Freitag, 26. April 2024

18. Kapitel – Taxi Altai

Marko WildI

Tags darauf waren wir beide versucht, noch ein wenig zu bleiben. Zu schön, dieser Ort. Doch beim Gedanken daran erfasste uns dieselbe Unruhe: wir mussten weiter. Wo immer unser Ziel auch sein mochte – hier war es noch nicht. Sascha hatte außer den Seen noch zwei weitere Naturereignisse recherchiert, die sie erreichen wollte: einen Wasserfall, von denen es im Altai einige beeindruckende geben sollte, und die Belucha, den höchsten Gipfel des Altai, 4506 Meter hoch und von einem strahlend-weißen Gletscher bedeckt. Ich war zwar in keinster Weise – absichtlich nicht – über hiesige Sehenswürdigkeiten informiert und wusste nichts von Wasserfällen, Klöstern, Thermalbädern, Skigebieten oder einsamen Seen. Doch diesen Berg kannte ich. Und er reizte mich ebenfalls. Allerdings war zu befürchten, dass ich auch ihn mir aus dem Kopf schlagen müsste. Denn laut Karte konnte man – wieder nur über eine unbefestigte Straße – bloß bis auf 40 Kilometer an die Belucha heranfahren. Danach war Trekking angesagt. Ich würde aber den Bus gewiss nicht tagelang irgendwo herumstehen lassen. Dennoch nahm ich mir vor, Sascha wenigstens einen ihrer Wünsche erfüllen zu helfen. Und dabei gleichzeitig meinem eigenen Ziel näher zu kommen: der mongolischen Grenze. Bis dahin waren es noch knapp 500 Kilometer.

Beim Frühstück erstaunte mich mein Hefezopf. Schon sieben oder acht Mal hatte ich davon gegessen, und es war immer noch etwas da. Eine sich scheinbar wundersam immer wieder erneuernde Speise. Wie in einem Märchen. Wir brachen in aller Ruhe auf, fuhren die 15 Kilometer nach Nordwesten zurück, an den Abzweig zur M52, und dann auf der anderen Seite des Gebirgskammes nach Süden. Wenig später, in einem der nächsten Dörfer, näherten wir uns einem Radfahrer, der in unserer Richtung unterwegs war. Der Sekundencheck ergab: perfekt sitzende Funktionskleidung +++ dunkle Haare, frischer, sauberer Faconschnitt +++ zielstrebig-flotte Fahrweise +++ nach vorn gebeugt, um den Windwiderstand zu minimieren +++ Ortlieb Seitentaschen im Signalton Orange. Ich wollte einen Bären fressen, wenn das nicht wie ein Deutscher aussah. Nach dem Überholen behielt ich ihn im Rückspiegel im Auge. Mal sehen, ob ihm mein Kennzeichen etwas sagte. Bingo: wie Forrest Gump, der, an Deck stehend, seinen ehemaligen Lieutenant erblickte, nahm er eine Hand vom Lenker und winkte freudig. Zu Sascha „Ich hab’s doch gewusst, er ist Deutscher“ rufend, fuhr ich rechts ran.

„Was machst denn du hier“, begrüßte ich den Unbekannten grinsend. „Halli-Hallo“, japste er fröhlich. Schlagartig war ich nicht mehr sechseinhalbtausend Kilometer weit von zu Hause weg, sondern befand mich in einer raum- und zeitlosen Blase. Ein meine Sprache sprechender Mensch. Hier, irgendwo auf dem Planeten! Ich fühlte mich ihm sofort sehr zugetan. Er hieß Adrian, trug eine Brille und war höchstens Mitte Zwanzig. Schon nach wenigen Worten kam er zum Punkt: ob wir ihn nicht ein paar Kilometer mitnehmen könnten. Wenigstens bis über die Passhöhen. Er wolle nach Ulaan-Bator, wo er unbedingt ein Flugzeug erreichen müsse. Nach seinem Zeitplan wäre er leider etwa zwei Tage im Verzug und sei darum etwas im Stress. Die Bitte wurde so nett und arglos vorgetragen, dass ich keine Sekunde daran dachte, sie ihm auszuschlagen. Und dennoch störte mich etwas. Ich wusste nur noch nicht genau, was. Im Bus etwas Platz geschafft, sein Rad neben meinem verstaut, Gepäck dazu, ihn auf die Ausrüstungskiste verfrachtet und los ging es. Ich scherzte, ich könne demnächst ein Unternehmen aufmachen: Taxi Altai

