Sonntag, 22. Dezember 2024

Stille in Rom – Gedenkmarsch für Francesco, Franco und Stefano

…oder warum nicht nur die Linken mal wieder Pasolini lesen sollten. Ein Gastbeitrag von Dr. Wulf D. Wagner

In dieser Woche zeigte sich erneut heuchlerisches, auch „menschenverachtendes“ Getwitter sogar von Teilen des Establishments beim Foto des blutüberströmten Kopfes eines Politikers. Als Historiker frage ich mich mehr und mehr: Sind wir in einem Staat gelandet, unbemerkt, in dem (politische) Gewalt nicht nur hingenommen sondern gefördert wird? Da waren wir schon mehrmals, nicht nur in Deutschland, nicht nur in einer Richtung. In jedem Januar erinnert die Linke ihrer beiden berühmtesten Toten und kann mit medialer Anteilnahme rechnen. Die italienische Rechte tut dies auch. Hier meine Eindrücke.

Heute muss kein Ticket gelöst werden, die kleinen Absperrgitter der Metro öffnen sich für Hunderte vor allem junger Männer. Wer nicht dazugehört, muss sein Ticket vorzeigen, – das Metropersonal scheint diese von jenen unterscheiden zu können. Treppen und Tunnel vom Metro-Eingang bis zum Bahnsteig sind gedrängt überfüllt, Zug für Zug ebenfalls. Da wo man ankommt, im Stadtviertel Tuscolano, etwas südwestlich des historischen Zentrum Roms, wird der Gedenkmarsch geordnet, in Sechserreihen geht es zu Fuß langsam weiter durch die Straßen. Einzelne Polizisten zeigen sich nur beim Überqueren größerer Kreuzungen, ansonsten haben sie nichts zu tun.

Die Jungs in den roten Westen mit dem Symbol einer aus Pfeilspitzen geformten Schildkröte ordnen vor dem Gedenkort die Massen, es wird eng, es wird abgezählt, vordrängeln unmöglich. Eine junge Frau, die mein fragendes Gesicht sieht, flüstert mir zu: „Auch das ist CasaPound – Organisation, Ordnung!“ Wer eine Mütze an diesem eisigen Abend trägt, wird ermahnt, sie abzunehmen.

Drei junge rechte Aktivisten von Linksradikalen und einem Carabinieri erschossen

Massaker von Acca Larentia – ein deutscher Wikipedia-Eintrag fehlt, wie so oft, wenn es um Italien geht. Am 7. Januar 1978 wurden vor dem Sitz des Movimento Sociale Italiano, der republikanischen Nachfolgepartei der faschistischen, in der Via Acca Larentia drei junge rechte Aktivisten von Linksradikalen und einem Carabinieri erschossen. Jahr für Jahr gedenkt die Rechte Italiens Franco Bigonzettis (20, Student), Francesco Ciavattas (18, Gymnasiast) und Stefano Recchionis (19, angehender Soldat); Kritiker äußern, CasaPound habe sich in den letzten Jahren die Märtyrer angeeignet. Zum vierzigsten Jahrestag 2018 folgten über Sechstausend dem Marsch, ganz so viele waren es an diesem 7. Januar 2019 nicht.

Stille. Für wie lange steht man hier in der Kälte? Es kommt mir vor wie Stunden. Schweigend die meisten. Mittlerweile ist es dunkel zwischen den hohen Häuserblocks. Blick auf den erleuchteten Eingang. Blumen und Kränze liegen unter der Gedenktafel rechts davon; in Deutschland wäre diese schon längst mehrfach beschmutzt oder zerstört worden, wie die Krieger­denkmäler in unserem Land, in welchem die Linke vergessen hat, dass auch Sozialisten gefallen sind oder dass auch sie ihrer Toten wie Rosa Luxemburg würdig gedenken will.[1]

Wie bin ich eigentlich hierhin geraten?

