Mittwoch, 18. Dezember 2024

3. Kapitel – Sturman

I

Zum Frühstück gab es für mich heißen Kaffe und butterbestrichenen Hefezopf mit Marmelade, die meine Frau selbst gemacht hatte. Breitbeinig saß ich auf dem Mauersockel und versuchte, entspannt in den Tag zu kommen. Sima verweigerte mir die Gesellschaft. Er stand herum. Seine ganze Haltung fragte: Wie lange brauchst du noch? Wann kann es endlich los gehen? Dass er keinen Wert auf meine Art zu reisen, zu essen und sich das Land anzuschauen legte, war so offensichtlich, wie der berühmte rosa Elefant im Wohnzimmer.

Ich ließ mir Zeit. Bestrich langsam und konzentriert ein zweites Stück Hefezopf mit Marmelade und tat, als könne mich nichts aus der Ruhe bringen. Wunderschön, diese Wiese! Es roch nach Schafen, niemand war gekommen, herrliches Wetter. Doch Sima schien nichts von alledem zu registrieren. Ob er mal etwas von dem Hefezopf probieren wolle, fragte ich. Sima wollte nicht. Vermutlich aß er dann lieber wieder im Auto, allein. Auch so ein Punkt, der mich ärgerte: Wieso aß er nie mit mir? Und wie spät war es eigentlich? Ein Blick auf die Armaturen im Bus zeigte mir, es war kurz vor Sieben. Schreck lass nach! Warum so zeitig? Sima zog sein iPhone heraus: kurz vor Acht. Was war hier los? Sima vermutete, es könne eventuell an der Zeitverschiebung liegen. Zeitverschiebung, das hatte ich noch überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Es wunderte uns zwar, wieso sich Simas Smartphone umstellte, obwohl es keinen Empfang hatte. Aber egal, kommt Zeit, kommt Rat. Wir packten zusammen und brachen auf.

Das letzte Mal Tanken (Görlitz, A4) lag 850 Kilometer zurück. Der Bordcomputer zeigte eine Reichweite von 300 Kilometern an. Vor uns lagen 270 Kilometer Litauen und 200 Kilometer Lettland. Da beide baltische Staaten den Euro hatten, entschloss ich mich, zu tanken, anstatt die Reserve anzubrechen. Diese sollte für das riesige unbekannte Russland bleiben. Es war Sonntag. Die E67, Litauens A5, war wie ausgestorben. Alle Tankstellen hatten geschlossen. Ich kippte zehn Liter Diesel rein. Hoffentlich würden wir in Lettland etwas finden. Unsere nächsten Ziele hießen Marijampole, Kaunas und dann weiter auf der A6 über Ukmergé, Utena nach Zarasai. Anschließend Lettland.

Ich fuhr. Die Müdigkeit kehrte brutal zurück. Zeitumstellung bedeutete auch, dass uns Simas Handy eine Stunde früher geweckt, ich also noch weniger Schlaf gehabt haben musste. In Kaunas ordnete ich mich falsch ein. Plötzlich A1 Richtung Vilnius. Also nächste Abfahrt runter, über die Straße, wenden, Auffahrt wieder rauf – A1 zurück. Abfahrt, Auffahrt – A1 Richtung A6. Abfahrt, Auffahrt – wieder auf der ursprünglichen Route. Zehn Minuten Umweg. Kein Problem eigentlich. Aber ärgerlich. Konnte ich mich jetzt schon nicht mehr konzentrieren?

