Dienstag, 19. März 2024

15. Kapitel – Marco Polo

Marko Wild

I

Victors Element war das Wasser. Auch der neue Tag begann wieder mit Schwimmen im Ob. Victor humpelte auf dem Weg zum Fluss stärker, als gestern. Ich sprach ihn darauf an. Er erzählte mir von einem schweren Unfall, den er vor vielen Jahren gehabt hatte. Er und sein Freund waren im Winter mit dem Auto unterwegs gewesen. Es war glatt und ein klein wenig Alkohol im Spiel. Sie hatten das Auto aber gut unter Kontrolle. Als ihnen über den Hügel ein LKW entgegen kam, wurde Victor schlagartig nüchtern. Denn er sah, dass der LKW auf dem Glatteis die Bodenhaftung verlor und direkt auf sie zuschlitterte. Keine Chance, dem Unheil noch irgendwie zu entgehen. Victor dachte, nun müssten sie beide sterben. Doch sie überlebten. Der Aufprall zertrümmerte ihnen die Knochen. Victor und sein Freund hatten offene Brüche. Bei Victor war es der Oberschenkel. Man flickte sie im Krankenhaus wieder zusammen und die beiden glaubten, sie wären noch einmal davon gekommen. Ein paar Stunden später jedoch verstarb Victors Freund. Völlig überraschend. Ein winziges Knochensplitterchen hatte sich gelöst, war in eine Blutbahn gelangt, bis ins Hirn gewandert, hatte sich dort festgesetzt und … Man konnte ihn nicht retten.

Obwohl er es nie direkt aussprach nehme ich an, dass Victor damals an Gott zu glauben begann. Schließlich hatte er „seit dreißig Jahren“ gesagt. Also gab es einen bestimmten Zeitpunkt, an den er sich noch sehr gut erinnerte. Vermutlich den Tag des Unfalls, als er dem Tod entkommen war, den Freund aber hatte ziehen lassen müssen. Victors Bein war recht und schlecht verheilt, die Schmerzen aber geblieben. Manchmal waren sie stärker, manchmal fast nicht zu spüren. Bei Stress – etwa seinen Querelen mit den Behören wegen des Grundstücks – konnte es durchaus sein, dass sie wieder zunahmen. Auch ich humpelte leicht. Mir war einmal die Achillessehne gerissen und nicht ordentlich behandelt worden. Noch etwas, das uns verband.

Nach dem Frühstück zeigte Victor mir, wo ich den Schlüssel verstecken sollte, wenn ich ginge. Dann fuhr er zur Tankstelle. Berta war heute viel besser aufgelegt; sie fraß wieder richtig und suchte ständig meine Nähe, um sich von mir kraulen zu lassen. Ich blieb noch ein wenig und sortierte meinen Tagesplan. Für heute hatte ich mir einiges vorgenommen: es war Zeit, den Journalisten ab- und eine andere Rolle anzulegen: Heute würde ich unterwegs sein als Handelsreisender. Als deutscher Vertreter für Robotertechnologie und Automatisierung. Zunächst jedoch als Kunstinteressierter, weshalb ich mich erneut in das Viertel, in dem Gernot und Dunja wohnten, begab und die Kunstschule aufsuchte, der viele jener Malerinnen und Maler angehörten, die im Deutschen Haus ausstellten. Es dauerte ein wenig, ehe ich sie fand. Denn unter der Adresse, die ich von Valerija bekommen hatte, gab es zwar eine Art Volkshoch- aber keine Kunstschule. Man bat mich freundlich herin. Allerdings sprach nur eine einzige junge Frau etwas Englisch. Ich teilte ihr mein Interesse für Ölgemälde, wie sie im Deutschen Haus ausgestellt waren, mit. Sie müsse einmal nachschauen, bekam ich zur Antwort, weswegen ich mich mich drei Leuten zuwandte, die um einen Tisch saßen und arbeiteten. Anstatt jedoch einen Meister vorzufinden, der sein vielfältiges Wissen an Schüler weiter gab, saßen hier ein alter Mann und zwei Frauen und malten gemeinsam Ikonen. Diese sahen aus wie Originale aus alter Zeit. Der Alte mischte Fraben, die lediglich aus Gelb-, Braun- und Ockertönen bestanden; eine Frau brachte das Blattgold für den Heiligenschein auf, eine andere kratzte mit einer Rasierklinge die Farben nach einer Schablone so in Form, dass nahezu perfekte Kopien der Vorlage entstanden. Als der Alte von der inzwischen zurück gekehrten Übersetzerin erfuhr, dass ich aus Deutschland sei, freute er sich: das Blattgold, welches sie verwenden würden, sei ebenfalls aus Deutschland. Es gebe nur zwei Hersteller, die zuverlässig liefern würden – einen italienischen und einen deutschen. Das italienische Blattgold allerdings sei von deutlich schlechterer Qualität, als das deutsche. Deshalb würde er ausschließlich das deutsche verwenden. Ein sehr, sehr gutes Blattgold! Dann deckte er eine Lage Butterbrotpapier auf und zeigte mir das hauchdünne, goldglänzende Material. Die Ikonen würden sie verkaufen. An Kirchen, an Privatleute, an Touristen – wo es halt ginge.