Welch eigenartig Atmosphäre, vor allem, wenn man als Fremder abseits steht. Ich grüble. Wie bin ich eigentlich hierhin geraten? Ich war schon immer neugierig. Ich wollte schon immer verstehen, auch was wir nicht hinterfragen sollen. Das ist die Grundvoraussetzung eines jeden Historikers.[2]

Eine Signora wird ermahnt, ihr Smartphone endlich auszuschalten. Fotografiert werden soll jetzt nicht mehr, Einkehr zum Gedenken. Ein plötzliches „Attenti!“ dröhnt durch die Straßenflucht. Die Menge nimmt Spannung an. Das dreimalige „Per tutti i camerati caduti!“ wird mit dem Ruf „Presente!“ beantwortet und – einzig bei dieser Ehrung erlaubt – dem römischen Gruß.

Danach hat man die Möglichkeit in das kleine kahle Lokal einzutreten, es darf jetzt bis zur Tür gedrängelt werden. Dort sorgen Türsteher dafür, dass es nicht zu voll im Innern wird. Im niedrigen Keller liegt der Gedenkraum für die drei ermordeten Jungs. „No selfies, per favore!“ Die großen Plakate zu „Acca Larentia“, mit der Flamme vor schwarzem Grund, die man an Hauswänden der Stadt kleben sah, können gegen eine Spende mitgenommen werden.

Auf dem Rückweg öffnen sich wieder die Metrotüren gratis. Es geht zurück ins Viertel Esquilino, wo die Santa Maria Maggiore aufragt und CasaPound ihr besetztes Haus hält. Der Abend geht in kleinen Kreisen in den beiden Bars der CasaPound weiter: Vor dem hellen Café „Carré Monti“ steht man zum Gespräch lange auf dem Gehweg. Für die Gäste aus Deutschland ein erstaunliches Bild: Keine Polizei, keine aggressive Antifa.

Respekt auch gegenüber den Opfern des politischen Gegners

Im Unterschied zu unserem Land, in dem mittlerweile jede Demonstration einer vermeintlichen oder tatsächlichen Rechten – sei es selbst ein Frauenmarsch in Berlin – nur noch unter einem Großaufgebot der Polizei als Schutz gegen die Antifa stattfinden kann, ja zumeist trotz Polizei behindert wird, zeigt sich hier in Rom der Respekt auch gegenüber den Opfern des politischen Gegners.[3] Nicht die Frage „Wohin bin ich gekommen?“, sondern die „Wohin ist mein Land geraten?“ stellt sich mir in Italien mehr und mehr.

Schließlich zieht man noch weiter in die gemütliche, einem englischen Pub ähnliche Bar „Cutty Sark“. Hier arbeiten die Ragazzi an der Bar umsonst, aus Freude; Trinkgeld geht in ein Vorratsglas für in Not – oder ins Gefängnis – geratene Kameraden und ihre Familie. Die Stimmung ist ausgelassen, fröhlich, freundlich, es wird diskutiert, die verschiedenen Gruppen aus ganz Italien tauschen sich aus, auch gesungen wird.

Spätestens an dieser Stelle wird der Leser in Deutschland seine Stirne runzeln, sich fragen warum und ob überhaupt hierüber berichtet werden muss, ja „darf“? Meine Antwort ist „Ja!“, denn wie Alain de Benoist es vor kurzem in einem Interview in Italien äußerte: das Land ist heute ein „Laboratorium des Populismus“.[4]

Italien ist auch das Land Machiavellis

Allerspätestens seit der Berichterstattung zur Regierungsbildung in Italien 2018 sollte jeder, der Achtung vor Italien verspürt, sehen und wissen, dass die deutsche sogenannte Qualitätspresse weitgehend nichts mehr zu unserem Sehnsuchtsland zu sagen hat. Man wollte es als „ein Land sympatischer Pizzabäcker“, wie der junge Denker von CasaPound Adriano Scianca schrieb, als „ein sonniges Ferienparadies der gesamten Oligarchie“ mit langen Stränden, hübschen Altstädten und lebenslustiger Folklore, nicht aber als politischen Teilnehmer.

Doch Italien ist auch das Land Machiavellis, und es lohnt sich – wie ich schon an anderer Stelle auf Philosophia-perennis darstellte und wozu Weiteres folgen mag –, die verschiedenen jungen Bewegungen und Denker dieses für die europäische Kulturentwicklung bedeutendsten Landes neu zur Kenntnis und ernst zu nehmen.

