei­nen, wäh­rend sie de facto das bis dahin im Schat­ten des welt­li­chen „eu­ro­pä­isch“-heid­ni­schen Ge­wohn­heits­rechts aus­ge­bil­de­te und prak­ti­zier­te ka­no­ni­sche Kir­chen­recht über­haupt erst prak­tisch als welt­li­ches, bür­ger­li­ches Recht in­thro­ni­sier­ten: die tausch­ver­mit­tel­te Gleich­heit aller Bür­ger vor dem Ge­setz, die Er­set­zung der auf das ius ta­lio­nis zu­rück­ge­hen­den Kör­per­stra­fen durch Be­stra­fung im Sinne des Äqui­va­lenz­prin­zips, die von der Tri­ni­täts­leh­re in­spi­rier­te Ge­wal­ten­tei­lung, Straf­mil­de­rung auf­grund von Ge­ständ­nis (sprich Beich­te) und Reue usw. usf.

Materialistische Kritik und Theologie

Wenn schon den Islam – und nicht erst den Is­la­mis­mus – kri­ti­sie­ren, dann doch bit­te­schön im Sinne der ma­te­ria­lis­ti­schen Re­li­gi­ons­kri­tik von Karl Marx, heißt es re­gel­mä­ßig von links, wobei die Re­fe­renz schon sys­te­ma­tisch auf plum­pen Athe­is­mus her­un­ter­ge­bracht wird. Marx da­ge­gen un­ter­schei­det in einem sei­ner bes­ten Texte – Zur Ju­den­fra­ge – die po­li­ti­sche von der mensch­li­chen Eman­zi­pa­ti­on. Gegen Bruno Bauer, der ver­tritt, dass die Juden sich vom Ju­den­tum eman­zi­pie­ren müss­ten, um voll­wer­ti­ge Staats­bür­ger zu wer­den, de­fi­niert Marx die po­li­ti­sche Eman­zi­pa­ti­on als Eman­zi­pa­ti­on des Staa­tes von der Re­li­gi­on, was die Ab­schaf­fung des Chris­ten­tums als Staats­re­li­gi­on und die De­gra­die­rung jeder Re­li­gi­on zur Pri­vat­schrul­le des ein­zel­nen Bür­gers meint, womit Ju­den­tum und Chris­ten­tum dem bür­ger­li­chen Staat im mehr­fa­chen Wort­sinn gleich-gül­tig wer­den. Die Be­frei­ung des Ein­zel­nen von der Re­li­gi­on als Pri­vat­schrul­le bzw. der Ge­sell­schaft vom Ju­den­tum – eine gern als An­ti­se­mi­tis­mus miss­deu­te­te Wen­dung – ist erst Sache der mensch­li­chen Eman­zi­pa­ti­on.

Ge­ra­de in die­sem Zu­sam­men­hang wäre je­doch klar­zu­stel­len, dass die gern kol­por­tier­te Rede aus der Ein­lei­tung zur Kri­tik der He­gel­schen Rechts­phi­lo­so­phie, wo­nach die „Re­li­gi­ons­kri­tik“ Vor­aus­set­zung aller Kri­tik sei, man sich also von der „Re­li­gi­ons­kri­tik“ zur Kri­tik an Recht, Staat und Ka­pi­tal vor­zu­ar­bei­ten hätte, al­len­falls für die po­li­ti­sche Eman­zi­pa­ti­on zu­trifft; für die mensch­li­che Eman­zi­pa­ti­on gilt eher das Um­ge­kehr­te. Weil die Re­li­gi­on der „Seuf­zer der be­dräng­ten Krea­tur“, der „Trost trost­lo­ser Zu­stän­de“, die Il­lu­si­on über Ver­hält­nis­se, die der Il­lu­si­on be­dür­fen, zielt die Re­li­gi­ons­kri­tik als prak­ti­sche Kri­tik am Ka­pi­tal auf die Her­stel­lung einer Wirk­lich­keit, wel­che die Krea­tur nicht mehr be­drängt, und darum das Seuf­zen aus der Welt schafft. Eine athe­is­ti­sche Re­li­gi­ons­kri­tik da­ge­gen, wel­che die Re­li­gi­on als Blume an der Kette zer­pflückt, auf dass der Mensch seine Ver­skla­vung il­lu­si­ons­frei er­trü­ge, ist nach Marx Men­schen­ver­ach­tung, die mit Eman­zi­pa­ti­on nichts zu tun hat. So denkt auch Ador­no or­tho­dox mar­xis­tisch, wenn er in der Ne­ga­ti­ven Dia­lek­tik ge­wis­ser­ma­ßen einen mes­sia­ni­schen Ma­te­ria­lis­mus be­grün­det: „Mit der Theo­lo­gie kommt [der Ma­te­ria­lis­mus] dort über­ein, wo er am ma­te­ria­lis­tischs­ten ist. Seine Sehn­sucht wäre die Auf­er­ste­hung des Flei­sches […] Flucht­punkt des his­to­ri­schen Ma­te­ria­lis­mus wäre seine ei­ge­ne Auf­he­bung, die Be­frei­ung des Geis­tes vom Pri­mat der ma­te­ri­el­len Be­dürf­nis­se im Stand ihrer Er­fül­lung. Erst dem ge­still­ten leib­haf­ten Drang ver­söhn­te sich der Geist und würde, was er so­lan­ge nur ver­heißt, wie er im Bann der ma­te­ri­el­len Be­din­gun­gen die Be­frie­di­gung der ma­te­ri­el­len Be­dürf­nis­se ver­wei­gert.“ (7)

