Soweit sie nicht Zuflucht in Israel suchen, machen sich europäische Juden zunehmend unsichtbar. Ein polemischer Gastbeitrag von Herwig Schafberg
Am 27. Januar ist internationaler Gedenktag der Opfer des Holocaust. Das Datum hat man ausgewählt, weil an dem Monatstag im Jahre 1945 sowjetische Truppen Auschwitz erreichten, wo unter dem Regime der deutschen Nationalsozialisten Juden sowie andere Menschen systematisch getötet worden waren.
Und am 30. Januar jährt sich der Tag, an dem 1933 Adolf Hitler mit seiner nationalsozialistischen Bewegung die Macht in Deutschland übernommen hatte. Was diese Bewegung auslöste, war der 2. Weltkrieg, der nicht bloß Millionen Tote in den Panzerschlachten und im Bombenhagel mit sich brachte, sondern auch in Vernichtungslagern wie in Auschwitz, die vor allem zur „Endlösung der Judenfrage“ da waren.
Mit dem Sieg der Sowjetunion sowie ihrer westlichen Alliierten im 2. Weltkrieg war Europa vom Terrorregime der deutschen Nationalsozialisten befreit. Von den Juden, die den Völkermord überlebt hatten, wanderten viele aus. Nach den jahrhundertelangen Erfahrungen mit Ausgrenzung sowie Verfolgung hatte ein großer Teil von ihnen spätestens nach dem Holocaust das Vertrauen auf eine sichere Zukunft in Europa endgültig verloren und wollte auf dem Territorium des historischen Israel für die Sicherheit von Juden nach eigenem Recht sorgen.
Diejenigen, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern blieben, konnten sich ebenso wie ihre Kinder relativ lange ihres Lebens sicher sein, zumal da in der Bundesrepublik der Schutz von Juden zur Staatsräson erklärt wurde. Doch mit dem Ende des nationalsozialistischen Terrors war der Antisemitismus nicht ausgerottet, sondern lediglich unterdrückt und fand weiter Gelegenheiten, sich zu äußern: Völlig ungeniert in den Reihen rechtsextremistischer Aktivisten und nicht ganz so unverhohlen in anderen Kreisen, in denen mitunter zu hören ist, daß es sich um einen Juden handele, wenn es um das Geschäftsgebaren eines bestimmten Menschen geht – vor allem wenn diesem etwas vorzuwerfen ist. Daß man es viel häufiger mit Geschäftsleuten zu tun hat, die katholisch, protestantisch oder atheistisch sind, scheint dagegen keiner Hervorhebung wert zu sein.
Bei Untersuchungen wird von zahlreichen Befragten in mehreren europäischen Ländern nicht bloß behauptet, daß im Zusammenhang mit der Ermordung von Millionen Juden in Europa manches übertrieben werde und daß „die Juden“ den Holocaust „für ihre eigenen Zwecke“ ausnützten, wie Experten im Auftrag der EU-Kommission sowie andere Fachleute bei ihren Studien im Laufe der Jahrzehnte immer wieder festgestellt haben, sondern es wird zudem beklagt, daß „die Juden… zu viel Macht in unserem Land“ beziehungsweise zu viel Einfluß in der Wirtschaft, in den Medien und in der Politik hätten.
Das nehmen etliche „den Juden“ übel, als ob diese eine verschworene Gemeinschaft seien, in der alle am gleichen Strang ziehen. Solche Ressentiments kenne ich sowohl aus der Forschung als auch aus eigener Erfahrung, da ich aus einer Familie stamme, in der antisemitische Äußerungen zum „guten Ton“ gehörten.
Antisemitismus ist eine Attitüde der Mißgunst sowie Gehässigkeit…
Wie Chinesen in Südostasien und Inder in Ostafrika schufen Juden in Europa zweifellos ökonomische Strukturen, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterschieden. Solange ihnen als Nichtchristen in vielen Ländern der Besitz von Grund und Boden sowie die Zugehörigkeit zu Handwerkszünften und Gilden verwehrt waren, blieb ihnen in den vorwiegend agrarisch strukturierten Feudalgesellschaften kaum etwas anderes übrig, als in den wenigen Bereichen tätig zu werden, die man ihnen zum Überleben ließ: So etwa im Handels- und Bankensektor; denn insbesondere das Geschäft eines Geldverleihers war eine Tätigkeit, auf die man einerseits angewiesen war, die andererseits jedoch Christen ebenso wenig wie Muslime ausüben sollten und die in den „heiligen“ Schriften der einen wie der anderen als „Wucherei“ verurteilt wurde.