Teil 24.4

Abgesehen von diesem einen engen Raum gab es einen zweiten, noch kleineren, sowie ein Obergeschoss. Die junge Künstlerin, die übersetzte, zeigte mir ein paar an Wänden lehnende Ölgemälde. Nachdem ich sie durchgesehen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass die schönsten im Deutschen Haus ausgestellt waren. Nun wollte sie mich aber nicht einfach ziehen lassen; sie selbst gestaltete Buchzeichen und Schutzumschläge aus Leder. Die sollte ich mir ebenfalls ansehen. Mit sichtbarem Lampenfieber breitete sie ihre Werke vor mir aus – alles sehr geschmack- und phantasievolle Arbeiten. Ohnehin für Leder zu begeistern, nickte ich ihr kräftig zu. Da strahlte sie über’s ganze Gesicht, bedankte sich und schenkte mir eines der Buchzeichen zur Erinnerung. Die Kunstakademie konnte – so klein wie sie war – ihren Charakter nicht verbergen. Das war keine städtische oder staatliche Stelle. Eher ein Treffpunkt und Arbeitsort für stille Enthusiasten.

In Nowosibirsk gibt es zahlreiche Hochschulen. Neben 13 Universtäten wartet die Stadt mit 6 sogenannten Akademien und 22 Instituten auf. Zum Teil handelt es sich dabei um Außenstellen von Hochschulen anderer Städte. Dort kann man von Bauwesen und Medizin über Informatik und Eisenbahntransport bis hin zu Pädagogik, Vermessung, Handel und Agrarwirtschaft alles studieren kann, was ein Land zur Entwicklung braucht. Eine dieser akademischen Einrichtungen suchte ich nach der Ikonenwerkstatt auf: ich begab mich zum Krasnyj Prospekt, in die Nowosibirsker Staatliche Universität für Architektur, Design und Künste. Eine schwarzgraue Schmutzsschicht, die sich über den großen Sandsteinbau an der Ecke des Leninplatzes gelegt hatte, war seiner äußeren Würde ziemlich abträglich.

Hinter den meterhohen schweren Türflügeln trat man eine Halle von feudaler Großzügigkeit. Die NGUADI ist eine von vier auf Architektur spezialisierten Hochschulen Russlands und steht in der Tradition einer eigenständigen sibirischen Architektursprache. Neben Abschlüssen in Architektur sind auch welche in Stadtplanung, monumental-dekorativer Kunst und Design (auf russisch: Disajn) möglich. Ich hoffte, dass dort auch gemalt würde. Dem war so. Eine Dozentin führte mich zuerst ins Dachgeschoss. Dort roch es ordentlich müffelig. Anscheinend wurde hier – in der angestauten Hitze – kräftig transipiert und wenig ventiliert. Ein junger Student im Muskelshirt zog einige Werke aus hohen, hölzernen Stellfächern.

Teil 24.3

Fast alle waren großformatig – Themenstudien, Semesterarbeiten. Nichts für mich. Wir steigen wieder hinaub. Auf dem Zwischenpodest im Treppenaufgang präsentierte die Universtät die besten der letztjährigen Abschlussarbeiten: mehrere überlebensgroße Skulpturen. Mir kam der Gedanke, dass man sich besser hier hätte inspirieren lassen sollen, bevor man Berlin Mitte mit nichtssagenden Betonstelen vollstellt, von denen die Hälfte bereits rissig geworden ist oder schon wegbröckelt. Das hier war ein ganz anderes Niveau: Mosaike und Reliefs mit mit Aussagekraft, mit Symbolen und Menschen, abstrahiert, und dennoch erkennbar, mit Gesichtszügen – so plastisch, so emotional… In künstlerischer Hinsicht hatte man das im Niedergang begriffene Europa meilenweit hinter sich gelassen.