Adrian erzählte, dass er aus Aachen stamme, gerade Urlaub mache und die letzte Nacht bei einem Literaturwissenschaftler verbracht habe, der gar nicht weit weg von hier lebe. Dieser spräche Deutsch, wäre ihm zufällig beim Einkaufen begegnet und hätte ihn sogleich in sein Haus eingeladen. Später gab er mir dessen Mail-Adresse, weil der Mann sich angeblich immer über Gäste freue. Adrian machte gerade Urlaub. Beruflich arbeitete er als Fotograf für ein Büro, das Webseiten gestaltete. Sein Chef hatte einen Auftrag in den Vereinigten Staaten und ihn dazu beordert. Adrian meinte, er hätte es zu umständlich gefunden, erst nach Deutschland zurück zu fliegen, um dann von dort aus mit seinem Chef gemeinsam wieder um den halben Erdball bis in die Staaten zu düsen. Lieber wolle er von Ulaan-Bator aus nach Amerika fliegen. Es hätte ein wenig gebraucht, seinen Chef davon zu überzeugen, aber letztlich sei es ihm gelungen. Ich brauchte gar nicht mehr zu fragen. Adrian alles von selbst. Er erzählte und erzählte. Sascha hingegen, seit Adrian zugestiegen war, vermied es zu sprechen. Ich wollte sie irgendwie einbinden und übersetzte ihr Teile unserer Unterhaltung. Sie reagierte höflich auf Adrian, der sich nun auch ihr vorstellte, blieb aber wortkarg.

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Ich fragte Adrian, wie weit er denn konkret mitfahren wolle. Och, flötete er, wenn das ginge, vielleicht so zwei-, dreihundert Kilometer. Soweit, dass er vielleicht ein paar Tage gut machen würde. Na das waren ja interessante Neuigkeiten. Ich war ja gerne behilflich. Dennoch . . . da war es wieder, was mir nicht gefiel, was ich bislang aber nicht in Worte fassen konnte: Adrian schien mir überhaupt nicht in Not. Auch sein Flug von Ulaan-Bator ging erst irgendwann Anfang August. Gut, bis dahin waren es auch noch 2000 Kilometer zu radeln. Aber irgendwie fühlte nicht ich mich jetzt und hier dafür verantwortlich, dass er in drei Wochen dort sein Flugzeug erwischt. Es war genug Zeit. Dann musste er eben radeln. Schließlich war er genau dazu hierher gekommen. Außerdem wäre ich gerne mit Sascha allein gewesen. Ich wollte sie besser kennen lernen. Die veränderte Situation veränderte auch zwischenmenschlich alles. Einer würde immer der sein, der „draußen“ ist. Entweder Sascha, weil Adrian und ich Deutsche waren und uns vielleicht viel zu erzählen hatten. Oder ich, weil Adrian und Sascha beide Mitfahrer waren und sich darüber solidarisieren konnten. Dann wäre ich der Depp. Oder Adrian – weil er als letzter dazu gekommen war. Da ich momentan aber nicht sagen konnte, ob es tatsächlich problematisch werden würde, versuchte ich, nicht weiter darüber nachzudenken. Kommt Zeit, kommt Rat. Auf zu den Pässen. 