Viele glauben bis heute, Juden hätten einen „merkantilen Charakter“, der in den Eigenheiten ihrer Religion oder gar ihrer „Rasse“ begründet wäre. Und daß puritanischen Protestanten ein stark ausgeprägter Wirtschaftsgeist zugeschrieben wurde, bewog den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Werner Sombart zu der Frage, „ob denn das, was wir Puritanismus nennen, in seinen Wesenszügen nicht eigentlich Judaismus“ wäre. Nach seiner Einschätzung brachten sephardische Juden, die sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien in Westeuropa niederließen, Energie und Fertigkeiten mit, die zum Aufstieg des europäischen Kapitalismus im wesentlichen beitrugen. Zumindest kann man davon ausgehen, daß die im Bank- oder Handelswesen tätigen Juden dank Kapitalakkumulation und Handelserfahrungen in der Anfangsphase der kapitalistischen Entwicklung durchaus begünstigt waren.
Man darf darüber aber nicht vergessen, daß von den Juden insgesamt nur wenige zu den Nutznießern dieser Entwicklung gehörten, während die meisten von ihnen weiter ein kümmerliches Dasein fristeten, und daß die Profiteure in der Mehrheit Nichtjuden waren, von denen manche darauf hinwirkten, daß die jüdische Konkurrenz vertrieben wurde. Hinzu kommt, daß die ökonomische Bedeutung von Geld- sowie Warenhändlern in dem Maße zurückging, in dem die Industrialisierung zunahm, und daß Juden nur eine relativ kleine Zahl an Unternehmern in großen Industriekonzernen stellten.
Solche Tatsachen haben allerdings wenig an dem weit verbreiteten Vorurteil geändert, daß die Juden einen dominierenden Einfluß in der Wirtschaft hätten. Und soweit Fakten nicht zu ihrem Vorurteil passen, erklären viele Antisemiten sie für falsch oder deuten sie um. Manche von ihnen brauchen offensichtlich einen Sündenbock etwa in Gestalt der Rothschilds, denen sie nicht bloß das finanzielle Vermögen mißgönnen, sondern die sie auch noch voller Gehässigkeit als Geldgeber und insofern als Urheber für Kriege und Revolutionen im Verdacht haben, statt sich mit den Ursachen zu beschäftigen.
Antisemitismus ist eine Attitüde der Mißgunst sowie Gehässigkeit von Dummköpfen und Halunken…
Es ist kaum zu bestreiten, daß Juden sich unter dem Druck der erlittenen Ausgrenzungen sowie Verfolgungen im christlichen Abendland mehr als andere Menschen anstrengen mußten, um zu überleben, und daß etliche von ihnen für ihre Mühen belohnt wurden: Aus ihren Reihen gingen nicht bloß ein paar erfolgreiche Händler sowie Bankiers in der Übergansphase vom Feudalismus zum Kapitalismus hervor, sondern darüber hinaus auch relativ viele, die es nach dem Niedergang der feudalen Ständegesellschaft und der Verleihung von Bürgerrechten an Juden mit Erfindungs- sowie Unternehmergeist weit brachten oder mit guter Schulbildung eine akademische Laufbahn einschlugen. Die Aufnahme von Juden an den Universitäten wurde allerdings zahlenmäßig beschränkt, so daß manche von ihnen – wie beispielsweise Heinrich Heine – zum Christentum konvertierten.
Wie der Historiker Götz Aly belegte, zahlten Juden um 1900 beispielsweise in Frankfurt am Main vier Mal so viel Steuern wie Protestanten, sogar acht Mal so viel wie Katholiken und erlangten damals in Berlin zehn Mal häufiger als Christen die Hochschulreife. Wenn russische Juden heutzutage nach Deutschland übersiedeln, kann man erfahrungsgemäß damit rechnen, daß im Unterschied zu anderen Einwanderern die allermeisten von ihnen in kurzer Zeit die deutsche Sprache lernen und vergleichsweise viele ihrer Kinder das Abitur schaffen.