Im Keller malte eine andere Gruppe. Die Bilder eines der Dozenten, Igor sein Name, gefielen mir sehr. Er war ein echter Künstler, sprang sogleich auf einen Tisch, schüttelte seine wuschelige, dunkle Lockenmähne und posierte, als es hieß, ich interessiere mich für seine Gemälde, scherzhaft in den Haltungen antiker Statuen. Allerdings konnte und wollte ich mich nicht gleich entscheiden. Denn im Endeffekt waren es doch die Vogelbeeren, die mir keine Ruhe ließen. Diese wunderbaren Vogelbeeren. Auch wenn Igor der „bessere“ Maler gewesen sein mochte. Er bot mir an, für 15.000 Rubel ein Bild speziell für mich zu malen, ein Auftragswerk ganz nach meinen Vorgaben: dominierende Farben, Maltechnik, Motiv – alles dürfe ich bestimmen. Wenn ich ihm bis morgen Bescheid gäbe, würde er es in zwei Wochen fertig haben. Ich könnte es also abholen, wenn ich aus dem Altai zurück käme. Wir tauschten unsere Handynummern aus. Ich versprach, anzurufen.

II

Wenn ich mich in Russland mit meinem Namen vorstellte, bekam ich als Reaktion darauf nicht selten ein fröhliches „ah, Marco Polo!“ zu hören. Irgendwann dachte ich mir, ja stimmt, warum eigentlich nicht? Denn wie mein handelsreisender Namensvetter aus dem 13. Jahrhundert hatte auch ich ursprünglich die Seidenstraße nehmen wollen. Doch mit den eskalierenden Konflikten im Vorderen Orient war mir diese Route zu heikel geworden, so dass ich sie spätestens seit Beginn des Syrienkrieges hunderte Kilometer nach Norden in das sichere Russland verlegt hatte. Einmal ganz davon abgesehen, dass der nur mit Vorderradantrieb laufende Bus für die Seidenstraße vermutlich das falsche Gefährt gewesen wäre. Mein weißer Blechkasten war ein Hippie-Auto. Und ich war auf Hippie-Tour. Dazu brauchte ich ein Hippie-Land – groß, bunt, friedlich und freundlich. Russland passte für mein Vorhaben perfekt.

Handelsreisender also. Zu diesem Zweck hatte ich gute Schuhe, eine ordentliche Hose, ein weißes Hemd und ein paar Krawatten dabei. Ach ja, und einen französischen Trenchcoat. „Wenn du einen Auftrag ranschaffst, machen wir Halbe-Halbe. Mein Material, dein Einsatz – an Russland wäre ich schon interessiert.“ Die Worte des Roboter-Vertreters klangen mir im Kopf wie das helle Klirren von Silbermünzen in einer Truhe, durch die man mit der Hand wühlt. Halbe-Halbe, das war nicht schlecht. Ich hatte ein wenig recherchiert, welche Industrie in Nowosibirsk ansässig war und wo man möglicherweise Robotertechnik brauchen könnte. Ein Konzern war mir dabei sofort – nun ja, wie soll ich es sagen? Dieser Konzern stach etwa so heraus, wie der Eiffelturm aus den Pariser Sehenswürdigkeiten. Es handelte sich um die Flugzeugwerke des Rüstungskonzerns Suchoi, wo die beiden Maschinen Su-24 und Su-34 gefertigt werden. Würde man dazu Roboter brauchen? Ich nahm es doch stark an. Schwer vorstellbar, dass die Teile von Hand aus dem Ganzen gefeilt würden – auch wenn das hier Russland und nicht Japan war. Würde ich mich damit „versündigen“? Schlagzeile: +++ Deutscher Journalist dealt mit russischer Rüstungsindustrie +++ Wäre das Verrat? An Europa? Am Weltfrieden? (Kleine, weiße Friedenstaube, fliege über’s Land….) Schließlich herrschten nicht gerade kuschelige Zeiten. Ach was, Geschäfte wurden schon immer zwischen den Fronten gemacht! Außerdem glaubte ich nicht, überhaupt vorgelassen zu werden. Und ja, ein bisschen abenteuerlich sollte es auch sein. Man stelle sich das einmal vor: ein Deutscher reißt mit ein paar Prospekten und einem Demo-Video von Kawasaki und Universal Robots nach Nowosibirsk und zieht einen Mega-Auftrag an Land. Das wäre eine unglaubliche Geschichte, deren Unterhaltunsgwert von keinem Geldwert aufgewogen werden konnte. Wie beim verrückten kolumbianischen Torwart René Higuita, der so gerne Feldspieler oder Entertainer sein wollte und deshalb, zur allergrößten Freude des Publikums, immer wieder nach vorn stürmte, dribbelte und taktisch sinnlose aber extrem unterhaltsame Kunststückchen aufführte. So oft er auch den Ball verlor, seine Unternehmungen waren stets voller Esprit und geistiger Unabhängigkeit.