Jonava. Litauen war idyllisch. Das Grün hatte sein Maximum erreicht. Ein einziger Rausch. Auf kleinen Hügeln ruhten in freundlichen Farben gestrichene Holzhäuschen, mit einem Apfelbaum vor der Tür und einer Kuh auf der Wiese. Was ich nicht wusste, war, dass diese Holzhäuschen uns über tausende Kilometer quer durch Russland bis nach Nowosibirsk begleiten sollten. Nur der Stil würde sich etwas wandeln – von baltisch zu slawisch. Von einfach zu verziert, mit Schnitzereien und hölzernen Bordüren versehen. In Litauen hielt ich diese Häuschen noch für etwas ganz Besonderes und machte im Fahren viele Fotos. Das lenkte ein wenig von der Müdigkeit ab. Wohin man auch sah – überall war es hübsch und beschaulich. Litauens Bewohner mussten überaus nette Menschen sein. Denn wer sonst, als nette Menschen, würde seine Gärtchen, Häuschen und Örtchen so liebevoll drapieren und pflegen? In Zarasai hingen Blumenkästen an den Straßenlaternen, aus denen orangefarbene und weiße Geranien quollen. Alles war sauber und ordentlich. Und voller Störche. In meinem gesamten bisherigen Leben hatte ich weniger Störche gesehen, als während jener 270 Kilometer durch Litauen. Wo das hohe Gras auf den Wiesen geschnitten wurde, stakten oft drei, vier, fünf Störche um einen Traktor herum und ließen sich nicht stören. Vermutlich gab es etwas zu schnabulieren. Litauen liebte seine Störche. Meister Adebar wurde gegrüßt mit der Storch-Attrappe aus bemaltem Blech und Sperrholz, aus geschweißtem Metall, auf Dächern, in Gärten und auf Bannern und Schildern. Eine heitere Allgegewärtigkeit. Was Don Quichotte seine Rosinante, was den Neuseeländern der lustige Kea, das waren den Litauern ihre schwarz-weiß Gefiederten. Keiner ohne den Anderen denkbar. Zarasai fand ich besonders schön, von zwei Seen umschlossen, die teilweise bis ans Stadtzentrum reichten und in viele Buchten und Halbinseln zergliedert waren. Dies alles sah ich zur üppigsten Zeit des Jahres, Ende Juni, wenn die Natur überbirst, wie zu keiner anderen Saison. Von oben strahlte ein bayerisch-weiß-blauer Himmel. Und wieder dachte ich: Hier müssen wir mal Urlaub machen.

Zarasai markierte die Grenze. Und das merkte man sofort. Bis dahin waren wir auf tadellosen Straßen zügig vorangekommen. Lettland begegnete uns mit Armut und Mangel. Unser Tempo wurde gedrosselt, als hätte jemand die Zügel angezogen und „hoh“ gerufen. Schlecht und eng die Straßen. Die erste größere Stadt war Daugavpils. Wir überquerten den Fluss Daugava, an dem viele Angler ihr Glück versuchten. Im Stadtzentrum fuhren wir an einer Kirche mit goldenen Zwiebeltürmen vorbei. Schnell ein Foto aus dem Fenster gemacht. Hinter Daugavpils ging es trotz schlechterer Straßen immer noch einige Kilometer lang grundsätzlich vorwärts. Doch dann begann etwas, das ich in Europa so nicht erwartet hatte: Bis Rēzekne wurde auf etwa 70 Kilometern gebaut. Vom zukünftigen Straßenkörper existierte bislang nur die Frostschutzschicht. Auf dieser mussten Verkehr und Gegenverkehr, durch Ampeln geregelt, mit einer Spur auskommen. Rot-weiße Baken trennten die zweite Spur ab, welche den Baumaschinen vorbehalten war, die dort ihre wohlverdiente Sonntagsruhe hielten. Nirgends war nennenswert etwas fertig gestellt. Das Ganze sah trostlos aus, nach Abwarten und fehlenden Geldmitteln. Die Bauabschnitte waren jeweils rund zwei Kilometer lang. Wo die Straße gerade verlief, konnte ich die auf der anderen Seite an der Ampel wartenden Autos sehen. Meinem Empfinden nach hätte man das besser steuern können, ja müssen; zu viel Zeit verstrich mit endlosen Rotphasen von beiden Seiten. Ich war übermüdet und körperlich am Ende. Mein Frustrationspuffer schmolz dahin wie der aktive Muskeltonus bei schwerem Durchfall. Jedes erzwungene Anhalten ließ mich innerlich zusammensacken. Als ich am dritten Bauabschnitt begriff, dass das vermutlich noch lange so weiter gehen würde, scherte ich, sobald ich sah, dass auf der anderen Seite die Autos anhielten, bei Rot aus und fuhr in den Baustellenbereich ein. Ich bretterte durch, was die Piste hergab. Den wenigen Autos, denen ich unterwegs begegnete, wich ich über die zweite gesperrte Spur aus. Das alles ging relativ problemlos. Man hätte es generell so halten können. Wenigstens am Sonntag.