Daß man die Juden zwar von Haus und Hof vertreiben, ihnen aber nicht das nehmen kann, was sie im Kopf mit sich forttragen, gehört zu ihren historischen Erfahrungen, die zur traditionell hohen Wertschätzung der Bildung im Judentum beigetragen haben. Auch und besonders im Staate Israel wußte man von Anfang an, wie wichtig im Überlebenskampf Anstrengungen zur Erzielung von hohen Leistungen auf technologischer und sonstiger Forschungsebene sind, um das ressourcenarme Land in einer feindlichen Umwelt zu entwickeln. Allein die Zahl der Patentanmeldungen sowie wissenschaftlichen Publikationen im kleinen Israel übertrifft die Zahl derer im riesigen islamischen Kulturraum um ein Vielfaches.
Geht es um Publikationen, finden Hitlers „Mein Kampf“, die angeblichen „Protokolle der Weisen von Zion“ sowie weitere judenfeindliche Hetzschriften in arabischen sowie anderen muslimischen Ländern weit mehr Verbreitung als Werke zur wissenschaftsbasierten Bildungssteigerung. Jüdische Tüchtigkeit erzeugt immer noch Mißgunst sowie Gehässigkeit vor allem in Gruppen von Menschen, die materiell sowie intellektuell minderbemittelt sind und sich demgemäß benachteiligt fühlen. Statt sich ein Beispiel an Juden im allgemeinen oder Israelis im besonderen zu nehmen und sich demgemäß anzustrengen, machen im Orient, aber auch im Occident viele Dummköpfe und Halunken von ihrem Verstand kaum Gebrauch ohne Anleitung durch Hetzschriften sowie ebenso hetzerische Predigten, in denen ihnen eingeredet wird, „die Juden“ seien schuld daran, daß es ihnen nicht so gut ginge.
Antisemitismus ist eine Attitüde der Mißgunst sowie Gehässigkeit von Dummköpfen und Halunken gleich welcher Weltanschauung oder Religion…
Antisemitismus äußert sich heute in Deutschland sowie anderen Ländern Europas häufiger und aggressiver denn je seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Obwohl es sich großenteils um Taten von Arabern, Türken sowie anderen Muslimen handelt, werden bei uns judenfeindliche Hetzereien und Übergriffe in Polizeistatistiken der Einfachheit halber zu neunzig Prozent als rechtsextremistische Taten aufgelistet. Das erweckt den Eindruck, die Täter seien vorwiegend deutsche „Nazis“, und wird im „Kampf gegen Rechts“ instrumentalisiert.
Es war nicht zuletzt die in Berlin für bürgerschaftliches Engagement zuständige Staatssekretärin Sawsan Chebli, die sich dementsprechend äußerte. Ich will der Frau zugute halten, daß sie den Kampf gegen Antisemitismus ernst meint, und ich rechne ihr hoch an, daß sie beispielsweise vor geraumer Zeit – damals noch als Referentin für interkulturelle Angelegenheiten – eine Putzaktion initiierte, bei der junge Juden, Christen sowie Muslime gemeinsam Stolpersteine putzten, die zum Gedenken ermordeter Juden ins Straßenpflaster eingelassen waren. Von einer Staatssekretärin erwarte ich freilich, daß sie keine verzerrten Feindbilder hat, sondern judenfeindliche Täter gruppenspezifisch angemessen zuordnen kann und auch demgemäß benennen will.
Für den Historiker Michael Wolffsohn sind es drei Gruppen, die in unseren Breitengraden heute antisemitisch tätig sind: Rechts-, Links- und Moslemextremisten. „Der alte rechte Antisemitismus ist nach 1945 in die Defensive geraten“, meint Wolffsohn. Im Unterschied zum Antisemitismus der altdeutschen Nationalsozialisten äußere sich die Judenfeindlichkeit von Rechtsextremisten nur noch „diskriminatorisch“ und nicht mehr „liquidatorisch“: Juden würden zwar ausgegrenzt, beschimpft und zum Sündenbock erklärt, aber nicht umgebracht. Leute wie Björn Höcke fände er zwar „unsympathisch“, die Mitglieder der AfD seien jedoch „nicht durchgehend Antisemiten“ und man könne nicht „überall“ in rechtsgerichteten Bewegungen „diskriminatorischen Antisemitismus“ feststellen.