Derer es zwei gab. Bis zum ersten war es gar nicht mehr so weit – jedenfalls mit dem Auto nicht. Von der Stelle, an der wir Adrian aufgegabelt hatten, ging es gut 50 Kilometer lang fast permanent bergauf. Von 450 bis auf 1717 Meter. Er hatte das gewusst und keine Lust auf die schier endlose Steigung von 2 bis 4 Prozent gehabt. Ich konnte ihn schon verstehen. Auf meine Frage, ob er bereits mehrere solcher Radtouren unternommen hätte, erzählte er, seine längste Tour habe ihn über ein halbes Jahr lang von Kapstadt nach Ägypten geführt. Einmal von Süd nach Nord quer durch Afrika. Ich war beeindruckt. Beeindruckt von dieser physischen und mentalen Leistung. Aber etwas an dem Bild, das er vermittelte, missfiel mir. Er erzählte von seinen Reisen wie einer, der gerade aus dem Freibad kommt. Och ja, und dann war ich mal dort gewesen. Zu leicht, es war alles zu leicht. Er war einfach nur – nett. Kam man damit um die Welt? Mit Nettigkeit? Oder sollte er eine einhundertprozentig sanguinische Frohnatur sein? War er vielleicht einfach nur glücklich, uns getroffen zu haben? Möglich. Er schien das aber alles, seine ganzen Erlebnisse, nur zu konsumieren. Wie man eine Kugel Erdbeereis schleckt. Just für den Moment, ohne großen Nachhall. Sich die halbe Welt erradelt zu haben, hatte das denn gar nichts mit ihm gemacht? Seine Gesichtszüge, besonders seine Augen, spiegelten keine besondere Erfahrung wider. Die stylische, dunkle Hornbrille passte besser in die Werbeagentur. Sein Englisch war ziemlich schlecht. Und Russisch sprach er kein einziges Wort.

II

Gleichmäßige, kleine Wattewölkchen bedeckten den Himmel schon seit der Abfahrt. Angenehmes Fahrwetter. Nur noch wenige hundert Meter bis zum ersten Pass. Wir schlossen auf einen LKW auf, der sich das letzte, steile Stückchen hoch quälte. Einen orangefarbenen MAN. Kastenförmiger Expeditions-Aufbau, hinten dran ein Geländemotorrad geschnallt. Sehr cool. Sima hatte mir die Systematik der russischen Kennzeichen erklärt. Ich versuchte das „J“ des MAN irgendwo darin einzuordnen. Es gelang mir nicht. Mein Hirn schüttelte die Verwirrung ab wie ein Hund sich Wasser aus dem Fell. Nochmal, ganz langsam: was ist „J“? Antwort: in Deutschland ist „J“ Jena. Ich starrte auf das Nummernschild. J MA 752. Das war ein deutsches Kennzeichen! Das waren Deutsche! Aus Jena! Was für eine verrückte Welt. Ich überholte, blinkte mit Warnblink, Arm raus und winkte, gab Zeichen, am Rastplatz auf der Passhöhe bitte rechts ran zu fahren. Überflüssig. Jeder hielt hier oben. Am größten Touristenspektakel, das ich bis dahin gesehen hatte. Auf beiden Seiten der Straße Buden über Buden. Fressbuden, Lederwaren, Schnitzereien, Artikel aus Birkenrinde, Honig in sämtlichsten Gefäßen, Größen und Farbabstufungen, Messer, Schuhe, Sandalen, Schlappen, Traumfänger, Felle, Mützen, Hüte, Socken, Decken, Strümpfe, Handschuhe, Schals, Westen, Einlegesohlen, Bilder, Maultrommeln, Portemonnaies, Teller, Brotkörbe, Salzstreuer, Pfeifen, falsche Bärenkrallen, Schmuckschatullen, Kleider, T-Shirts, Tee aus Bergkräutern, Schnaps, Zigaretten, Kräuterlikeur und so weiter und so weiter. Und Menschen. Und Autos. Irgendwie war scheinbar gerade jeder hier. Die Sonne brannte. Jubel, Trubel, Heiterkeit: Welch ein Hallo mit den Jenaern! 

 