Anfangs schlug mein Herz ziemlich heftig. Was, wenn die Polizei an der gegenüberliegenden Ampel wartete? Wie benahm ich mich denn in einem fremden Land? Welche Konsequenzen könnte das haben? Doch nach zwei, drei Runden stellte sich Routine ein. An jeder Ampel war ich der erste, der losfuhr. Ich fuhr einfach nach den tatsächlichen Gegebenheiten und pfiff auf die Ampelphasen. Die Litauer sahen ein, dass man das sinnvollerweise so machen konnte. Bald hatte ich eine Schlange Autos hinter mir, die nur darauf warteten, dass der Deutsche wieder losfuhr, damit sie sich an ihn dranhängen konnten. Ich fand Gefallen an diesem Spiel. Auch die Litauer waren „aufgewacht“. Das Tempo auf der ganzen Strecke zog merklich an. Bald gab es die ersten Wettkämpfe zwischen einheimischen Volvo-Kombis und meinem Bus: Wer würde schneller losfahren? Ich lachte. Wenn ich nur nicht so müde wäre. Sima, der erst geschwiegen hatte, sagte „Du bist Chitler. Du fährst wie Diktator. Die Leute folgen dir.“

Und“, fragte ich zurück, „sowas macht man nicht, oder?“

Sima grinste: „Narmalerweis, ich fahr auch so. Gefällt mir schon.“

Als in der Reichweitenanzeige schon wieder Reserve aufleuchtete, suchte ich eine Tankstelle. In Lettland hatten sie glücklicherweise auch sonntags geöffnet. Diesel war 6 Cent günstiger als in Litauen und kostete mit 1,06 Euro ungefähr 17 Cent weniger als in Deutschland. Für einen einfachen, kleinen Kaffe aus dem Automaten musste ich allerdings einen ganzen Euro berappen. Teuer, für so ein armes Land.

II

Denn offensichtlich war die Armut in der Tat . Wo die Straßen nicht gebaut wurden, hatte man deren rosafarbene, grobkörnige Decke an zahlreichen Stellen mit grauem Asphalt geflickt, der ebenfalls längst wieder kaputt gegangen und deshalb noch einmal mit schwarzem Teer ausgebessert worden war. Drei Schichten Belag. Die ganze Chose wechselte ständig zwischen Spurrinnen und Wellen, Buckeln und Löchern, war rissig, bröckelig und wieder zugeschmiert. Das und die vielen Baustellen mit ihren halbgesperrten Schotterpisten zerrten an meinen Nerven. Die Wirkung des Kaffees blieb aus. Irgendwo, mitten in Lettland, spürte ich, dass mich die Müdigkeit übermannen und mir nur noch wenig Zeit bleiben würde. Wachsein zog meine gesamte Energie ab, tat weh. Weiterfahren wurde gefährlich. Ich kämpfte darum, meine Augen offen zu halten, schüttelte den Kopf, spannte und dehnte meine Gesichtsmuskeln. Das Verlangen nach Schlaf wurde kreischend. Ein bleierner Sog nach unten, Terror im Schädel. Ich suchte nur noch eine versteckte Einfahrt. Irgendwo, zwischen Büschen und Bäumen, mit Schatten, ohne ein fremdes Grundstück betreten zu müssen. Da war eine! Ein Feldweg. Bäume, Schatten, ja genau. Rein. Schlafen! Sima versuchte nur einmal, mich umzustimmen, sah aber gleich ein, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Ich parkte im Gras unter Obstbäumen. Weit und breit keine Menschenseele. Nur eine alte Scheune. Ich knallte mich hinten rein, sank auf die Matratze und es war mir völlg egal, wie Sima die nächste Zeit verbringen und ob ich ausgeraubt werden würde. Schlaf, hier hast du mich. Tu‘ mit mir, was du willst. Ein paar Sekunden später war ich weggetreten.