Manch eine Bewegung scheint sowohl nach rechts als auch nach links auszuschlagen. In Berlin beispielsweise gibt es den „Jugendwiderstand“, der aus dem Nachwuchs von Einheimischen sowie Eingewanderten gebildet wird. Diese Gruppe läßt verlautbaren, eine „revolutionäre Jugendorganisation“ zu sein, „die den Maoismus in Deutschland zu den Volksmassen trägt“, und geht mitunter aggressiv gegen Andersdenkende vor – auch gegen Antirassisten. So stürmten Aktivisten der Bewegung auf einer Demonstration am 1. Mai den feministischen Block und entrissen Teilnehmern ein Plakat, auf dem zu lesen war: „Jugend gegen Antisemitismus und Rassismus!“ Dagegen wäre jener junge Syrer, der im April letzten Jahres mit seiner Gürtelschnalle auf einen vermeintlich jüdischen Kippaträger einschlug, „einer von uns“, wie sie wissen ließen. Ein Genosse fand sogar, daß Schläge nicht ausreichten; man müßte alle Israelanhänger erschießen. Genau das meint ihr Graffito: „9 mm für Zionisten“.
Mitglieder des „Jugendwiderstand“ halten anscheinend ihren Antisemitismus, den man im Sinne Wolffsohns „liquidatorisch“ nennen kann, für Antizionismus und kündigten an, daß sie bald der Volksfront für die Befreiung Palästinas „Gewehr an Gewehr“ beistehen würden. Bisher haben sie sich mit der Teilnahme an Demonstrationen wie am 1. Mai oder am jährlichen Al-Quds-Marsch begnügt, der von Islamisten initiiert wird und Hetzereien mit sich bringt, die in der Statistik Rechtsextremisten zugeordnet werden. Sie waren ferner dabei, als Demonstranten im Dezember 2017 am Pariser Platz in Berlin Israelflaggen verbrannten und riefen: „Juden, Mohammeds Armee kehrt zurück“, so daß der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland forderte, Israel müßte auch am Brandenburger Tor verteidigt werden. An seiner Forderung ist einzig zu bedauern, daß die politisch Verantwortlichen im Bund sowie im Land Berlin sich diese nicht zu eigen machten – schon gar nicht die Bundeskanzlerin, obwohl sie 2008 vor dem israelischen Parlament verkündet hatte, daß „die historische Verantwortung Deutschlands“ für Juden „Teil der Staatsräson“ ihres Landes wäre und die Sicherheit Israels gewährleistet sein müßte.
Antisemitismus ist eine Attitüde der Mißgunst sowie Gehässigkeit von Dummköpfen und Halunken gleich welcher Weltanschauung oder Religion, die man so weit wie möglich zur Räson bringen müßte.
Der deutscharabische Politologe Bassam Tibi unterscheidet ähnlich wie der deutschjüdische Historiker Michael Wolffsohn zwischen dem alten Antisemitismus deutscher Nationalsozialisten, dem neueren europäischer Linker und dem, der im islamischen Kulturkreis einschließlich der muslimisch sozialisierten Einwanderermilieus unserer Städte gedeiht. Er vertritt die These, daß sich der Antisemitismus linker Europäer sowie derjenige orientalischer Islamisten und Nationalisten als Antizionismus tarne, und er hat den Verdacht, viele Deutsche vor allem in den Reihen Linker würden sich selbst gerne dadurch Absolution von der deutschen Schuld am Holocaust erteilen, daß sie Juden die Schuld am Los der Palästinenser geben und sich mit Letzteren solidarisieren.
Daß deutsche „Antifaschisten“ ebenso wenig wie palästinensische „Befreiungskämpfer“ davor zurückschrecken, im Kampf gegen Zionismus auf die Ermordung von Juden hinzuwirken, zeigten sie 1976 mit ihrer Beteiligung an einer Flugzeugentführung durch Palästinenser nach Entebbe, wo ein Deutscher namens Böse (!) jüdische von anderen Reisenden für eine liquidatorische Sonderbehandlung à la Auschwitz selektierte, und sie hatten es zuvor mit einem Bombenanschlag 1969 auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin versucht, der jedoch mißlang.
Während in der Bundesrepublik Deutschland bisher glücklicherweise nicht reihenweise Menschen deswegen ermordet worden sind, weil sie Juden waren, sind in Frankreich seit 2003 etliche Menschen jüdischer Provenienz systematisch ermordet worden. In allen Fällen stammten die Mörder aus dem muslimischen Einwanderermilieu französischer Städte. Wie in Entebbe gehörte letztes Jahr auch in Paris zu den Mordopfern eine alte Frau, die den Holocaust nur mit großer Mühe überlebt hatte.