Nicht nur die beiden Regierungsparteien, Movimento 5 stelle und Lega, bilden sich aus einer jungen Generation, auch viele andere politische Gruppierungen, und so besonders CasaPound. Ohne an dieser Stelle genauer auf die Bewegung und ihr Verständnis eines „Faschismus für das 3. Jahrtausend“ einzugehen:[5]

CasaPound erreichte bei der Wahl in Italien im März 2018 gerade einmal 0,9 %, doch die Bewegung wächst. Monat für Monat kann sie neue Sitze eröffnen, allein im Dezember 2018 auf Sizilien in Siracusa und Noto. Karg eingerichtete Orte für Diskussionen und Vorträge, für die Sozialarbeit, die die Partei leistet, für den Aufbau kleiner Bibliotheken, alles selbstfinanziert mit großem Idealismus; staatliche Unterstützung, wie sie die Antifa und manch zweifelhafte Stiftung in Deutschland erhalten, würde man nicht im Traum annehmen.

„Il primato nazionale“ und „Acca Larentia“

Es ist ein ernster Idealismus, den man sofort spürt, etwa in der jungen, ihr nahe stehenden Monatszeitschrift „Il primato nazionale“ oder eben auch bei „Acca Larentia“. Der Abend lässt mich mit unbestimmten Eindrücken und Gedanken zurück. Es beeindruckt zu sehen, wer da nebeneinander steht. Neben dem Geschäftsmann, elegant gekleidet, wie in Italien üblich, oder dem zarten Studenten steht der Handwerker oder tätowierte Türsteher-Typ; jener, der gut verdient, fachsimpelt mit dem Arbeitslosen; neben der Aktivistin sitzt der schweigsame Bücherwurm, – im „Cutty“ komme ich mit einem Zahnarzt, einem Architekten und einer um die Zukunft ihrer Kinder besorgten Mutter ins Gespräch.

In diesen Gesprächen spürt man jugendliche Hoffnung. Speranza, die der Mann in meinem Sechsbettzimmer im Hostel nicht mehr hat, trotz neuer Regierung: Der gebildete Sizilianer hat in Rom etwas Arbeit gefunden, wenigstens mal für sechs Monate, um die Familie in der Ferne zu unterhalten; vielleicht sieht er sie in zwei Wochen mal kurz, vielleicht auch nicht. Nicht das erste Mal höre ich solche Geschichten, seit ich in Sizilien lebe.

Die Freiheit, die CasaPound meint, ist die Freiheit Pasolinis

Der Abend fordert heraus. „CasaPound ist Freiheit“, meint eine Frau. Bewusst, dass schon das Zitat dieser Aussage als Verharmlosung etwa des „Faschismus“ ausgelegt werden kann, nehme ich wieder einmal die Texte von Pier Paolo Pasolini [6] in die Hand. Die Freiheit, die diese Frau und CasaPound meinen, ist die Freiheit Pasolinis, eine jugendlich-rebellische Freiheit, ist eine suchende Freiheit, mit all ihren Mängeln, gar Verfehlungen. Etwas drängt zum Verstehen-wollen. Was geschieht mit und in Europa?

Vielleicht hat diesen jugendlichen Drang zu etwas anderem, auch zum „Faschismus“, keiner besser beschrieben als Pasolini. Waren wir in Berlin, aus dessen aggressiver und bedrückender werdenden Atmosphäre ich nach Rom komme, nicht auch einmal voll Aufbruchstimmung?

Wie viele Ideen hatten wir! Doch schon lange will man in Deutschland keine jugendlichen Rebellen mehr, alles soll gedankenlos konsumieren im besten aller Länder und der besten aller Zeiten. Und doch, das Europa, das in den letzten Jahrzehnten geschaffen wurde, ist alles andere als schön, gerecht, demokratisch oder perfekt, wie man es uns vorgauckelt. Es wird auch bildlich immer häßlicher, da reicht ein Gang durch unsere Städte.