Ideo­lo­gie­kri­tik, deren Flucht­punkt immer, auch und ge­ra­de dann, wenn er – an­ge­sichts ver­stell­ter Pra­xis – nicht be­kennt­nis­haft vor sich her­ge­tra­gen wird, der Kom­mu­nis­mus dar­stellt, ist also Über­set­zung – wenn man will: sä­ku­la­ri­sie­ren­de Über­set­zung – des jü­disch-christ­li­chen Mes­sia­nis­mus; damit also ein Vor­ge­hen, das in sei­ner Sub­stanz abend­län­di­scher kaum sein könn­te.

Menschenrechte als theologisches Naturrecht

Marx hat sei­ner­zeit die USA ins Spiel ge­bracht als das Land, das die po­li­ti­sche Eman­zi­pa­ti­on des Staa­tes von der Re­li­gi­on am fort­schritt­lichs­ten ver­wirk­licht habe. Dabei wäre etwas näher auf die „Ame­ri­ka­ni­sche Un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung“ ein­zu­ge­hen, weil diese in ihrer Prä­am­bel – und das ist ge­ra­de kein Wi­der­spruch – einen ex­pli­zi­ten theo­lo­gi­schen Bezug ent­hält, der zudem dop­pelt kon­sti­tu­tiv ist: ein­mal, und zwar all­ge­mein, fürs Selbst­ver­ständ­nis bür­ger­li­chen Rechts über­haupt und zum zwei­ten, im Be­son­de­ren, für den Ver­such, den Rechts­bruch des po­li­ti­schen Wi­der­stands gegen das Mut­ter­land mit dem Recht des Mut­ter­lan­des zu le­gi­ti­mie­ren, einem Recht al­ler­dings, vor dem sich das po­si­ti­ve Recht und des­sen Aus­le­gung in bei­den Na­tio­nen selbst zu recht­fer­ti­gen hat. Die ent­schei­den­den ers­ten Sätze der maß­geb­lich von Jef­fer­son ver­fass­ten Grün­dungs­ur­kun­de der USA vom 4. Juli 1776 gehen je­den­falls so:

Wir hal­ten diese Wahr­hei­ten für aus­ge­macht, dass alle Men­schen gleich er­schaf­fen wor­den, dass sie von ihrem Schöp­fer mit ge­wis­sen un­ver­äu­ßer­li­chen Rech­ten be­gabt wor­den sind, wor­un­ter sind Leben, Frei­heit und das Be­stre­ben nach Glück­se­lig­keit. Dass zur Ver­si­che­rung die­ser Rech­te Re­gie­run­gen unter den Men­schen ein­ge­führt wor­den sind, wel­che ihre ge­rech­te Ge­walt von der Ein­wil­li­gung der Re­gier­ten her­lei­ten; dass so­bald eine Re­gie­rungs­form die­sen End­zwe­cken ver­derb­lich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu ver­än­dern oder ab­zu­schaf­fen, und eine neue Re­gie­rung ein­zu­set­zen, die auf sol­che Grund­sät­ze ge­grün­det, und deren Macht und Ge­walt sol­cher­ge­stalt ge­bil­det wird, als ihnen zur Er­hal­tung ihrer Si­cher­heit und Glück­se­lig­keit am schick­lichs­ten zu sein dün­ket.