In zahlreichen Klassenzimmern des Landes stieße die Behandlung des Holocaust im Unterricht auf Ablehnung von Schülern aus den genannten Milieus, erzählte die französische Philosophin Elisabeth Badinter in einem Gespräch mit der deutschen Journalistin Alice Schwarzer, die bei der Gelegenheit auf die Gewalt von Schülern aus solchen Milieus an deutschen Schulen hinwies. Und der Gewalt wären nicht nur, aber auch jüdische Schüler schutzlos ausgeliefert, weil Schulbehörden sowie Schulleitungen von derartigen Konflikten nichts wissen wollten.
Doch seitdem sich bis zu den politisch Verantwortlichen im Bund sowie in den Ländern herumgesprochen hat, daß längst nicht alle antisemitischen Pöbeleien und Übergriffe in dem Sinne rechtsextremistisch sind, wie sie sich das vorgestellt hatten, wolle beispielsweise die Berliner Senatsverwaltung für Bildung die Lehrer zur Bekämpfung „von antisemitischem Mobbing“ an den Schulen motivieren, sagte die Staatssekretärin Sawsan Chebli in einem Interview, in dem sie zugab, daß Antisemitismus in Moslemkreisen ebenfalls weit verbreitet wäre. Was auch in Berlin irgendwann zustande kommen mag, kommt jedenfalls zu spät für einen Jungen wie Liam Rückert, der als Jude an seiner Schule Mobbingopfer geworden war, sie deshalb letztes Jahr verließ, aber lieber nicht auf eine andere Schule in Berlin ging, sondern auf ein Internat in Israel, wo jüdische Menschen in größerer Sicherheit als bei uns leben und lernen können.
Nach all den Erfahrungen, die jüdische Menschen wie Liam Rückert auf dem Schulhof oder auch auf der Straße gemacht haben, wollen immer mehr Juden aus Deutschland sowie anderen europäischen Ländern Zuflucht in Israel finden oder zumindest in der Öffentlichkeit nicht mehr als solche erkennbar sein: Viele verzichten darauf, eine Kippa zu tragen oder an jüdischen Veranstaltungen teilzunehmen, weil sie Angst haben, von Antisemiten überfallen zu werden wie der junge Kippaträger, der vor einigen Tagen – nicht etwa in Neukölln oder Wedding, sondern im „gutbürgerlichen“ Berliner Stadtteil Zehlendorf – beschimpft und mit einem Stein beworfen wurde. Während Annegret Kramp-Karrenbauer kürzlich noch als Generalsekretärin der CDU auf der Suche nach Gefahrenquellen für Juden über das Spektrum der „alten Nazis, Neonazis und Rechtspopulisten“ nicht hinaus blicken mochte, kam eine europaweite Befragung von Juden mit einschlägigen Erfahrungen zu dem Ergebnis, daß insgesamt 13 Prozent von ihnen (in Deutschland 20) von Rechtsextremisten, 21 Prozent (in Deutschland 16) von Linksradikalen und ein Drittel (in Deutschland 41 Prozent) von Muslimen angegriffen worden wären.
Da solche Angaben keine verläßliche Quelle sind, verzichte ich auf die Anwendung mathematischer Regeln zur Hochrechnung des Anteils judenfeindlicher Muslime an der Gesamtbevölkerung, verlasse mich jedoch auf die Forschungsergebnisse von Antisemitismus-Experten wie des Historikers Günther Jekeli, der bei seinen Studien herausfand, daß in Europa lebende Muslime das Judentum bis zu achtmal negativer beurteilen als Nichtmuslime. Ihre Einstellung ist nicht allein genuin islamisch, sondern geht auch zurück auf Vorurteile über den bei weitem überschätzten Reichtum und Einfluß von Juden, die der Mißgunst sowie Gehässigkeit von antisemitischen Dummköpfen und Halunken seit langem Nahrung geben. Hinzu kommt, daß Türken, Araber und andere Muslime weit häufiger als andere die europäischen Juden in der Mitverantwortung für die Politik des Staates Israel sehen, den es ihrer Meinung nach ebenso wenig geben dürfte wie Einwanderung von Juden in das Territorium, auf dem dieser Staat existiert. Daß längst nicht alle, aber viele Angehörige der muslimisch sozialisierten Milieus in Europa mit ihren judenfeindlichen Aggressionen die von ihnen abgelehnte Wanderungsbewegung nach Israel befördern und somit kontraproduktiv wirken, ist eine Einsicht in Zusammenhänge, die ihnen wohl kaum zu vermitteln ist.
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