Das allzu Vorausberechenbare langweilte mich. Überraschen und überrascht werden war die Würze des Lebens. Der René-Higuita-Stil gefiel mir, um aus dem bekannten Trott auszubrechen. Genau aus diesem Grunde fuhr ich zu Suchoi, in die Militär-Maschinerie jener angeblich so bedohlichen Macht. Russland – als Reich des Bösen. Wahr? Nein, dazu hatte ich unsere Medien zu lange analysiert. Dazu stießen mich die tendenziösen, abgeschmackten Berichte, das moralisch überhebliche Getue und die Heuchelei zu sehr ab. Deshalb fürchtete ich mich vor Russland nicht. Wenn jemand mir also gesagt hätte: „bist du verrückt? Suchoi? Das kann man doch nicht machen! DAS GEHT DOCH NICHT“ – dann wäre genau das der Grund gewesen, es zu tun. Nichts konnte richtiger sein, als das Gegenteil dessen, was die falschen Warner anmahnten. Was hatte ich zu verlieren? Was sollte schon geschehen, außer dass genau ich zum letzten Tröpfchen würde, der das Fass des Weltgeschehens zum überlaufen brächte? Der Russland und die NATO in den dritten Weltkrieg stürzt? Wodurch – um mit Doc Emmett Brown zu sprechen – das Raum-Zeit-Kontinuum kollabieren und das ganze Universum vernichtet werden würde? Ja, ich konnte sie schon hören, die Bedenkenträger, die mir solches suggerieren wollten. Allein: Ich glaubte ihnen nicht. Marco Polo und René Higuita glaubten ihnen nicht.

In Wahrheit erwartete ich, dass mein Vertreter-Dasein an einem großen, verschlossenen Eisentor enden würde. Dass mich von oben eine Kamera filmen und mir aus einer Gegensprechanlage die Stimme einer resoluten Dame entgegen tönen und mich abweisen würde, weil ich nicht den entsprechenden Berechtigungs-Ausweis würde vorzeigen können. Dass dann zwei uniformierte Beamte kommen und mich sanft aber bestimmt vom Gelände geleiten würden. Dass man sich meine Autonummer notieren, mein Visa überprüfen und mir zu verstehen geben würde, dies sei eine Sperrzone und ich dürfte mich hier nicht aufhalten. Darauf in etwa war ich vorbereitet.

Ich fuhr also in den Nowosibirsker Osten, parkte den Bus so, dass ihn mögliche Überwachungskameras nicht erfassen konnten, zog die Hose aus gutem Zwirn, die feinen Schuhe und das weiße Hemd an, warf mir den Trenchcoat über, klemmte mir einige Prospekte unter den Arm, steckte mir ein paar Visitenkarten ein und marschierte Richtung Haupteingang von Suchoi Nowosibirsk.