…dass der Faschismus in Form des Antifaschismus wiederkehrt

Wehren wir uns dagegen, dass Jugend nicht mehr rebellieren, selbst denken und sich verirren darf. Eine Jugend, die nur noch konsumieren soll und will, die sich nicht mehr bildet, nicht mehr hinterfragt und liest, ist keine.[7] Mit einer Jugend, die in großen Lettern ihre Idole in ihren Hauseingang schreibt, darunter Hölderlin, Pirandello, Tolkien, Orwell, Wagner, Nietzsche oder Saint Exupery, lohnt die ernsthafte Auseinandersetzung.

Um dies zu verstehen, empfehle ich, wieder Pasolini zu lesen. Nicht nur er sagte, dass der Faschismus in Form des Antifaschismus wiederkehrt.[8]

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[1] Hierzu etwa die Reportage von Martina Meckelein: Die Ewiggestrigen werden immer jünger – Gedenkdemonstration zu Ehren der Kommunistenführer Luxemburg und Liebknecht in Berlin, in: Junge Freiheit, 19.1.2018 (online abrufbar).

[2] Dazu empfehlenswert das seit 1975 in mehreren Auflagen und auch in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Renzo De Felice: Intervista sul fascismo (dt. Der Faschismus. Ein Interview.).

[3] Vgl. Adriano Scianca: Quell’inaccettabile copertina dell’Espresso che sputa sul ricorda die caduti, in: Il primato nazionale (online-Ausgabe), 12.1.2019.

[4] Vgl. Valerio Benedetti: De Benoist: „Italia laboratorio del populismo. Ma governo Lega–M5S non durerà“, in: Il primato nazionale (online-Ausgabe), 7.1.2019.

[5] Hierzu genügt zunächst der Hinweis auf De Felice (Anm. 2) wie Pasolini (Anm. 6), die beide ebenso wie CasaPound den Faschismus als abgeschlossenes Zeitphänomen betrachten; ein heutiger „Faschismus“ ist also etwas anderes.

[6] Vielleicht findet sich ein deutscher Verlag, der die im September 2018 neu herausgegebenen Schriften unter dem Thema „Il fascismo degli antifascisti“ in Übersetzung herausbringt (Verlag Garzanti, Milano).

[7] Hierzu der hervorragende Text von Heino Bosselmann: „Anständiger Punk“ – ein Dokument, in: Sezession (online-Ausgabe), 14.1.2019.

[8] Vgl. auch Anm. 2 (De Felice).

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Nachtrag: David Berger und die CasaPound

PS: „Irgendwer, der vermutlich nicht einmal Italienisch kann, hat David Berger Nähe zu CasaPound vorgeworfen, weil er ein Interview in „Il primato nazionale“ gab.
Dazu:

1. „Il primato nazionale“ entwickelt sich zu einer ernst genommenen Zeitschrift in Italien, in der u.a. auch der angesehene junge Philosoph Diego Fusaro schreibt.
2. David Berger ist zu einer der wichtigsten Stimme jener Homosexuellen geworden, die nichts mit dem Gender-Gedöns anfangen können, da ist es nur normal, dass er eine Interviewanfrage annimmt, denn:
3. Jeder freie Denker und Historiker darf schreiben, wo er will. Wenn die linke TAZ, das „Neue Deutschland“ oder die neurechte Sezession oder Tumult mich fragen, schreibe ich dort. Was ein anderer drei Seiten zuvor oder zwei nach mir schreibt, hat mit mir nichts zu tun. Es ist unser Recht unsere Gedanken und unser Wissen zu verbreiten!

Wer Freiheit der Forschung, Freiheit des Sich-Informierens und Nachdenkens nicht begriffen hat, für den war mein Bericht auch gedacht.“

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Zum Autor: Dr. Wulf Dietrich Wagner (* 10. Mai 1969 in Mannheim) ist ein deutscher Architekturhistoriker. Er publizierte vor allem zur Bau- und Kulturgeschichte Ostpreußens. Besondere Beachtung fanden seine Veröffentlichungen zur Geschichte des Königsberger Schlosses (Wikipedia).

(Foto: Wulf D. Wagner links außen, neben Vera Lengsfeld und Adam Baron von Syburg auf der Geburtstagsfeier von PP)

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PP-Redaktion
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