Das Selbst­re­fle­xi­ons­ni­veau die­ser Set­zun­gen ist be­mer­kens­wert. Her­vor­zu­he­ben sind fol­gen­de Mo­men­te: Ers­tens: Es gibt so etwas wie un­ver­äu­ßer­li­che po­si­ti­ve Grund­rech­te, die allen Men­schen, als darin ein­an­der glei­chen In­di­vi­du­en, zu­kom­men: Leben, Frei­heit, Stre­ben nach Glück. Diese Rech­te stam­men von Gott. Zwei­tens: Da nun aber Gott selbst die ir­di­sche Ver­si­che­rung die­ser Rech­te nicht leis­tet, ist welt­li­che, also staat­li­che Ge­walt zu ihrer Durch­set­zung er­for­der­lich, was aufs Pa­ra­dox be­zie­hungs­wei­se die freund­li­che Il­lu­si­on der his­to­risch spä­ter de­kla­rier­ten „Men­schen­rech­te“ ver­weist – von Marx in der Ju­den­fra­ge, spä­ter pro­mi­nent noch ein­mal von Han­nah Arendt pro­ble­ma­ti­siert –, dass näm­lich die Grund­rech­te ei­ner­seits der Idee nach über bloße Bür­ger­rech­te hin­aus­ge­hen, weil sie für alle Men­schen un­ab­hän­gig von deren Staats­an­ge­hö­rig­keit gel­ten sol­len, an­de­rer­seits aber prak­tisch wert­los sind, wenn es kei­nen Sou­ve­rän gibt, der sich für zu­stän­dig er­klärt, wor­aus folgt: Wer Bür­ger­rech­te hat, braucht keine Men­schen­rech­te. Drit­tens: Zwar soll welt­li­che Ge­walt ihre Le­gi­ti­mi­tät von der Ein­wil­li­gung der Re­gier­ten be­zie­hen, doch hat das Wi­der­stands­recht dabei nichts mit einem for­mal ge­gen­läu­fi­gen Mehr­heits­wil­len be­zie­hungs­wei­se über­haupt Vol­un­ta­ris­mus zu tun, weil ein wi­der­stän­di­ger Volks­wil­le nur dann rechts­kon­form ist, wenn die Re­gie­rung sys­te­ma­tisch gegen die un­ver­äu­ßer­li­chen Grund­rech­te ver­stößt, was in­halts­in­dif­fe­ren­te Mehr­heits­dik­ta­tu­ren gegen Min­der­hei­ten recht­lich aus­schließt und sich darin eben ab­setzt von jedem for­ma­lis­ti­schen De­mo­kra­tie- und Wahl­rechts­ge­fa­sel. Vier­tens: Die Idee, dass po­si­ti­ves Recht selbst noch ein­mal recht­lich in einem hö­he­ren, ihm selbst sowie mensch­li­cher Will­kür tran­szen­den­ten, Recht ge­grün­det sein könn­te, oder zu grün­den wäre, ist recht alt und wurde un­term Be­griff des Na­tur­rechts ver­han­delt. Da sich so­zia­le Rech­te aber schwer­lich aus der Natur als sol­cher ab­lei­ten las­sen, be­zieht sich die theo­lo­gi­sche In­ter­pre­ta­ti­on eben auf Gott, der ja schließ­lich auch die Natur selbst ge­schaf­fen habe.

Man könn­te nun na­tür­lich sagen, dass sich die Bür­ger mit­tels die­ser Kon­struk­ti­on Got­tes be­die­nen und die­sen zu­neh­mend als Platz­hal­ter und Bür­gen „bür­ger­li­cher Ver­nunft“ sä­ku­la­ri­sie­ren. An­de­rer­seits ist der jü­disch-christ­li­che Gott eben dies po­ten­ti­ell immer schon ge­we­sen, die Ver­bür­ger­li­chung der Mensch­heit – wie un­voll­kom­men und brü­chig auch immer – daher eben­so ihre Ju­da­i­sie­rung be­zie­hungs­wei­se Chris­tia­ni­sie­rung.