Es gab ein Eisentor, ja durchaus. Doch es stand einen Spalt weit offen. Beherzt schritt ich hindurch. Die Pforte war unbesetzt. Einige Arbeiter kamen mir entgegen. Keiner schien mich zu beachten. Ich betrat das erste Gebäude, das mir ein Verwaltungstrakt zu sein schien, ging eine Treppe nach oben – nichts passierte. Kein Alarm. Kein heranstürmendes Sicherheitspersonal. Die Treppe endete an einem langen Flur. Zu beiden Seiten Büros. Es war sehr warm. Eine Tür stand offen – vielleicht wollte jemand ein bisschen Durchzug. Ich klopfte. Ein Mann kam heraus. Ich grüßte und sagte mein Sprüchlein auf, wie Sima es mir beigebracht hatte:

„Strastwuijtje. U was jehst interes robotosirowatjch wasche predprejatije? Ja magu wam predloschatjch robotov luboi konstrukze i konfiguraze.“

Dabei musste ich wieder an Sima denken, der sich bei konstrukze i konfiguraze die Finger geküsst hatte, weil ihm diese Formulierung so überaus gelungen erschien. Man antwortete mir etwas, das ich nicht verstand. Ich erwiderte, ich sei aus Deutschland, nach Nowosibirsk gereist und spräche leider nur schlecht Russisch.

Im Flur standen Stühle an der Wand. Man bat mich, Platz zu nehmen. Jemand sagte Glawnyj Inschener. Wahrscheinlich ging dieser jemand also los, um den Hauptingenieur zu holen. Das Warten gab mir Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Altes Linoleum auf dem Boden. Wände mit gelblicher Ölfarbe gestrichen, wie ein britisches Militär-Hospital aus den 1940er Jahren. An der Decke verliefen parallel mehrere offene Drähte mit altertümlicher Textilisolierung. Über Türlaibungen bröckelte der Putz ab. Hmmm, dachte ich, Suchoi … Ich hätte es moderner erwartet.

Nach ein paar Minuten – ich glaubte schon, man hätte mich vergessen – kamen tatsächlich zwei junge Männer, von denen einer etwas Englisch sprach, und erkundigten sich noch einmal nach meinem Anliegen. Roboter also. Sie sahen sich meine Prospekte an. Ich fragte, ob sie denn Bedarf hätten. Darüber dürften sie nichts sagen. Aber so ganz grundsätzlich? Grundsätzlich schon. Natürlich kämen hier auch Roboter zum Einsatz. Und es gäbe auch eine Erweiterung des Werkes. Ich pries meine Produkte an: Vollautomatisierung, 100%ige Anpassung an den Fertigungs-Zug, präzise bis auf so und so viele Mikrometer, so und so viele Meter Greifarmlänge usw. Ich würde gerne ein Angebot erstellen. Die beiden sahen sich an – frei nach dem Motto: was sollen wir mit so jemandem wie dir anfangen? Ist ja schön, dass du hergekommen bist. Aber so macht man das nicht. Marco Polo und René Higuita zwinkerten ihnen zu: warum nicht? Noch nie über Automatisierung nachgedacht? Der Glawnyi Inschener riet mir, ihm von Deutschland aus eine Mail zu schreiben und das Programm vorzustellen. Ich bekam seine Email-Adresse und seinen Namen. Vielen Dank und auf Wiedersehen. Draußen grinste ich: bei Suchoi gewesen, mein Gesicht hergezeigt und einen Kontakt bekommen – was wollte ich mehr? Wenn ich wieder zurück wäre, würde ich ihnen ein ordentliches Angebot per Mail zukommen lassen. Halbe-Halbe…