Ede und Sten, die eigentlich Elke und Karsten hießen, waren ein paar Jährchen älter und machten dementsprechend auch eine etwas längere Reise. Ihre sollte von Jena nach Singapur führen. 40.000 Kilometer über die Türkei, durchs wilde Kurdistan und den Iran, die zentralasiatischen Länder, die Mongolei, China und Südostasien. Die gute alte Seidenstraße also. Aufgebrochen waren sie an Weihnachten 2014 – ankommen wollten sie ein Jahr später. Insofern konnten sie auf der Passhöhe schon etwas mehr als Halbzeit verzeichnen. Die beiden hatten eine Firma für Design- und Produktentwicklung. Die größeren Schnittmengen gab es also zunächst mit Adrian, der sich auch ohne Umschweife in einen redseligen Austausch mit ihnen stürzte. Mir war das unangenehm; ich wurde das Gefühl, hier hätten sich drei gefunden, nicht los und verkrümelte mich mit Sascha zu den Touristenbuden. Ich kaufte ein kleines Glas Honig und notierte mir in Gedanken, bei welchen Artikeln ich auf der Rückfahrt zuschlagen wollte. Danach begutachtete ich das Reisegefährt der beiden und ließ mir von Karsten einige Details erklären. Sie hatten den MAN irgendeinem städtischen Winterdienst abgekauft und ihn zu einem wahren Hi-Tech-Biest umbauen lassen, mit Satelliten-Verbindung und einer Inneneinrichtung, so komfortabel wie ein kleines Haus. Der LKW hatte eine beeindruckende Bodenfreiheit und brauchte bei gemütlicher Fahrweise angeblich unter 20 Liter auf 100 Kilometer. An Werkzeugen, Technik und Kommunikationsmitteln waren sie ausgestattet . . . die Expedition hätte auch auf den Mars gehen können. Ede und Sten hätten überlebt. 

Nach 25 Jahren Rackern und Firma aufbauen erfüllten sie sich gerade ihren großen Traum: ein Jahr komplett aussteigen. Das Unternehmen wussten sie in der Zwischenzeit in guten Händen, die Kinder waren aus der Schule. Also endlich einmal ganz lange weg, Adios Deutschland! Ich erwiderte, bei mir wäre es genau anders herum: im Herbst käme die Älteste in die Schule, dann sei es wahrscheinlich erst einmal vorbei mit größeren Reisen. Wie ich waren auch sie mit einem sinnstiftenden Überbau auf Tour: die beiden wollten unterwegs mit Einheimischen kochen und die gesammelten Rezepte in einem Reisekochbuch herausgeben. Keine schlechte Idee, meinte ich anerkennend zu Elke.

Trotz aller Ähnlichkeiten gab es allerdings einen gewaltigen Unterschied zwischen Ede, Sten und mir. Allein Kauf und Umbau des MAN hatte sie mehrere zehntausend Euro gekostet. Über wieviel mehr würden sie auf der Reise verfügen können. Das Zauberwort ihrer Unternehmung lautete Unabhängigkeit. Vorausgesetzt, es gäbe kein wirkliches Unglück, konnten Ede und Sten alles machen, überall reinschnuppern, stets aus der Position des Gourmets genießen ohne dabei zu riskieren, vom Fremden schachmatt gesetzt zu werden. Zu perfekt war ihre materielle Infrastruktur. 

Der Schlüssel meiner Reise hingegen lautete Abhängigkeit. Mein gesamtes Reisebudget war nur sehr klein. 2000 Euro für alles: für Diesel, Übernachtung, Lebensmittel, Geschenke, Reparaturen, Zollgebühren und Unvorhergesehenes. Ich wollte mich bis zu einem gewissen Grad bewusst Land und Leuten ausliefern. Das war meine Art des Reisens seit jeher. Erst dieses Risiko ermöglicht einem meiner Ansicht nach die wirklich tiefe Erfahrung des Fremden. So wie der Tanz auf einem Drahtseil über dem Abgrund dich erst ohne Netz die wahre Dimension des Todes begreifen lässt. Obgleich auch ich im Rahmen meiner Möglichkeiten für vieles Vorkehrungen getroffen hatte. Man kann eben schwer aus seiner deutschen Haut. Wieviel mehr noch hatte sich dieser junge Mann aus Neuseeland ausgeliefert, den ich 1998 in Andalusien getroffen und der sich Skipper genannt hatte. Alles, was er dabei gehabt hatte, war ein kleines Baumwollbeutelchen, in dem sich seine Papiere und etwas Geld befanden. Skipper und ich teilten uns damals für nur eine einzige Übernachtung ein Zelt. Am nächsten Morgen verschwand er, wie ein Zugvogel, der schnell weiter musste. Wir wechselten vielleicht fünf Sätze. Doch ich habe ihn nie vergessen. Seiner Bedürfnislosigkeit wegen, die ihn abhängig und gleichzeitig vollkommen frei machte.