Religionsfreiheit als protestantische Erfindung

Ent­fal­tet sich in der Aus­bil­dung des ka­no­ni­schen Kir­chen­rechts (schlag­wort­ar­tig aus­ge­drückt) eine his­to­ri­sche Dia­lek­tik von Ka­tho­li­zis­mus, Ju­den­tum und grie­chisch-rö­mi­scher An­ti­ke, so ent­sprin­gen die rechts­phi­lo­so­phi­schen Re­fle­xio­nen mo­der­ner Ver­fas­sungs­staa­ten dem ver­wi­ckel­ten Ver­hält­nis von Ka­tho­li­zis­mus und Pro­tes­tan­tis­mus. Als ver­folg­te Min­der­heit brach­ten vor ka­tho­li­scher Ver­fol­gung Schutz su­chen­de Pro­tes­tan­ten zum einen die grund­sätz­li­che Be­reit­schaft mit, sich dem welt­li­chen Recht sie schüt­zen­der Fürs­ten zu un­ter­wer­fen, was von ihnen ver­lang­te, die im Chris­ten­tum immer schon auch vor­han­de­ne Tren­nung von welt­li­cher Po­li­tik und Re­li­gi­on theo­lo­gisch wei­ter zu un­ter­mau­ern. Zum an­de­ren nei­gen sich von eta­blier­ten In­sti­tu­tio­nen her­aus­lö­sen­de Sek­ten häu­fig zu in­tern ver­gleichs­wei­se „de­mo­kra­ti­schen“ Struk­tu­ren, so dass ins­be­son­de­re pro­tes­tan­ti­sche Grup­pen, wo sie, wie in den USA zu den ers­ten ge­hör­ten, die po­li­ti­sche Ge­mein­we­sen auf­bau­ten, ihre quasi in­ne­re Bür­ger­lich­keit in die Po­li­tik über­tru­gen – ein Zu­sam­men­hang also, der dar­über hin­aus­geht, dass es sich bei den Ver­fas­sern der ame­ri­ka­ni­schen Un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung um gläu­bi­ge Pro­tes­tan­ten han­del­te sowie auch über die von Weber fest­ge­stell­te Kom­pa­ti­bi­li­tät von pro­tes­tan­ti­schen Glau­bens­in­hal­ten und ka­pi­ta­lis­ti­schen Im­pe­ra­ti­ven (Stich­wort: Ar­beits­ethos).

Darum ist ge­ra­de das be­son­de­re, po­si­ti­ve bür­ger­li­che Recht der Re­li­gi­ons­frei­heit – samt der ihm ver­bun­de­nen Idee re­li­giö­ser To­le­ranz – ge­nu­in pro­tes­tan­tisch. Im his­to­risch-po­li­ti­schen Ur­sprung war es ein Schutz­recht vor der ka­tho­li­schen Kir­che, war die To­le­ranz zu­vör­derst eine, die man kon­kur­rie­ren­den pro­tes­tan­ti­schen Sek­ten ge­währ­te. Auch wenn sich Re­li­gi­ons­frei­heit im bür­ger­li­chen Fort­gang immer wei­ter ver­all­ge­mei­ner­te, so hatte der Re­li­gi­onsbe­griff dabei selbst, also das, was über­haupt unter Re­li­gi­on zu ver­ste­hen war, stets eine pro­tes­tan­ti­sche Fär­bung: Re­li­gi­on als haupt­säch­lich Glau­be und in­ne­re Hal­tung, die sich nicht we­sent­lich in äu­ße­ren Hand­lun­gen voll­zieht, die mit bür­ger­li­chem Recht über­haupt kol­li­die­ren könn­ten. Und selbst von Ri­tu­al- und Ze­re­mo­nie-Re­li­gio­nen wie Ka­tho­li­zis­mus und Ju­den­tum konn­te an­ge­nom­men wer­den, dass Prak­ti­ken wie die Beich­te oder das Ein­hal­ten von Spei­se­ge­set­zen keine Her­aus­for­de­run­gen der welt­lich-bür­ger­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät dar­stel­len.