Die zweite Firma, die ich besuchen wollte, hieß (englisch geschrieben) Shvabe, ein Optik-Unternehmen, das der deutsche Auswanderer Theodor Schwabe gegründet hatte. Als Freund guter Optiken war dieser Besuch für mich Pflicht. Was ich nicht wusste, aber dort erfuhr, war: auch Shvabe stand im Regierungsdienst und produzierte fürs Militär. Nachtsichtgeräte zum Beispiel. Weshalb ich es in dem modernen, vollverglasten Bürogebäude in der Nowosibirsker City zunächst schwer hatte, über die Empfangsdame hinaus zu kommen. Ich bleib jedoch hartnäckig und bat darum, jemanden herbeizurufen, mit dem ich im Empfangsbereich sprechen könne; ich hätte ein schönes Präsentationsvideo dabei, dass ich gerne einem der Entwickler übergeben würde. Dann könne er sich in aller Ruhe unser Programm ansehen. Sie beschloss, dass damit wohl die Sicherheitsvorschriften nicht verletzt würden und telefonierte. Kurz darauf kam ein junger, sehr offener, sympathischer und gut englisch sprechender Optik-Ingenieur ins Empfangsbüro und hörte sich an, was ich zu sagen hatte. Sie wären in der Tat gerade auf der Suche nach einigen neuen Robotern, machte er mir Hoffnung. Allerdings sei auch ihm es nicht gestattet, mir die Firma zu zeigen. Das Video auf dem USB-Stick war mein Pfund, mit dem ich wuchern konnte. Er steckte es kurz an – als ich sah, dass er es interessant fand, überlies ich es ihm und rang ihm dafür seine Visitenkarte sowie einen Firmenflyer mit ein paar Mailadressen ab, den er mir eigentlich nicht hatten geben wollen, weil dieser ausschließlich für Mitarbeiter des Unternehmens wäre. Sicherheit und so. Auch ihm sollte ich unser Programm per Mail noch einmal konkret vorstellen. Ich ließ einige Prospekte da, kaufte mir draußen noch ein Eis am Stil und machte mich zufrieden auf den Rückweg zur Hütte am Ob.

III

Victor war schon da. In Freizeitmontur – das heißt: in Badeschlappen und mit nacktem Oberkörper – kniete er am Erdbeerbeet. Berta sprang freudig über die Wiese, als ich kam. „Na, hast du alles geschafft?“ begrüßte Victor mich. Ich erzählte ein bisschen von meinem Tag. Er nickte. „Kann ich noch mal dein Tablet haben? Ich muss noch mal ins Internet.“ Victor meinte, es läge drinnen, in der Hütte, auf dem Tisch. Da war es aber nicht. „Oh, dann ich habe vergessen im Büro. Bringe ich morgen mit.“ Meine Frau hatte mir in der letzten Mail ausgerichtet, die Mädchen wünschten sich Kleider. Ich fragte Victor, ob er wisse, wo ich Kleider kaufen könne. An meinem vorerst letzten Tag in Nowosibirsk – morgen – wollte ich das erledigen. So hatte ich es auch zurück geschrieben. „Zeige ich dir. Morgen wir fahren zusammen in Stadt. Kann man zwar überall kaufen. Aber oft teuere. Gibts eine spezielle Markt, wie Basar, riesengroß und sehr günstig. Dort ist am besten zu kaufen.“

Ich brauchte auch Bargeld. Am Sonntag – übermorgen also – wollte ich in den Altai aufbrechen. „Ich würde jetzt gerne dein Angebot annehmen und bei dir Rubel tauschen“, fragte ich vorsichtig an. „Natürlich. Wieviel brauchst du?“

„So für 400 Euro?“

„Kein Problem.“

In Victors Hof stand ein hellblauer Schiffscontainer aus Stahl, mit Rippenprofil. Den nutzte er als Garage. In ihm wollte er auch seine Habseligkeiten beim nächsten Umzug transportieren. Im Container standen zwei Motorräder – eine 500er Enduro und ein kleines, oranges 50-ccm-Mini-Bike. „Willst du mal fahren? Kannst kleine Motorrad nehmen. Große kann ich dir nicht geben. Aber kleine macht auch Spaß.“ Wir vereinbarten, morgen gemeinsam ein bisschen Motorrad zu fahren. Victor bereitete Essen zu für Berta und für uns. Einige Reste warf er auf das Dach des Containers. „Ist für Vögel“, meinte er, „gefällt mir gut, wenn sie auf Dach fressen. Ich beobachte. Später sie kommen runter und Bjerta kann bisschen jagen.“ Was Victor auch machte, er schien es stets im Einklang mit etwas Größerem zu tun. Einer Philosophie, die auch andere Wesen bedachte. Und mochten es nur die Vögel sein.