Wie sehr ich auf meiner jetzigen Reise tatsächlich abhängig war, wie tief der Abgrund unter dem Seil ohne Netz gähnte, davon hatte ich freilich noch keine wirkliche Vorstellung. Das ganze Ausmaß meiner Abhängigkeit sollte ich erst gegen Ende der Reise begreifen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. 

Wir alle – Ede und Sten, Adrian und ich – tauschten Adressen aus, machten Fotos und wünschten uns gegenseitig alles Gute. Ede und Sten legten eine längere Pause ein. Wir brachen auf. Vom Pass herab führten nun Serpentinen. Das Panorama veränderte sich deutlich. Die kleinteilige Enge des ersten Streckenabschnittes öffnete sich und wurde weit. Landschaft im Breitwandformat. Alle drei verspürten wir den Wunsch, ein paar Blicke mitzunehmen, bevor es noch weiter ins Tal hinunter ging und man nicht mehr diesen Ausblick hätte. Also hielten wir – kaum zwei Kilometer nach der Passhöhe – erneut und stiegen einen der Hänge hinan, so hoch, bis sich uns eine gute Aussicht auf die gegenüberliegenden Berge bot. Hohes Gras und Gestrüpp veranlassten mich dazu, ein wenig über die Lebensräume von Bären zu philosophieren, was dazu führte, dass wir uns schon bald laut „Medved-hallo-wir-sind-es-hallo-Medved“ rufend zum Bus zurück schlugen. 

Die kleine Bewegungseinheit hatte allen gut getan. Besonders Adrian war auf der Weiterfahrt voll happy, lehnte sich mit ausgebreiteten Armen zurück und meinte entspannt, irgendwie hätte er sich schon richtig daran gewöhnt; er könne sich jetzt gut vorstellen, noch länger mit uns mitzufahren – vielleicht heute und morgen, falls uns das nicht stören würde. Ha! Diesmal gab es keinen Zweifel – der Junge wurde langsam unverfroren. Ich jedenfalls kannte sehr wohl jemanden, den das stören würde: MICH. Doch sprach ich das nicht aus. Statt dessen sagte ich, das könne ich jetzt nicht entscheiden, das müssten Sascha und ich erst besprechen, denn eigentlich hätten wir für heute ein Reiseziel angepeilt, das ihn eher von seinem Weg abbringen würde. Wir versuchten ja, möglichst nahe an die Belucha heran zu kommen. Nun wollte Adrian diesen Berg plötzlich auch sehen. Oder zumindest an unserem Versuch, ihn zu erreichen, teilnehmen. Och, meinte er daher, wenn wir ihn wieder zur M52 zurück mitnähmen, verlöre er wahrscheinlich kaum Zeit. Ede und Sten, fuhr er fort, habe er auch schon gefragt, ob sie ihn mitnähmen. „Und?“, wollte ich wissen. „Sie haben Nein gesagt.“ Aha, dachte ich. Von diesem Zeitpunkt an sann ich darüber nach, wie ich Adrian wieder loswerden konnte, ohne ihn rausschmeißen zu müssen. Er machte es sich offenbar auf Kosten anderer gerne leicht. So etwas mochte ich gar nicht. Außerdem wollte ich mit Sascha allein sein. Wollte gerne den Zauber des gestrigen Tages fortsetzen.

Bevor es zum „Showdown“ kommen sollte, wurde allerdings erst einmal die Landschaft von Kurve zu Kurve atemberaubender. Ständig hielten wir an. Mussten unserem Staunen Zeit geben. Beglückwünschten uns, wie überwältigend schön es hier und da und dort war. Über uns kreisten zwei Adler. Wir machten Fotos. Adrian hatte eine digitale Spiegelreflexkamera und diverse Objektive dabei. Sascha erfrischte sich an einem Bach. Von dort kam sie, x-beinig und gebeugten Ganges, zurück und winkte mir im Vorbeigehen schief-lächelnd in die Kamera. Endlich ein richtiges Foto von ihr.