Als ich wieder zu mir kam, hörte ich Gemurmel. Es war Sima, der erzählte. Auf Russisch. Ich kletterte aus dem Bus und sah, dass er sich mit einem alten Mann unterhielt. Sima drehte sich halb zu mir, wies auf mich und sprach weiter. Der kleine, schäbig gekleidete Mann mit der ledrig-braunen Haut und dem dunklen Haarfilz sah mich an. Ich ging hin, sagte „dobri djen“, und zu Sima, „wer ist das?“

Das ist Mahn, dem Grundstück chier gechört. Er wohnt chier“, setzte Sima mich ins Bild. Erst jetzt sah ich das Häuschen, ganz versteckt hinter den Obstbäumen, zugewuchert und so klein, dass ich nie geglaubt hätte, darin könne jemand leben.

Er wollte, dass wir fahren. Aber ich habe gesagt, du musst schlafen. Nur paar Minuten, bitte. Er wollte Wodka. Aber ich habe gesagt, nein.“

Meine Uhr lag im Auto. „Sima, wie spät ist es?“

Sima schaute auf’s iPhone. „Kurz vor 13 Uhr.“

Also hatte ich anderthalb Stunden geschlafen. Die Frau des Mannes kam vom Häuschen her gewatschelt. Sima und die beiden unterhielten sich weiter auf Russisch. Ich fragte, worum es ginge. Sima meinte, sie würden noch einmal Wodka dafür wollen, dass ich auf ihrem Grundstück geschlafen hätte, aber er habe die Bitte erneut zurückgewiesen. Wir hatten auch gar keinen Wodka. Ich sagte, „Komm, lass uns verschwinden.“ Und zu den beiden Alten, mit einer freundlichen Verbeugung, „spassiba, bolschoi spassiba.

Als wir im Auto saßen, fragte ich Sima, ob er ihnen Geld statt Wodka angeboten hätte. Sima meinte, es sei sinnlos, solchen Leuten Geld zu geben. Die Armut wäre so groß, dass Geld ihnen überhaupt nichts brächte. Sie hätten keine Arbeit und wollten sich einfach nur betrinken. Damit sie von der Armut nicht mehr soviel mitbekämen und ihnen das Leben ein wenig erträglicher würde. Deshalb sei Wodka bei solchen Leuten immer eine sehr dankbar angenommene Gabe. Noch nie war ich Menschen begegnet, die Schnaps allem anderen – auch Geld – vorzogen. Mein Eindruck, dass Lettland ärmer als Litauen war, verstärkte sich. Diese Leute schienen außerdem Russen zu sein. Solchen erging es, wie ich später erfuhr, seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten ziemlich übel. Weil alles Russische die Balten an die sowjetische Unterdrückung erinnerte, unterdrückten sie nun ihrerseits die im Baltikum verbliebenen Russen. Wie überall mussten auch hier die einfachen Menschen für das bluten, was die Politik angerichtet hatte. So dass sie am Ende nur noch um Wodka bitten, wenn du auf ihrer Wiese schläfst. Im Buch der Sprüche, im 31. Kapitel, steht:

Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und den Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.“

Wer wollte diese beiden Alten dafür verurteilen, wenn sogar die Bibel zum Alkohol rät?

***

Fortsetzung folgt

David Berger
David Bergerhttps://philosophia-perennis.com/
David Berger (Jg. 1968) war nach Promotion (Dr. phil.) und Habilitation (Dr. theol.) viele Jahre Professor im Vatikan. 2010 Outing: Es erscheint das zum Besteller werdende Buch "Der heilige Schein". Anschließend zwei Jahre Chefredakteur eines Gay-Magazins, Rauswurf wegen zu offener Islamkritik. Seit 2016 Blogger (philosophia-perennis) und freier Journalist (u.a. für die Die Zeit, Junge Freiheit, The European).

Trending

VERWANDTE ARTIKEL