Teil24.1

Bevor wir aßen, forderte er mich zu einem kleinen Spaziergang auf. Am Fluss angelten drei Männer. Schon von weitem roch man den Alkohol. Ihre Hände und Klamotten waren sehr schmutzig. Sie bereiteten gerade eine Fischsuppe zu – Ucha – und luden Victor und mich dazu ein. Victor sprach sehr freundlich mit ihnen, begrüßte sie wie seine allerbesten Kumpels, wurde laut und gesellig. Wir mussten beide von der Suppe versuchen und lobten sie, obwohl es mich Überwindung kostete, weil ich angesichts des Zustandes der Männer befürchtete, dass die Zubereitung nicht besonders hygienisch erfolgt sein konnte. Auch mussten wir wieder einen Schluck Schnaps trinken. Victor beendete den Besuch bald. Er hatte immer die Kontrolle über das, was er tat und ließ sich nie von irgendjemandem einwickeln. Danach stieg er mit mir auf eine Dammzunge, an deren Spitze sich zwei der Fluss in zwei Arme teilte. Auf dem Ob fuhr langsam eine Kranfähre flussaufwärts. „Schau, solche hat auch Sergej…“, sagte Victor. „Sergej macht nur Sand. Wird viel gebaut. Macht er Millionen mit Sand. Bringt er von weiter oben am Ob nach Nowosibirsk.“ Unten, am Geröll des Ufers, angelten drei Jungs, die noch nichts gefangen hatten. Victor ging auch zu ihnen hin, begrüßte sie, scherzte ein wenig mit ihnen und sagte anschließend fröhlich zu mir, sie hätten leider keine Ahnung, wie man angeln müsse. An dieser Stelle würde das nie klappen. Die ganze Welt um Victor herum schien ihm ein Park zu sein, in den er gehen und sich nach Herzenlust des Lebens ergötzen konnte, von dem er so viel mehr zu wissen schien, als die meisten. Er konnte zwischen Handelndem und Beobachtendem wechseln wie nur wenige. Jeder Antrieb, jede seiner Ideen und Regungen schien aus einer Quelle gespeist zu werden, aus der Freude und Bejahung sprudelten. Und Einfachheit. Victor mochte es nicht, wenn die Dinge kompliziert waren. Sie mussten funkzanieren.

An den überhängenden Ästen der Bäume zeigte er mir, bis wohin das Hochwasser im Frühjahr gestanden hatte. So hoch, wie schon seit Jahren nicht mehr, denn der Winter wäre in den Bergen ungewöhnlich schneereich gewesen. Dafür auch ungewöhnlich mild. Überhaupt seien die Winter nicht mehr so streng in Sibirien. Auch das hörte ich nicht zum ersten Mal. Gernot hatte das ebenfalls erwähnt. Die meisten Niederschläge fielen eigentlich im Sommer. Narmalerweis. Doch was war schon noch normal.

Später saßen wir draußen, bei Rührei, Brot, Tomaten und Tee, und Victor erzählte wieder von seinem Schiff. „Ich brauche nur noch Stewardess“, feixte er. „Alleine fahren ist Scheiße. Ich brauche junge Frau dabei. Muss ich noch finden. Ich weiß noch nicht wie, aber wird schon. Muss ich gut auswählen. Falsche Frau dabei ist auch Scheiße.“

Ich sagte: „Was ist denn mit der Blonden von gestern, der in der Stadt, der du den Beutel gegeben hast? Wäre das nicht eine Stewardess für dich?“

„Blonde? Ja, war ich zusammen mit ihr. Ist eine klasse Weib. Immer fieggen, fieggen, fieggen. Früh, mittags, abends. Sie immer Lust, ich immer Lust. Und nie langeweilig.“ (Er sprang das n-g ebenso getrennt aus, wie Sima.) „Mit meine Frau irgendwann ich konnte nicht mehr. Furchtbar. Aber bei ihr – immer funkzaniert! Ich weiß auch warum. Ich glaube, Menschen muss sich riechen können. Und sie, manchmal morgens nach Aufstehen, man riecht aus dem Mund. Ist normal. Aber sie – es hat mich nie gestört. Wir konnten uns beide riechen! Das war ein Wahnsinn, die Frau. Aber sie wollte mehr. Wollte Haus. Das Auto, hast du gesehen gestern? Das Auto habe ich ihr gekauft. Irgendwann es war vorbei. Ich habe geschieden von meine Frau. Aber jetzt ich sie wieder heirate. Wegen Papiere. Und Blonde versteht das nicht. Kann ich sie nicht mitnehmen auf Schiff. Ist nichts für sie. Aber ich brauche Sex, jeden Tag. Verstehst du?“

Wenn mir Victors einsame Hütte und sein einsames Bettchen ansah, fiel es mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass er momentan gehörig unter Druck stand.