Teil 27.1

Das Land wurde eine Weile lang richtig alttestamentlich. Karge Berghänge, im Tal ein reißender Fluss, Geröll, Hitze. Hölzerne Telegrafenmasten hielten Drähte hoch. Und manchmal hielten die Drähte auch die Telegrafenmasten hoch, welche wie erschöpfte Boxer schief in den Seilen hingen und ohne die Drähte längst umgefallen wären. Die Straße aber war exzellent. Der zweite Pass bot eine fast noch prächtigere Aussicht, viele Kilometer in die ebene Talaue zurück – rechts und links Berge – bis am Horizont die Farben verblassten. Und immer wieder der Fluss, der sich, uns begleitend, dicht neben der Straße, dann wieder weiter weg bewegte und auf einmal ganz verschwunden war, bis er uns nach einigen Kilometern als wesentlich größerer und breiterer plötzlich aus der anderen Richtung entgegen floss. Hatte ich die Orientierung verloren. Wie war das möglich, dass uns der Fluss plötzlich entgegen kam? Das Rätsel löste sich mit einem Blick in die Karte. Es hatte alles seine Richtigkeit: wir fuhren jetzt wieder am Katun entlang. Davor war es der Bolschoi Ilgumen gewesen. Der erste kam von vorn, der andere von hinten und mündete in den Katun. Wir hatten, ohne es zu merken, die Talsohle durchfahren.

III

Adrian redete Banales. Er sprach von Dingen, die mich nicht im geringsten interessierten. Mit einem schmerzlichen Gefühl dachte ich an die gestrige Zweisamkeit, während Adrian von seiner Arbeit, von Objektiven und Fotoqualität erzählte, als wäre das alles ebenso wichtig, wie der Umstand, gerade jetzt hier zu sein. Und er ließ zwei Mal die Bemerkung fallen, dass er heute noch Lebensmittel und etwas zu Trinken brauche – so, als müsse ich mich darum kümmern; er hatte es ja schließlich erwähnt. Ein paar Gelegenheiten hatte er schon ausgelassen. Ich hielt an einem kleinen Laden, irgendwo in steppenähnlicher Gegend, und meinte, hier könne er einkaufen. Ich wollte, dass er endlich einkauft, damit ich einmal mit Sascha allein sprechen konnte. Adrian stieg aus. Ich hoffte, sie würde die Situation wie ich empfinden. Dazu war sie jedoch zu anspruchslos. Sascha meinte ganz diplomatisch, das wäre mein Auto und folglich auch meine Entscheidung. Er störe sie nicht. Na toll. Ich versuchte es noch einmal, diesmal etwas deutlicher. Wieder ließ sie sich zu keiner verwendbaren Aussage hinreißen. Adrian kam zurück mit einem offenen Getränk in der Hand. Einer Fanta! Als hätte es noch eines Beweises bedurft, dass sich unsere Wege wieder trennen mussten. 

Wir fuhren los und ich sagte, ich hätte mit Sascha gesprochen (stimmte ja) und sei der Meinung, dass wir es so machen sollten, wie anfangs vereinbart: ihn irgendwo in der Nähe des Dorfes Inja ausladen, von wo aus wir dann versuchen würden, den Abzweig in Richtung Belucha zu fahren. Ich rechnete mit Enttäuschung. Doch ich hatte mir zu viele Gedanken gemacht. Adrian meinte ganz unbeschwert, das wäre überhaupt kein Problem, wir sollten ihn einfach ausladen wo es für uns am günstigsten wäre. Na wunderbar! Inja ließen wir noch kurz hinter uns – ich wollte einen Streckenabschnitt finden, der möglichst eben war, damit er nicht gleich an einem Berg würde losradeln müssen – und fuhr bis zur einer langgezogenen Geraden auf einer sanften Kuppe. Am höchsten Punkt, in der Mitte der Geraden, so dass der Bus von anderen Fahrzeugen auch rechtzeitig gesehen werden konnte, stoppte ich und Adrian lud sein Zeug aus. Wir wechselte noch ein paar Worte über sein Rad. Der Rahmen sei ihm ein wenig zu klein, meinte er. Eigentlich hätte er es schon längst gegen ein anderes austauschen sollen. Aber irgendwie hänge er an dem Teil. Ein orangener LKW kam – Ede und Sten – sie hupten, wir winkten zurück, und der Moment war auch schon wieder vorbei. Noch schnell ein paar Fotos mit Adrian geschossen und Sascha und ich waren endlich wieder zu zweit. Ich freute mich auf die Weiterfahrt. Jetzt würde alles gut werden. Ich drehte den Zündschlüssel um und – nichts passierte. Mein Herz stürzte in den Abgrund. Noch mal umgedreht. Nichts. Die Lämpchen leuchteten – also war Saft da. Aber sonst rührte sich nichts. Bitte lass das jetzt nicht wahr sein! Ich stieg aus. Ein hilfloser Rundumblick: nur Einöde. Ist dir klar, dass du sechstausendfünfhundert Kilometer weit von zu Hause weg bist und dein Auto nicht anspringt? 