Das heißt: Pri­va­te Glau­bens­frei­heit, öf­fent­li­che Be­kennt­nis­frei­heit und pri­va­te wie öf­fent­li­che Re­li­gi­ons­aus­übungs­frei­heit sind ver­gleichs­wei­se un­pro­ble­ma­tisch in einem Pro­zess, der sich durch alle Wi­der­sprü­che und ge­sell­schaft­li­chen Kämp­fe hin­durch als Ver­bür­ger­li­chung der Re­li­gi­on oder Chris­tia­ni­sie­rung/Ju­da­i­sie­rung der Ge­sell­schaft be­schrei­ben lässt. (8) Darum hat es auch nie eine spe­zi­fisch re­li­gi­ös be­grün­de­te zur Pra­xis trei­ben­de jü­disch-christ­li­che Frau­en­ver­ach­tung ge­ge­ben, die im Namen der Re­li­gi­ons­frei­heit gegen die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft durch­ge­setzt wer­den soll­te. In re­le­van­ten Be­rei­chen war die alte Kir­che nicht pa­tri­ar­cha­ler als die Ge­samt­ge­sell­schaft, um­fass­te die spä­te­re Über­win­dung des Pa­tri­ar­chats mehr oder we­ni­ger träge und rei­bungs­voll letzt­end­lich auch die abend­län­di­schen Re­li­gio­nen.

Daher ist es schon mehr als merk­wür­dig, dass die An­ge­hö­ri­gen des Links­kar­tells dem is­la­mi­schen Pa­tri­ar­cha­lis­mus (der das alte abend­län­di­sche Pa­tri­ar­chat in den Schat­ten stellt), wo sie ihn nicht an­ti­ras­sis­tisch recht­fer­ti­gen, mit den abend­län­di­schen Be­grif­fen und Ideen von Re­li­gi­ons­frei­heit, Sä­ku­la­ris­mus und Lai­zi­tät be­geg­nen, und dass der ein­zi­ge ge­sell­schaft­lich wahr­nehm­ba­re bür­ger­li­che Wi­der­stand gegen die of­fen­kun­di­ge Is­la­mi­sie­rung von rechts for­mu­liert wird, wie auch die bes­ten Reden gegen den An­ti­se­mi­tis­mus sowie den Islam und für Is­ra­el im Deut­schen Bun­des­tag von Ver­tre­tern der AfD ge­hal­ten wer­den. (9) Das sowie in­ter­na­tio­nal der Wahl­er­folg und die Po­li­tik Trumps trei­ben denn auch die Links­an­ti­deut­schen unter den Freun­den Is­ra­els in eine haus­ge­mach­te Iden­ti­täts­kri­se, deren Haupt­sym­pto­me ihr hys­te­ri­sches En­ga­ge­ment gegen den „Rechts­po­pu­lis­mus“ und die de­nun­zia­to­risch ge­mein­te Eti­ket­tie­rung einer un­be­irrt Marx, Freud und Ador­no fol­gen­den und damit abend­län­di­schen Ideo­lo­gie­kri­tik als „rechts­an­ti­deutsch“ sind.

Gegen die­sen Irr­sinn bleibt fest­zu­hal­ten, dass sich ohne de­zi­diert po­si­ti­ven Bezug aufs eben jü­disch-christ­lich kon­no­tier­te Abend­land kein Be­griff von Bür­ger­lich­keit den Selbst­zer­stö­rungs­ten­den­zen der nach­bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ent­ge­gen­set­zen lässt, ge­schwei­ge denn noch etwas ir­gend ver­nünf­tig Kom­mu­nis­ti­sches über­haupt nur in An­sät­zen ge­dacht wer­den könn­te.

Wenn die laut der po­li­ti­schen Klas­se aus der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ori­en­ta­li­sie­rung des Abend­lan­des zu zie­hen­de Lehre darin be­ste­hen soll, ihre Wie­der­ho­lung im Zei­chen des Islam zu för­dern, dann ist es höchs­te Zeit, den Kreuz­zug zu füh­ren, der 1933 ver­säumt wurde.

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Anmerkungen:
PP-Redaktion
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Eigentlich ist PP nach wie vor ein Blog. Dennoch hat sich aufgrund der Größe des Blogs inzwischen eine Gruppe an Mitarbeitern rund um den Blogmacher Dr. David Berger gebildet, die man als eine Art Redaktion von PP bezeichnen kann.

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