„Wenn Schwanz nicht mehr steht, man ist tot.“ Er schaute mich ernst an. Dann grinste er.

„Wenn ich habe Grundstück gekauft“, fuhr er fort, „ich will kaufen Grundstück bis runter zum Fluss. Ich kenne die Russen. Viele, viele gehen fremd. Aber gibt’s nicht viele Orte, wo man kann hingehen. Viele nehmen Hotel. Am Nachmittag oder so. Aber Hotel teuer. Also was kann man machen?“ Na, weißt du’s?, fragte sein Gesicht. Ich wusste es natürlich nicht. „Sauna! Sauna ist billig. Kann man gehen für 1000 Rubel drei, vier Stunden. Ich weiß, wie man mit Sauna Geld verdient. Funkzaniert einhundert Prazent. Wenn Mann mit Frau fröhlich, man gibt Wodka und sie bekommen Hunger und wollen etwas Essen. Und dann man lässt Essen kommen und Essen ist teuer. Menschen akzeptieren, weil Sauna ist billig und haben Sex. Ist gemütlich. Ich weiß, es funkzaniert.“

„Das Saunageschäft als Absicherung, falls das mit dem Jacht-Tourismus nicht so gut klappt?“

„Ja, auch“, gab er in gedehnt-unwilligem Ton zu, „aber ich brauche das nicht wegen Geld. Geld nicht so wichtig. Ich habe genug Geld. Mich interessiert, ob ich kann etwas bewegen. Etwas starten und sehen ob es funkzaniert. Ich muss immer etwas bewegen. Das ist meine Leben.“

„Womit könnte man denn noch Geld verdienen?“

„Ach, gibt’s viele Mäglichkeit. Du kannst Eisenbahnwaggon kaufen und dann vermieten. Rollt das ganze Jahr auf Schiene und du kriegst immer Geld. Ist ganz einfach. Überhaupt: vermieten ist immer am besten. Kannst du kaufen eine Halle und vermieten an KFZ-Werkstatt. Oder – was gerade gebraucht wird, ich weiß es von meinem Freund Sergej, der hat auch Bauunternehmen – was gebraucht wird, sind Bäumepflanzmaschinen. Werden viele Straßen gebaut in Russland. Aber Bäumepflanzmaschinen gibt’s viel zu wenige. Deutscher Hersteller, teuer. Wenn du kannst eine gebraucht nach Russland bringen, kannst du vermieten hier und viel Geld damit machen.“

„Es gibt ja auch nicht so viele Straßen in Russland“, meinte ich. „Da muss ja auch noch viel gebaut werden.“

„Gibt’s eine Sprichwort bei uns: In Russland gibt es keine Straßen. Nur Richtungen.“ Victor wusste unzählige solcher Sprichworte. Und er konnte philosophieren. Manche Leute, regte er sich auf, würden ihr Leben schon mit 50 beenden. „Dann sie sitzen nur noch in Wohnung und machen jeden Tag das selbe. Bis sie sterben. Ich finde das furchtbar. Man braucht Tapetenwechsel. Heute ich mache Diesel. Nächstes Jahr vielleicht Sauna. Oder mit Schiff auf Mittelmeer. Immer mal Tapetenwechsel. Ich brauche das, sonst ich kann nicht leben. Das ist frisch“, er atmete tief ein, „das hält mich jung“ , er klopfte sich an die Schläfe, „Tapetenwechsel.“ Ich stimmte ihm vollkommen zu. Auch mir war die Vorstellung, irgendwann tagein, tagaus nur noch dasselbe zu machen, nichts Neues mehr anzufangen, ja nicht einmal mehr zu wollen, ein schrecklicher Gedanke.

„Du bist mit deine Bus bis hierher gefahren“, sagte er. „Tapetenwechsel. Oder? Nicht wahr?“

Victor verstand mich. Viel besser, als ich ihn. Und im Gegensatz zu Gernot konnte er noch eines: zuhören und auf den anderen eingehen. Der Wunsch, den ich bei Krischan in Akademgorodok so schneidend verspürt hatte, nämlich endlich jemanden zu finden, bei dem ich in Russland ankommen würde, er hatte sich erfüllt. Victor war überquellend und gleichzeitig beruhigend, dass es kaum zu fassen war.

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David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

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