„Was ist los?“, rief Adrian, der immer noch mit Packen beschäftigt war. 

„Ich glaube, wir müssen es mit Anrollen versuchen“, sagte ich zu Sascha. Und dann zu Adrian: „der Bus springt nicht an!“

„Was? Echt? Scheiße.“ 

„Kannst du mal mit schieben?“ 

„Na klar.“ 

In diesem Moment war er sicher froh, dass er offiziell schon nicht mehr zu uns gehörte. Ebenso froh war ich, mitten auf einer flachen Kuppe gehalten zu haben. Tatsächlich war das das Beste an der gesamten Situation. Denn nach ein paar ebenen Metern begann es, immer stärker bergab zu gehen. Ich hatte Hoffnung, dass es mit Anrollen klappen könnte. Adrian und ich schoben, bis der Bus von selbst Schwung aufnahm. Der Motor musste mir nur diesen einzigen, klitzekleinen Gefallen tun und anspringen. Ich ließ die Kupplung kommen … bitte…! Er tat ihn mir. Mein Herz kam aus dem Abgrund zurück.  

Ich wendete und fuhr bis zur Brücke über den Katun, wo es in die Berge gehen sollte. Die Brücke war – von der Straße aus nicht einsehbar – kaputt. Zerstört. Zusammengebrochen. Keine Möglichkeit, über den Fluss zu kommen. Also keine Belucha. Nun galt es erneut, ein schönes Plätzchen zu finden, an dem man die Nacht verbringen konnte. Die Landschaft wurde schöner und schöner, die „Plätzchen“ immer verlockender. Nach 60 Kilometern fand ich eines, an dem ich nicht vorbei fahren konnte. Knapp 20 Kilometer vor Aktasch, wunderbar offen, mit weiter Uferwiese an einer sanften Biegung des Flusses, gegenüber hochaufschießende Berghänge. Einige Russen hatten bereits ihre Zelte aufgeschlagen. Und was das Beste war: es gab dort einen Wasserfall! Während ich am Lager blieb, zog Sascha los. Als sie zurück kehrte, rief sie entzückt, ich müsse mir den Wasserfall unbedingt ansehen. Gemeinsam gingen wir noch einmal hin. Ich füllte meine leeren Trinkflaschen auf, kostete – und bezeuge es hier, die Hand zum Schwur erhoben: das Wasser dieses Wasserfalles war das beste, das ich jemals im Leben trank. Der Begriff „Süßwasser“ erfuhr erst hier seine wahre Bedeutung. Auch hielt es sich zwei Tage in der Plastikflasche, ohne schal zu werden. Es schmeckte selbst bei Hitze immer frisch. Camper füllten ihre Flaschen dort. Vorbeifahrende hielten extra deshalb. Die Stelle musste offenbar bekannt sein für das Wasser.

Sascha und ich wollten etwas erleben. Neben dem Wasserfall verlief ein Trampelpfad bis in unbekannte Höhe. Wir deponierten die Flaschen an einem Stein und kletterten den Steig kurzentschlossen hinauf. Ich hatte nur Flip-Flops an. Sascha mit ihren festen Trekking-Sandalen war im Vorteil und eilte mir davon. Sie stieg hinauf, als ginge es um etwas. Was sollte das? Meine Zehen krallten sich in die nackte Sohle und suchten vergeblich Halt. Ständig rutschte ich mit den Füßen aus den Schlappen, hatte Sorge, das dünne Lederbändchen zwischen großer Zehe und der nächsten könne bei einem unbedachten Tritt durchreißen. Ich dachte zwanzig Jahre zurück, als wir oft mit Jugendgruppen in den Bergen unterwegs gewesen waren und uns der Leiter eingebläut hatte, man brauche unbedingt festes Schuhwerk. Wenn er mich jetzt so sehen würde. Mit Flip-Flops an einem steilen Wasserfall hinauf kletternd. . . Sascha war weit voraus. Als sie sah, dass ich nicht hinterher kam, wartete sie. „Das hast du bestimmt nicht gedacht, dass ein Mädchen dich fertig macht, oder?“, empfing sie mich grinsend. Kampfgeist hatte sie, das musste ich zugeben. Und das imponierte mir. Ich grinste zurück: „Ich bin immerhin schon Vierzig. Ich darf langsamer sein. Außerdem liegt das nur an meinen Schuhen. Beim nächsten Mal ziehe ich feste Schuhe an. Dann hast du keine Chance.“

„Dann werde ich auch schneller sein.“

„Das glaube ich nicht.“

Feixend zuckte sie die Schultern, als wolle sie sagen, denke, was du willst, ich weiß, dass ich schneller bin. Dann stieg sie wieder voraus. Wir hatten wohl beide gehofft, die Baumgrenze zu erreichen, aber irgendwie tat sich hinter jeder Biegung ein weiteres Stückchen Wald auf. Wir beschlossen, den Berg morgen nach dem Frühstück anzugehen. Ich wollte mit diesen Schuhen nicht noch höher. Ich musste ja auch wieder herunter. Und das war schwierig genug. Am Wasserfall entlang ging gar nicht. Viel zu steil. Das Lederbändchen wäre garantiert gerissen. Also nahm ich die Wiese des Berghangs, denn Wald wuchs nur direkt am Wasserfall. Die Flip-Flops blieben heil. Zurück an unserer Campingstelle stieg ich in den Fluss und wusch mich, nackt, hinter einer Insel aus Gestrüpp, so dass Sascha mich nicht sehen konnte. Anschließend kamen meine T-Shirts dran. Sascha fragte, ob sie mir dabei helfen solle. Ja, fast schien sie darum zu bitten. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihr meine stinkenden, verschwitzten Hemden zum Waschen zuzumuten. Doch das Mädchen war hart. Es störte sie nicht. Also schrubbten wir gemeinsam meine Hemden mit Waschpaste auf Steinen an einer sehr flachen Stelle im Fluss. Erneut war es eine ungeheuer schöne Erfahrung, wie dieser fremde Mensch mir half und etwas mit mir zusammen tat. Ich spannte eine Wäscheleine zwischen Außenspiegel und einem Baumstamm – perfekt. Morgen würde alles trocken sein.

Und dennoch: trotz dieser Unbeschwertheit saß mir eine schreckliche Unruhe im Nacken und ließ sich nicht vertreiben. Die immerwährende Frage, ob der Bus morgen anspringen würde und was ich unternehmen würde, falls er das nicht tat. Ich hatte so geparkt, dass man es mit Anrollen versuchen könnte. Es blieb allerdings nur ein einziger Versuch, denn die Anrollstrecke war lächerlich kurz – fünf, sechs Meter von einem kleinen, im Grunde nicht nennenswerten Hügel hinunter bis auf den Weg. Die größte „Erhebung“ in der Wiese. Gang rein, eine halbe Umdrehung, dann musste er kommen. Würde das genügen? Unter anderen Umständen hätte ich sofort gesagt: kalt niemals. Doch hier klammerte ich mich daran, hoffte aber, dass der Bus ganz normal anspringen würde, wie er es in Nowosibirsk nach einem Aussetzer auch mehrfach wieder getan hatte und versuchte, über alles andere vorerst nicht weiter nachdenken. Heute konnte ich eh nichts mehr ändern.

Als es dunkelte, mummelte Sascha sich in ihren Biwacksack. Frische Luft zog auf. Auch vom Boden her würde es kühl werden. Wieder hatte ich ihr mein Zelt angeboten. Wieder hatte sie abgelehnt. Ich verstand dieses Mädchen nicht. Wie konnte man nur so hart zu sich selbst sein? Wir waren doch nicht im Straflager.

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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